Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 03.11.1970)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 3. November 1970 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Das Versorgungsamt hat beim Kläger mit Bescheid vom 26. Juli 1968 „Narben am rechten Oberschenkel nach Weichteildurchschuß” als Schädigungsfolgen im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) mit einer Hinderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) unter 25 v.H. anerkannt. Dagegen hat es eine wehrdienstbedingte Verschlimmerung der seit etwa dem 12. Lebensjahr bestehenden Blutadererweiterung (Krampfadern) an beiden Beinen verneint. Widerspruch und Klage hatten keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 10. Januar 1969; Urteil des Sozialgerichts –SG– vom 20. August 1969). Die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) auf die mündliche Verhandlung vom 30. Oktober 1970 mit dem am 3. November 1970 verkündeten Urteil als unbegründet zurückgewiesen. Es ist dem im ersten Rechtszug gehörten Sachverständigen, dem Facharzt für Chirurgie Dr. R. (Konstanz) gefolgt, welcher das Krampfaderleiden als konstitutionsbedingt angesehen hat. Eine vorübergehende Verschlimmerung durch den Wehrdienst ist als folgenlos abgeheilt angesehen worden.

Aus den Akten des LSG ergibt sich, daß dem Kläger, der am 15. Juli 1970 den Facharzt für Chirurgie Dr. Sch. als Gutachter benannt hat, mit Verfügung vom 21. August 1970 die Frist zur Entrichtung eines Kostenvorschusses (oder evtl. auch zur Benennung eines anderen Sachverständigen) gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bis zum 31. Oktober 1970 verlängert worden ist. Im Verhandlungstermin vom 30. Oktober 1970 hat das Berufungsgericht Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf den 3. November 1970 anberaumt. Nachdem der Kläger bis zum Verhandlungstermin keinen Kostenvorschuß geleistet hatte und der Antrag des Klägers auf Verlängerung der am 31. Oktober 1970 ablaufenden Äußerungsfrist am 30. Oktober 1970 abgelehnt worden war, hat der Vorsitzende des 5. Senats des LSG am 3. November 1970 in der Besetzung der drei an der Beratung beteiligten Berufsrichter ohne Hinzuziehung eines Protokollführers und ohne Hinzuziehung der ehrenamtlichen Richter ein Urteil dahin verkündet, daß die Berufung des Klägers gegen das angefochtene Urteil zurückgewiesen wird.

Gegen das dem Kläger am 20. November 1970 zugestellte Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz vom 16. Dezember 1970, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG) am 18. Dezember 1970, also rechtzeitig, Revision eingelegt und diese innerhalb der verlängerten Revisionsbegründungsfrist am 22. Februar 1971 schriftlich begründet.

Mit der nicht zugelassenen Revision rügt der Kläger, daß das Gericht bei der Beratung und Verkündung des Urteils nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen sei, weil die geheime Beratung erst am Tage der Verkündung stattgefunden habe und zu diesem Zeitpunkt nur die drei Berufsrichter anwesend gewesen seien. Damit sei ein absoluter Revisionsgrund nach §202 SGG i.V.m. § 551 Nr. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) gegeben.

Ausweislich des Sitzungsprotokolls vom 3. November 1970 sei das Urteil erst an diesem Tage beraten worden, wobei die Stimmabgabe der beisitzenden Richter, der Landessozialrichter M. und M. nach dem Aktenvermerk auf Blatt 33 der LSG-Akten durch den Berichterstatter fernmündlich eingeholt worden sei. Diese telefonische Befragung durch den Berichterstatter – also nicht durch den Vorsitzenden – sowie die Art. der Stimmabgabe widerspreche dem § 194 Abs. 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG), bedeute also einen wesentlichen Verfahrensmangel.

Weiter rügt der Kläger die Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§§ 103 und 109 Abs. 2 SGG) sowie die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG), weil im Verhandlungstermin der Vertagungsantrag zur Benennung eines geeigneten Sachverständigen – nämlich des Dr. S. anstelle des benannten Dr. Sch. – abgelehnt worden sei

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung der Urteile des SG und des LSG und Abänderung des Bescheides vom 26. Juli 1968 zur zusätzlichen Anerkennung von „Krampfadern an beiden Beinen” i. S. der Verschlimmerung und Gewährung einer entsprechenden Rente zu verurteilen,

hilfsweise,

das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers als unzulässig zu verwerfen.

Er hält einen Verstoß gegen die §§ 103 und 109 SGG oder gegen § 62 SGG nicht für gegeben.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist im Sinne einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht begründet.

Die Senate der LSGe entscheiden in der Besetzung mit einem Vorsitzenden, zwei weiteren Berufsrichtern und zwei Landessozialrichtern (§§ 29, 33 SGG). Nach § 132 Abs. 1 Satz 3 SGG kann das Urteil ausnahmsweise in einem sofort anzuberaumenden Termin, der nicht über zwei Wochen hinaus angesetzt werden soll, verkündet werden. Eine Ladung der Beteiligten ist nach Satz 4 dieser Vorschrift nicht erforderlich. Von dieser verfahrensrechtlichen Möglichkeit hat der Vorsitzende des 5. Senats des LSG Gebrauch gemacht und im Verhandlungstermin vom 30. Oktober 1970 Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf den 3. November 1970 anberaumt. Einen Ausnahmefall konnte das LSG insofern als gegeben erachten, als die bis zum 31. Oktober 1970 dem Kläger eingeräumte Frist zur Entrichtung des Kostenvorschusses oder zur Benennung eines anderen ärztlichen Sachverständigen nach § 109 SGG am 30. Oktober 1970 noch nicht abgelaufen war.

Das SGG enthält keine Bestimmung darüber, in welcher Besetzung ein zuvor beschlossenes Urteil in einem besonderen Verkündungstermin zu verkünden ist. Im Schrifttum gehen Peters/Sautter/Wolff im Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 3. Aufl., Anm. 1 zu § 132 SGG (S. 11/188) davon aus, daß auch die Sozialrichter, und zwar „dieselben”, die in der früheren Verhandlung zugegen waren, hinzuzuziehen sind. Dieser Kommentar hat dabei aber nicht einen bloßen Verkündungstermin im Auge, sondern die Anberaumung eines besonderen Termins „für die Beratung, Entscheidung und deren Verkündung”. Mir einen solchen Beratungs- und Entscheidungstermin ist allerdings die Vorschrift des § 129 SGG von Bedeutung, die bestimmt, daß das Urteil nur von den Richtern gefällt werden kann, die an der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung teilgenommen haben.

Zur Frage, in welcher Besetzung ein bereits beschlossenes Urteil lediglich zu verkünden ist, bestimmt auch die Zivilprozeßordnung nichts Näheres (vgl. § 310 ZPO). Jedoch enthält § 60 Abs. 3 des Arbeitsgerichtsgesetzes –ArbGG– (idF vom 3. September 1953, BGBl I, 1267), die Vorschrift, daß die Wirksamkeit der Verkündung von der Anwesenheit der Arbeitsrichter nicht abhängig ist (Satz 1). In Satz 2 heißt es aber, daß die Verkündung eines von der Kammer gefällten Urteils ohne Zuziehung der Arbeitsrichter voraussetzt, daß die Urteilsformel vorher von dem Vorsitzenden und den Arbeitsrichtern unterschrieben worden ist (vgl. auch § 64 ArbGG, wonach im Berufungsverfahren Entsprechendes gilt). Diese Vorschrift des § 60 Abs. 3 Satz 2 ArbGG stellt sicher, daß die Beisitzer mit dem Beschluß der Kammer übereinstimmen. Die unterschriebene Formel ist in das Protokoll aufzunehmen oder ihm als Anlage beizufügen. Ein in Abwesenheit der Beisitzer verkündetes Urteil wäre noch nicht wirksam geworden, wenn die verlesene Formel nicht von den Beisitzern mitunterschrieben war (vgl. Dietz/Nikisch, Komm. zum ArbGG, 1954, Anm. 24 zu § 60 ArbGG; am Stein-Jonas-Schönke, III zu § 310 ZPO –bloße Ordnungsvorschrift–). Wollte man die Vorschrift des § 60 Abs. 3 ArbGG im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anwenden, so würde es im vorliegenden Fall schon daran fehlen, daß die Urteilsformel im Sitzungsprotokoll nur von dem Vorsitzenden unterzeichnet worden ist. Der erkennende Senat konnte jedoch die Frage einer entsprechenden Anwendung dieser das Verfahren in einem bloßen Verkündungstermin regelnden Vorschrift – etwa mit der Maßgabe, daß im Verfahren vor dem LSG die Urteilsformel von sämtlichen Mitgliedern des erkennenden Senats zu unterzeichnen wäre (vgl. auch § 75 Abs. 1 ArbGG) – unentschieden lassen. Denn das LSG hat am 3. November 1970 keinen Termin abgehalten, in dem ein in einem früheren Termin beschlossenes Urteil lediglich verkündet worden wäre. Im früheren Verhandlungstermin vom 30. Oktober 1970 hat zwar eine geheime Beratung stattgefunden. Nach ihr wurde jedoch nur ein Beschluß verkündet, mit dem der Antrag des Klägers auf Verlängerung der am 31. Oktober 1970 ablaufenden Äußerungsfrist abgelehnt und Termin zur Verkündung „einer Entscheidung” auf den 3. November 1970 anberaumt worden ist. Weder aus diesem Beschluß noch aus dem sonstigen Inhalt der LSG-Akten ergibt sich, daß an diesem Tag ein Urteil beraten und beschlossen worden ist, abgesehen davon, daß es sich bei der zu verkündenden „Entscheidung” um jede Art. von Entscheidung (auch z. B. Beweisbeschluß, Beschluß auf Wiedereröffnung der Verhandlung oder Aussetzung des Verfahrens) handeln konnte (vgl. Peters/Sautter/Wolff aaO). Andererseits ergibt sich aber aus Blatt 33 der LSG-Akten, wie die Revision zutreffend vorträgt, daß der Berichterstatter (LSG-Rat Drossel) am 3. November 1970 die Zustimmung der Landessozialrichter M. und M. fernmündlich eingeholt hat. Denn hier heißt es „Herr M. stimmt nach tel. Mitteilung …. dem Urteilsvorschlag auf Zurückweisung der Berufung ohne Einschränkung zu” Ferner heißt es: „Herr M. stimmt …. ebenfalls dem Urteil auf Zurückweisung der Berufung zu”. Zumindest in diesem Vorgehen ist ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG zu erblicken. Nach § 194 GVG, der gemäß § 61 Abs. 2 SGG entsprechend gilt, leitet der Vorsitzende die Beratung, stellt die Fragen und sammelt die Stimmen. Selbst wenn man in Betracht zieht, daß in Ausnahmefällen auch eine schriftliche Beratung zulässig ist (vgl. Baumbach/Lauterbach, Komm. zur ZPO, 30. Aufl., Erl. 1 zu § 194 GVG und Peters/Sautter/Wolff aaO, Anm. 6 zu § 61 SGG S. 186/41), durfte das Sammeln der Stimmen nicht durch den Berichterstatter, sondern nur durch den Vorsitzenden erfolgen. Außerdem stellt die fernmündliche Einholung einer Zustimmung keine schriftliche Beratung dar. Eine solche Handhabung ist nicht nur mit dem Grundsatz des Beratungsgeheimnisses (vgl. § 193 GVG) unvereinbar, sondern bietet auch weder die Gewähr dafür, daß die fernmündliche Durchsage tatsächlich von dem gesetzlich berufenen Richter abgegeben noch daß sie irrtumsfrei entgegengenommen worden ist. Dieser von der Revision gerügte Verfahrensverstoß macht die Revision statthaft. Das angefochtene Urteil beruht auch auf diesem Verfahrensmangel, da es in dieser Weise nicht gefällt und verkündet werden durfte. Demnach war das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit, da der Senat in der Sache nicht selbst entscheiden konnte, zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Unter diesen Umständen kommt es auf die weiteren von der Revision vorgetragenen Revisionsrügen nicht mehr an.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.

 

Unterschriften

Dr. Maisch, Petersen, Dr. Schwankhart

 

Fundstellen

MDR 1971, 960

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