Orientierungssatz

Unmittelbare und mittelbare Ursachen sind in der gesetzlichen Unfallversicherung rechtlich gleichermaßen relevant, wenn sie wesentlich sind. Aus dem Umstand, daß die Anlage zur 7. BKVO den Bronchialkrebs iVm Silikose nicht als eine besondere Berufskrankheit aufzählt, kann nicht gefolgert werden, daß der Bronchialkrebs auch dann nicht zum Krankheitsbild der Silikose gehört, wenn er mit dieser ursächlich verknüpft ist. Die Aufzählung des Lungenkarzinoms iVm Asbestose und der aktiven Lungentuberkulose iVm Silikose in der Anlage zur 7. BKVO wird nur der typischen Vergesellschaftung dieser Krankheitsbilder gerecht und erübrigt im Einzelfall den Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs. Steht der ursächliche Zusammenhang zwischen silikotischen Veränderungen und Bronchialkrebs aber fest, so gehört der Bronchialkrebs ebenso zum Krankheitsbild der Silikose wie etwa das mit silikotischen Veränderungen ursächlich verknüpfte Lungenemphysem oder die inaktive Lungentuberkulose.

 

Normenkette

RVO § 589 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30, § 551 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30; BKVO 7 Anl 1 Nr. 34 Fassung: 1968-06-20; RVO § 551 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Dezember 1976 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten für das Revisionsverfahren zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin die Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zusteht.

Der verstorbene Ehemann der Klägerin war längere Zeit im Steinkohlenbergbau unter Tage tätig gewesen. Zu seinen Lebzeiten ist die Gewährung einer Verletztenrente wegen Quarzstaublungenerkrankung (Silikose) bindend abgelehnt worden, weil die röntgenologisch festgestellten silikotischen Veränderungen gut ersten Grades keine nennenswerten Einschränkungen der Atmung oder des Kreislaufs zur Folge hätten. Der Ehemann der Klägerin ist am 14. Juli 1974 gestorben. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 17. Dezember 1974 die Gewährung der Witwenrente ab, weil der Ehemann der Klägerin nach dem Ergebnis der Leichenöffnung nicht an den Folgen einer Berufskrankheit, sondern an den Folgen eines Bronchialkarzinoms gestorben sei. Es lasse sich zwar nicht ausschließen, daß die silikotischen Veränderungen bei der Entstehung des zum Tode führenden Leidens wesentlich mitbeteiligt gewesen seien; eine Berufskrankheit habe jedoch nicht vorgelegen, weil die silikotischen Veränderungen zu gering gewesen seien, um die Lungenfunktion und das Herz-Kreislauf-System zu beeinträchtigen.

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 4. April 1975 den Bescheid der Beklagten vom 17. Dezember 1974 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 16. Dezember 1975 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat das Berufungsgericht im wesentlichen ausgeführt, die silikotischen Lungenveränderungen seien zwar zu gering gewesen, um allein und unmittelbar Kreislauf und Atmung wesentlich zu beeinträchtigen. Die medizinischen Gutachten seien aber dahin zu verstehen, daß mit Wahrscheinlichkeit ein ursächlicher Zusammenhang der silikotischen Lungenveränderungen mit einem Lymphknoteneinbruch in die Wand des rechten Oberlappenbronchus und dem Auftreten des zum Tode führenden Bronchialkarzinoms in dem Sinne bestanden habe, daß die Lymphknotensilikose mit ihren Folgen letztlich wesentlich am Todesgeschehen mitbeteiligt gewesen sei. Es sei erwiesen, daß während der letzten Lebensmonate oder jedenfalls während der letzten Lebenswochen die silikotischen Lungenveränderungen und der durch sie entstandene metastasierende Krebs zu einer Beeinträchtigung von Atmung und Kreislauf solchen Ausmaßes geführt hätten, daß eine entschädigungspflichtige Silikose nach Nr. 34 der Anlage zur 7. Berufskrankheitenverordnung (BKVO) vorgelegen habe. Wenn in der Anlage zur 7. BKVO die Asbeststaublungenerkrankung in Verbindung mit Lungenkrebs und die Quarzstaublungenerkrankung in Verbindung mit aktiver Lungentuberkulose als besondere Berufskrankheiten aufgezählt seien, so könne daraus nicht geschlossen werden, daß der als Folge von silikotischen Veränderungen entstandene Bronchialkrebs nicht als Berufskrankheit gewertet werden könne.

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, bei dem Ehemann der Klägerin habe eine Quarzstaublungenerkrankung nach Nr. 34 der Anlage zur 7. BKVO nicht vorgelegen, denn die silikotischen Veränderungen seien nach Art, Größe und Verteilung nicht geeignet gewesen, Ausfallerscheinungen im cardiopulmonalen System herbeizuführen. Entgegen der Ansicht des LSG könnten die cardiopulmonalen Ausfallserscheinungen, die auf dem Bronchialkrebs und seinen Auswirkungen beruhten, nicht dem Krankheitsbild der Silikose zugeordnet werden. Wenn Veränderungen, denen eine Bedeutung im Sinne des Unfallversicherungsrechts noch nicht zukomme, ausnahmsweise ein anderes Leiden verursachten, das seinerseits zu einer Beeinträchtigung von Kreislauffunktionen führe, so könne auf diesem Umweg nicht das Vorliegen einer Berufskrankheit konstruiert werden. Gerade deshalb, weil gesicherte medizinische Erfahrungen zur Frage etwaiger Zusammenhangsbeziehungen zwischen einer Silikose und einem Lungenkrebs nur bis zu einem gewissen Grade vorhanden seien, habe der Gesetzgeber davon abgesehen, ähnliche Regelungen wie bei den Berufskrankheiten nach den Nrn. 31 und 35 der Anlage zur 7. BKVO einzuführen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts und das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beklagten kostenpflichtig zu verwerfen.

Sie hält das angefochtene Urteil in Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Beklagten sei unbegründet.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Das LSG hat mit Recht durch die Zurückweisung der Berufung das der Klage stattgebende Urteil des SG bestätigt. Die Klägerin hat nach § 589 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) i. V. m. § 551 RVO einen Anspruch auf die begehrte Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung.

Das LSG hat zutreffend angenommen, daß der Ehemann der Klägerin an den Folgen einer Quarzstaublungenerkrankung (Silikose) nach Nr. 34 der Anlage zur 7. BKVO gestorben ist. Zwar genügt nach Rechtsprechung und Schrifttum, die sich auf die Begründung zur 5. BKVO (Bundesarbeitsblatt 1952, 409, 411) stützen, für die Annahme einer solchen Berufskrankheit nicht schon das Vorhandensein silikotischer Veränderungen; diese müssen vielmehr zu Ausfallserscheinungen der Atmung oder des Kreislaufs geführt haben (vgl. BSG in SozR Nr. 17 zu § 45 RKG; Urteil des 8. Senats vom 18. Juni 1974 - 8/7 RU 5/72 -; Heußner in Kompaß 1971, 63). Das bedeutet aber nicht, daß die silikotischen Veränderungen unmittelbar und allein die Funktionseinschränkungen herbeigeführt haben müssen. Es genügt vielmehr, daß die silikotischen Veränderungen wesentliche Ursache für die Funktionseinschränkungen sind, und zwar auch dann, wenn unmittelbare Ursache eine andere Krankheit ist, die durch die silikotischen Veränderungen wesentlich verursacht oder mitverursacht worden ist. Die gesetzliche Unfallversicherung kennt keinen Unterschied zwischen unmittelbarer und mittelbarer Ursache. Beide sind gleichermaßen rechtlich relevante Ursachen, wenn sie wesentlich sind. Es wird auch von der Beklagten anerkannt, daß es sich um eine Berufskrankheit nach Nr. 34 der Anlage zur 7. BKVO handelt, wenn die Funktionseinschränkungen nicht schon allein und unmittelbar durch das Vorhandensein silikotischer Veränderungen, sondern über ein durch sie bedingtes Lungenemphysem herbeigeführt werden (vgl. hierzu Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. II 1.-8. Aufl. 1976, S. 490 w). Es kann nicht anders beurteilt werden, wenn Bindeglied zwischen silikotischen Veränderungen und Funktionseinschränkungen eine andere, weniger typische Krankheit ist. Dagegen sprechen - entgegen der Ansicht der Beklagten - nicht die Nrn. 31 und 35 der Anlage zur 7. BKVO. Wenn darin die Asbestose in Verbindung mit Lungenkrebs einerseits und die Siliko-Tuberkulose andererseits als besondere Berufskrankheiten neben der Asbestose und der Silikose aufgeführt sind, so kann daraus nicht im Umkehrschluß gefolgert werden, daß der Lungenkrebs in Verbindung mit einer Silikose mangels ausdrücklicher Aufführung in der Anlage zur 7. BKVO nicht als Berufskrankheit gewertet werden kann. Die Vergesellschaftung von Asbestose und Lungenkrebs einerseits und von Silikose und aktiver Lungentuberkulose andererseits ist so häufig, daß der Verordnungsgeber diese typischen Krankheitsbilder als Gesamterkrankung in die Anlage zur 7. BKVO aufgenommen hat, um den im Einzelfall oft sehr schwierigen Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs zu erleichtern. Er hat daher eine unwiderlegbare Vermutung aufgestellt, daß bei der räumlichen Verbindung beider Krankheitsbilder der erforderliche Ursachenzusammenhang vorliege (vgl. zur Silikose-Tuberkulose BSGE 6, 29, 37; Brackmann aaO S. 490 y). Wenn der Verordnungsgeber den Bronchialkrebs in Verbindung mit Silikose in der Anlage der 7. BKVO nicht als Berufskrankheit aufgeführt hat, so bedeutet das nur, daß anders als bei Asbestose in Verbindung mit Lungenkrebs und bei der Silikose in Verbindung mit aktiver Lungentuberkulose keine unwiderlegbare Vermutung des ursächlichen Zusammenhangs besteht, weil die medizinischen Erfahrungen es noch nicht als gesichert ansehen lassen, daß dieser Ursachenzusammenhang im allgemeinen zu bejahen ist. Steht die Kausalität zwischen silikotischen Veränderungen und Bronchialkrebs aber im Einzelfall fest, so muß der Bronchialkrebs ebenso der Silikose zugerechnet werden, wie etwa das Lungenemphysem oder die inaktive Lungentuberkulose, die durch die silikotischen Veränderungen wesentlich verursacht worden sind (vgl. hierzu BSGE 9, 104, 107; Brackmann aaO S. 490 y II). Die davon abweichende Ansicht der Beklagten würde dazu führen, daß erhebliche Funktionseinschränkungen nicht zu entschädigen sind, obwohl erwiesen ist, daß sie durch die in der 7. BKVO aufgeführten beruflich bedingten Einwirkungen entstanden sind. Der Gesetzgeber hat in § 551 Abs. 2 RVO deutlich seinen Willen zu erkennen gegeben, selbst solche berufsbedingten Erkrankungen zu entschädigen, die wegen der noch fehlenden medizinischen Erfahrungen nicht in der 7. BKVO aufgezählt sind. Erst recht können solche Erkrankungen nicht von der Entschädigung ausgeschlossen werden, die erwiesenermaßen in ursächlichem Zusammenhang mit den in der Anlage zur 7. BKVO aufgezählten Stoffen oder Einwirkungen stehen.

Nach den von der Beklagten nicht angegriffenen und damit für den Senat gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindenden Feststellungen des LSG haben in der letzten Zeit vor dem Tod des Ehemannes der Klägerin die silikotischen Veränderungen über den Umweg einer Lymphknotensilikose, eines Lymphknoteneinbruchs zu einem Narben-Bronchialkrebs geführt, der seinerseits erhebliche Beeinträchtigungen von Atmung und Kreislauf zur Folge hatte. Da - wie bereits dargelegt - der Bronchialkrebs wegen des nachgewiesenen ursächlichen Zusammenhangs der Silikose zugerechnet werden muß, hat - wie das LSG zutreffend angenommen hat - bereits zu Lebzeiten des Ehemannes der Klägerin eine Berufskrankheit nach Nr. 34 der Anlage zur 7. BKVO bestanden, die den Tod wesentlich verursacht hat.

Der Senat hat die danach unbegründete Revision der Beklagten zurückgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647862

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