Entscheidungsstichwort (Thema)

gesetzliche Unfallversicherung. Dauerrente. vorläufige Rente. erstmalige Rentenfeststellung für die Vergangenheit. Zeitpunkt: zwei Jahre nach dem Arbeitsunfall. Nichtanwendbarkeit des § 622 Abs 2 S 2 RVO

 

Orientierungssatz

§ 622 Abs 2 S 2 RVO ist dann nicht anzuwenden, wenn der Unfallversicherungsträger eine Rente erstmalig später als zwei Jahre nach dem Versicherungsfall für einen ausschließlich vor der Bescheiderteilung liegenden Zeitraum gewährt.

 

Normenkette

RVO § 622 Abs. 2 Sätze 2, 1

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 04.01.1974; Aktenzeichen L 1 U 83/72)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 4. Januar 1974 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beklagte gewährte dem Kläger wegen der Folgen eines am 18. August 1969 erlittenen Kopfunfalls durch Bescheid vom 26. November 1971 Verletztenrente in abgestufter Höhe bis zum 31. August 1971. Eine Weitergewährung der Rente über diesen Zeitpunkt hinaus lehnte sie ab, weil eine meßbare Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nicht mehr vorliege.

Das Sozialgericht (SG) Itzehoe hat die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 26. November 1971 verurteilt, dem Kläger ab 18. August 1971 die Dauerrente nach einer MdE von 20 v. H. zu gewähren (Urteil vom 19. Juni 1972). Zur Begründung hat es ausgeführt, daß die von der Beklagten gewährte Rente mit Ablauf des zweiten Jahres nach dem Unfall gemäß § 622 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) zur Dauerrente geworden sei, die nur in Abständen von mindestens einem Jahr geändert werden dürfe. Auf die Berufung der Beklagten hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 4. Januar 1974). Es hat seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet: Es sei zwar zutreffend, daß die durch Bescheid vom 26. November 1971 zuerkannte Rente eine Dauerrente sei. Das bedeute jedoch noch nicht, daß die Leistung nicht habe befristet werden dürfen. Die Vorschrift des § 622 Abs. 2 RVO greife hier nicht ein, denn ihre Anwendung setze voraus, daß bereits eine Rente festgestellt gewesen sei, die geändert oder entzogen werde. Bei dem angefochtenen Bescheid handele es sich jedoch um die Erstfeststellung der Leistung. Ob die Befristung der Dauerrente auf einen Zeitpunkt nach Erlaß des Bescheides etwa wegen Umgehung des Schutzgedankens des § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO rechtswidrig wäre, brauche nicht entschieden zu werden, da dieser Fall hier nicht vorliege. Der Gedanke der Umgehung greife jedenfalls dann nicht ein, wenn die Leistung, wie vorliegend, nur für einen im Zeitpunkt der Festsetzung bereits vergangenen Zeitraum gewährt werde. Das LSG ist im übrigen zu der Auffassung gelangt, daß über den 31. August 1971 hinaus keine unfallbedingte MdE von mindestens 20 v. H. vorgelegen habe.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Der 5. und der 8. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hätten bereits im gleichen Sinne wie das LSG entschieden (Urteil vom 29. September 1970 - 5 RKnU 18/69 - BSG 32, 11; Urteil vom 29. November 1973 - 8/2 RU 127/72 - unveröffentlicht; Urteil vom 21. März 1974 - 8 RU 59/73 - BSG 37, 186). Nur der 2. Senat des BSG habe sich noch nicht zu der Frage geäußert, wie zu entscheiden sei, wenn der Versicherungsträger dem Verletzten die Verletztenrente erst zwei Jahre nach dem Unfall als Dauerrente festsetze. Seiner Meinung nach bahne sich bei den Versicherungsträgern eine Praxis an, die das Ausschalten des § 622 RVO zur Folge habe, wobei sich eine gewisse Manipulationsabsicht nicht in Abrede stellen lasse. Ein Versicherungsträger manipuliere in jedem Fall, wenn er, obwohl der Anspruch mit dem Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen entstanden sei, mit der Bescheiderteilung zurückhalte. Er habe sich hinsichtlich der Folgen so stellen zu lassen, als wäre der Bescheid rechtzeitig erteilt worden. Es sei zwar richtig, daß der Versicherungsträger zur Klärung des Sachverhalts mitunter erhebliche Zeit benötige, zumal wenn sich die ärztlichen Gutachten widersprächen. Aber auch das dürfe nicht dazu führen, Anspruchsfeststellungen zu unterlassen, wenn das Mindestmaß der Entschädigungsleistung erkennbar sei. Das Argument, der Verletzte habe die Möglichkeit, Untätigkeitsklage zu erheben, überzeuge nicht. Denn es könne nicht davon ausgegangen werden, daß beim Laien diese Rechtskenntnis vorhanden sei.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 4. Januar 1974 die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Itzehoe vom 19. Juni 1972 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor, bei dem Bescheid vom 26. November 1971 habe es sich um die erstmalige Dauerfestsetzung gehandelt, die nicht dem Verbot der Rentenänderung nach einer kürzeren Zeit als einem Jahr gemäß § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO unterworfen sei. Die Revision behaupte nicht, daß die Rentenfestsetzung mißbräuchlich zur Umgehung dieser Vorschrift erst nach Ablauf von zwei Jahren erfolgt sei, und tatsächlich sei dies bei den Unfallversicherungsträgern allgemein nicht der Fall.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten zugestimmt haben (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision ist nicht begründet.

In Übereinstimmung mit den Urteilen des 5. und 8. Senats (BSG 32, 11; 37, 186) ist der erkennende Senat der Auffassung, daß § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO nicht anzuwenden ist, wenn der Versicherungsträger eine Rente erstmalig später als zwei Jahre nach dem Unfall für einen ausschließlich vor der Bescheiderteilung liegenden Zeitraum gewährt. Die Revision trägt nichts vor, was insoweit als Rüge einer Verletzung des § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO angesehen werden könnte. Sie meint lediglich, daß der Versicherte im Falle einer erstmaligen Rentenfeststellung später als zwei Jahre nach dem Unfall rechtlich so gestellt werden müsse, als wäre ihm der Bescheid bereits mit der Entstehung des Rentenanspruchs erteilt worden. Damit kommt die Auffassung zum Ausdruck, daß die ihm dann gewährte Rente mit Ablauf von zwei Jahren nach dem Unfall zur Dauerrente geworden wäre (§ 622 Abs. 2 Satz 1 RVO), die nur in Abständen von mindestens einem Jahr hätte geändert werden können (§ 622 Abs. 2 Satz 2 RVO). Das sog. Schutzjahr dient dazu, einer durch Änderung der Dauerrente in zu kurzen Zeiträumen bedingte Beunruhigung des Rentenempfängers, vor allem wegen der damit verbundenen Gefahren für seine Gesundung, vorzubeugen (BSG 23, 218, 220; 32, 11, 13; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl., S. 584 d). In Anbetracht dieser Zweckbestimmung fehlt es für die Zubilligung des Schutzjahres an den tatsächlichen Voraussetzungen, wenn eine abgestufte Rente für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum gewährt wird. Denn hierbei kann eine durch Änderung der Rente in kurzen Zeiträumen bedingte Beunruhigung des Rentenempfängers nicht eintreten. Ob der Versicherungsträger sich schadensersatzpflichtig macht, wenn er die Bescheiderteilung schuldhaft verzögert, braucht hier nicht entschieden zu werden. Die allgemein gehaltenen Ausführungen der Revision, daß sich bei den Versicherungsträgern eine als Manipulation zu bezeichnende Praxis anbahne, die zur Ausschaltung des § 622 RVO führe, ist keine auf den vorliegenden Fall zu beziehende Rüge der Verletzung materiellen Rechts; auf sie braucht daher nicht eingegangen zu werden. Die Revision macht auch nicht geltend, daß der Kläger über den 31. August 1971 hinaus durch Unfallfolgen noch in einem rentenberechtigenden Grad in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert war und deshalb Anspruch auf Weitergewährung einer Verletztenrente hätte (§ 581 RVO).

Da die Revision somit nicht begründet ist, war sie gemäß § 170 Abs. 1 SGG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1749905

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