Entscheidungsstichwort (Thema)

Verweisung eines Grubenlokomotivführers

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Tätigkeiten eines Hilfsarbeiters im Büro und Telefonisten sind die Tätigkeit eines Grubenlokomotivführers zwar im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig, denn die Lohndifferenz beträgt weniger als 12,5 %. Es handelt sich aber nicht um Tätigkeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten iS des RKG § 45 Abs 2.

 

Normenkette

RKG § 45 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 22.01.1976; Aktenzeichen L 12 Kn 14/74)

SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 05.12.1973; Aktenzeichen S 11 Kn 71/72)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. Januar 1976 und das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 5. Dezember 1973 aufgehoben.

Die Beklagte wird unter Änderung ihres Bescheides vom 21. März 1972 und des Widerspruchsbescheides vom 9. Mai 1972 verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. Oktober 1972 an die Bergmannsrente zu zahlen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Bergmannsrente nach § 45 Abs. 1 Nr. 1 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit zusteht.

Der Kläger ist seit dem 11. Januar 1950 im Bergbau tätig. Er war bis zum 16. April 1950 als Schlepper im Schichtlohn und - bis zu einem am 21. September 1951 erlittenen Arbeitsunfall - als Gedingeschlepper tätig. Danach war er mit dem Bedienen einer Blasmaschine beschäftigt und wurde weiter als Gedingeschlepper geführt. In der Zeit vom 16. Mai 1952 bis zum 31. Oktober 1952 arbeitete er als Ausbauhelfer. In der Zeit vom 1. November 1952 bis zum 18. Januar 1971 war er - mit einer kurzen Unterbrechung - als Grubenlokomotivführer tätig. Seit dem 4. Januar 1972 ist er Wächter auf dem Parkplatz und wird als Platzreiniger geführt.

Die Beklagte lehnte den am 8. Dezember 1971 gestellten Rentenantrag mit Bescheid vom 21. März 1972 ab, weil der Kläger weder berufsunfähig noch vermindert bergmännisch berufsfähig sei. Widerspruch, Klage und Berufung hatten keinen Erfolg.

Das Landessozialgericht (LSG) hat angenommen, von der Tätigkeit eines Gedingearbeiters könne nicht als "bisher verrichteter knappschaftlicher Arbeit" i.S. des § 45 Abs. 2 RKG ausgegangen werden, weil nicht festzustellen sei, daß der Kläger diese Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen auf Dauer hat aufgeben müssen. Es sei daher von der Tätigkeit eines Lokomotivfahrers unter Tage auszugehen. Diese Tätigkeit könne der Kläger zwar aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben. Er sei aber noch in der Lage, die Tätigkeiten eines Hilfsarbeiters im Büro oder Telefonisten zu verrichten. Dabei handele es sich um Tätigkeiten, die im Verhältnis zur Tätigkeit eines Lokomotivfahrers unter Tage im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig seien und auch von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten verrichtet würden. Die Tätigkeit eines Lokomotivfahrers unter Tage sei zwar mit einer nicht unerheblichen Verantwortung für den Förderbetrieb verbunden, jedoch könne nicht übersehen werden, daß die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten nicht mit denen eines Hauers, sondern mit denen eines angelernten Handwerkers, Anschlägers 2, Bandaufsehers, Blindschachtmaschinisten oder Wettermannes verglichen werden könnten, wie aus der tariflichen Einstufung hervorgehe. Zwar müsse der Lokomotivfahrer unter Tage vorher mindestens ein Jahr unter Tage - davon drei Monate in der Förderung - beschäftigt gewesen sein. Gleichwohl seien die Kenntnisse und Fähigkeiten eines Hilfsarbeiters im Büro oder Telefonisten, die in einer Einarbeitungszeit von zwei bzw. vier Wochen vermittelt würden, in der Wertigkeit nicht so verschieden, daß eine qualitative Gleichwertigkeit i.S. des § 45 Abs. 2 RKG verneint werden müsse.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Er ist der Ansicht, ein Grubenlokomotivführer könne nicht auf die Tätigkeiten eines Hilfsarbeiters im Büro oder Telefonisten verwiesen werden. Diese Tätigkeiten seien zwar im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig; sie würden jedoch nicht von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten verrichtet. Während es sich bei dem Beruf eines Grubenlokomotivführers immerhin um eine Tätigkeit handele, die nach ihrer Qualität als angelernte Tätigkeit anzusehen sei, erforderten die Tätigkeiten eines Hilfsarbeiters im Büro oder Telefonisten keinerlei Kenntnisse und Fähigkeiten, die nicht schon jeder Arbeiter ohne weiteres mitbrächte.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts zu verurteilen, dem Kläger die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit ab 4. September 1972 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision des Klägers sei unbegründet.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers hat auch Erfolg. Der Kläger hat nach § 45 Abs. 1 Nr. 1 RKG einen Anspruch auf die begehrte Bergmannsrente, denn er ist vermindert bergmännisch berufsfähig i.S. des § 45 Abs. 2 RKG.

Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß "bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit" i.S. des § 45 Abs. 2 RKG nicht die Gedingearbeit, sondern die Tätigkeit eines Lokomotivfahrers unter Tage ist. Abgesehen davon, daß der Kläger bei Aufgabe der Gedingetätigkeit die Wartezeit noch nicht erfüllt hatte, hat er sich durch die Aufnahme und langjährige Verrichtung der Tätigkeit eines Grubenlokomotivführers davon gelöst. Er war nach den unangegriffenen und gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) für den Senat bindenden Feststellungen des LSG aus gesundheitlichen Gründen nicht auf die Dauer gehindert, die Gedingetätigkeit zu verrichten. Der Kläger ist aber auch dann vermindert bergmännisch berufsfähig, wenn man mit dem LSG von der Tätigkeit eines Lokomotivfahrers unter Tage ausgeht. Die Tätigkeiten eines Hilfsarbeiters im Büro und Telefonisten, die der Kläger nach den Feststellungen des LSG noch verrichten kann, sind der Tätigkeit eines Lokomotivfahrers unter Tage zwar im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig, denn die Lohndifferenz beträgt weniger als 12,5 v.H. Es handelt sich aber nicht um Tätigkeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten i.S. des § 45 Abs. 2 RKG.

Der erkennende Senat hat bereits entschieden, daß der Anschläger 2 nicht auf Tätigkeiten eines Hilfsarbeiters im Büro oder Telefonisten verwiesen werden kann (vgl. Urteil vom 30. März 1977 - 5 RKn 13/76 -). Die Kenntnisse und Fähigkeiten eines Lokomotivfahrers unter Tage können aber nicht geringer bewertet werden, als die eines Anschlägers 2. Nach den Feststellungen des LSG muß der Lokomotivfahrer unter Tage zuvor wenigstens ein Jahr unter Tage - davon drei Monate in der Förderung - beschäftigt gewesen sein. Die in dieser verhältnismäßig langen Zeit vermittelten Kenntnisse und Fähigkeiten, die nicht nur in dem Bedienen und Fahren der Lokomotive, sondern in dem Kennenlernen der Besonderheiten des Grubenbetriebes, insbesondere bei der Förderung bestehen, sind nicht von so geringer Bedeutung, wie das LSG dies angenommen hat. Sie sind insbesondere mindestens ebenso hoch zu bewerten wie die Kenntnisse und Fähigkeiten eines Anschlägers 2, für den eine halbjährige Tätigkeit im Schachtförderbetrieb unter Tage und eine weitere Einweisungszeit von zwei bis vier Wochen erforderlich ist. Dafür spricht auch die tarifliche Einstufung des Lokomotivfahrers unter Tage, die der des Anschlägers 2 entspricht. Die Tätigkeiten eines Hilfsarbeiters im Büro oder Telefonisten kann aber jeder Versicherte nach einer Einarbeitungs- und Erfahrungszeit von zwei bzw. vier Wochen verrichten, sofern er sich nach seiner Veranlagung überhaupt dazu eignet. Sie erfordern also keinerlei Kenntnisse und Fähigkeiten, die denen eines Lokomotivfahrers unter Tage in etwa vergleichbar sind. Qualitativ höherwertige Tätigkeiten als die eines Telefonisten oder Hilfsarbeiters im Büro kann der Kläger nach den Feststellungen des LSG aber nicht mehr verrichten. Er ist also jedenfalls seit dem 4. September 1972 vermindert bergmännisch berufsfähig. Ob der Versicherungsfall schon früher eingetreten ist, braucht nicht entschieden zu werden, denn der Kläger hat seinen Antrag auf diesen Zeitpunkt beschränkt. Nach § 82 RKG beginnt die Rente am 1. Oktober 1972.

Der Senat hat auf die danach begründete Revision des Klägers die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben und die Beklagte unter Änderung ihrer Beschwerde antragsgemäß verurteilt, die Bergmannsrente für die Zeit vom 1. Oktober 1972 an zu zahlen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651597

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