Leitsatz (amtlich)

Verfügt die Strafvollzugsbehörde die Unterbrechung der Strafvollstreckung eines lebensgefährlich lungen-tbc-erkrankten, zu zeitlicher Freiheitsstrafe verurteilten und inhaftierten Rentners und die unverzügliche Überführung in ein Krankenhaus zur stationären Behandlung, so ist, wenn die Krankenhauseinweisung nicht mit besonderen Auflagen und Weisungen verbunden ist, für die Durchführung der Heilbehandlung der Rentenversicherungsträger, nicht aber die Strafvollzugsbehörde zuständig.

 

Normenkette

RVO § 1244a Abs. 3 Fassung: 1959-07-23, Abs. 5 Fassung: 1959-07-23, Abs. 7 S. 3 Fassung: 1959-07-23; BSHG § 49 Fassung: 1961-06-30, § 131 Fassung: 1974-08-15; StVollstrO § 45 Fassung: 1956-02-15, § 46 Fassung: 1956-02-15

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 23. Januar 1975 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte die Kosten für die stationäre Krankenhausbehandlung des Klägers vom 27. Juni bis 18. November 1972 zu tragen hat.

Der Kläger, der vom 27. Januar 1972 an mehrere Haftstrafen verbüßte, wurde am 26. Juni 1972 von der Vollzugsanstalt G in das Zentralkrankenhaus des Strafvollzugsamts H eingeliefert. Dort diagnostizierte die Lungenfachärztin Dr. K beim Kläger eine hochfieberhafte, wahrscheinlich tuberkulöse, feuchte Rippenfellentzündung; der Kläger sei lebensgefährlich erkrankt und nicht haftfähig; er müsse in die Lungenabteilung des Allgemeinen Krankenhauses H zur Spezialbehandlung verlegt werden; es sei nicht abzusehen, wann er wieder haftfähig sei. Am 27. Juni 1972 wurde der Kläger in das Allgemeine Krankenhaus H aufgenommen. Die vorläufige Diagnose wurde bestätigt. Wegen der Erkrankung des Klägers ordnete die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht (LG) Hamburg an, die Strafvollstreckung gemäß § 45 der Strafvollstreckungsordnung (StVollstrO) zu unterbrechen. Sie verfügte, daß die Kosten des Krankenhausaufenthalts nicht zu übernehmen seien. Der Kläger wurde bis 21. August 1972 im Allgemeinen Krankenhaus H und anschließend bis zum 18. November 1972 im Krankenhaus G stationär behandelt.

Die Beklagte gewährte dem Kläger wegen der Lungenerkrankung Rente auf Zeit wegen Erwerbsunfähigkeit bis zum 31. März 1973. Der Kläger war seit dem 7. August 1973 zur weiteren Strafverbüßung wieder in Haft.

Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers ab, ihm Gesundheitsmaßnahmen zu gewähren (Bescheid vom 21. August 1972). Sie begründete dies damit, der Anspruch auf Heilbehandlung wegen Tuberkulose (Tbc) gegen den Rentenversicherungsträger entfalle nach § 1244 a Abs. 7 Satz 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bei Haftvollzug i.S. des § 131 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG). Der Haftvollzug sei nicht beendet, sondern wegen der Tbc-Behandlung vorübergehend durch die Krankenhausbehandlung unterbrochen worden. Nach § 131 BSHG habe der Sozialhilfeträger, das Landessozialamt der Freien und Hansestadt Hamburg, die Kosten zu übernehmen.

Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat den Bescheid der Beklagten vom 21. August 1972 aufgehoben und festgestellt, die Beklagte sei verpflichtet, "die Pflegekosten im AK H - G vom 27. Juni 1972 - 18. November 1972 zu tragen". Es hat die Berufung zugelassen (Urteil vom 10. Juli 1973). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 23. Januar 1975) und in den Entscheidungsgründen ausgeführt: Der Kläger habe für die streitige Zeit Anspruch auf Heilbehandlung gegen die Beklagte nach § 1244 a Abs. 3 RVO, ohne daß dieser nach § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO ausgeschlossen sei. Die nach § 45 StVollstrO verfügte Unterbrechung der Strafvollstreckung habe bewirkt, daß die Vollzugsanstalt nicht mehr habe auf den Kläger einwirken können. Der Kläger habe während der Heilbehandlung keine Freiheitsstrafe verbüßt. Die Beklagte könne sich daher zu ihrer Entlastung nicht erfolgreich auf § 131 BSHG berufen. Die Sonderzuständigkeit nach dieser Vorschrift ende, wenn das Ziel der medizinischen Versorgung innerhalb des Strafvollzugs im Anstaltskrankenhaus nicht mehr erreicht werden könne. Mit Haftbeendigung und der dieser gleichstehenden Unterbrechung der Strafvollstreckung bei Haftunfähigkeit auf nicht absehbare Zeit, während der der Strafzweck nicht verwirklicht werden könne, seien die Kosten einer Tbc-Heilbehandlung nicht der Allgemeinheit aufzubürden. Es bestehe vielmehr die Regelzuständigkeit der Beklagten als Träger der Rentenversicherung nach § 1244 a Abs. 3 RVO.

Die Beklagte hat gegen dieses Urteil - die zugelassene - Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 1244 a Abs. 3, Abs. 7 Satz 3 RVO und des § 131 BSHG.

Die Beklagte beantragt,

die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 21. August 1972 abzuweisen.

Der Kläger und die Beigeladenen beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie halten das angefochtene Urteil für überzeugend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.

Nach § 1244 a Abs. 3 Satz 1 RVO erhalten Rentner für sich Heilbehandlung. Dieser Anspruch entfällt u.a. bei Unterbringung in Anstaltspflege und bei Haftvollzug i.S. der §§ 130, 131 BSHG (§ 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO). Nach § 131 Abs. 1 und 2 i.V.m. § 49 BSHG ist einem Tbc-Kranken für die Zeit, in der er eine Freiheitsstrafe verbüßt, auch Heilbehandlung von der Vollzugsbehörde zu gewähren, die u.a. je nach den Erfordernissen des Einzelfalls auch stationäre Behandlung, stationäre Beobachtung, Versorgung mit Arznei-, Heil- und Verbandsmitteln umfaßt (§ 49 Abs. 1, 2 Nrn. 1, 2 und 4 BSHG).

Mit Recht hat das LSG den Heilbehandlungsanspruch des Klägers gegen die Beklagte gemäß § 1244 a Abs. 3 Satz 1 RVO anerkannt. Eine Ausnahmezuständigkeit nach § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO ist zu verneinen. Der Kläger verbüßte in der Zeit seiner Heilbehandlung keine Freiheitsstrafe, weil die Staatsanwaltschaft bei dem LG Hamburg wegen der hochfieberhaften, lebensgefährlichen Lungenerkrankung des zu zeitlicher Freiheitsstrafe verurteilten Klägers die Unterbrechung der Strafvollstreckung verfügt hatte. Dies hatte zur Folge, daß der Kläger als Verurteilter während der Unterbrechung der Strafvollstreckung aufgrund seiner krankheitsbedingten Vollzugsuntauglichkeit, die keine Gnadenmaßnahme ist, nicht mehr der Einwirkung der Vollzugsanstalt unterlag. Die Zeit der Unterbrechung zählte nicht mehr als Strafzeit (Pohlmann/Vogel, Strafvollstreckungsordnung, 5. Aufl. 1971, § 45 Anm. I 1 a, S. 367; Löwe/Rosenberg/Schäfer, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 22. Aufl., 1974, StPO § 461 Anm. 4 a).

Für diese aus dem Wortlaut des § 131 Abs. 1 BSHG abgeleitete Lösung spricht ferner, daß die Staatsanwaltschaft nicht nur die Unterbrechung der Strafvollstreckung verfügt, sondern gleichzeitig erklärt hat, die Kosten des Krankenhausaufenthalts würden nicht übernommen. Dies beruht auf § 46 Abs. 2 Satz 1 StVollstrO, wonach die Vollstreckungsbehörde der Fürsorgebehörde gegenüber zu erklären hat, "daß der Justizfiskus nach der Unterbrechung entstehende Kosten der Unterbringung und Behandlung des Verurteilten nicht trägt".

Gerade die für eine wirksame Tbc-Bekämpfung erforderliche Einflußnahme des Tbc-Hilfeträgers auf Art und Maß der Leistungen an den Tbc-Erkrankten (§ 1244 a Abs. 5 RVO) fehlt der Vollzugsbehörde. Aufgrund ihrer Fürsorgepflicht mußte die Vollzugsbehörde den hochfieberhaft und lebensgefährlich Erkrankten, zur Strafverbüßung inhaftierten Kläger zur unverzüglichen, sachgerechten Heilbehandlung aus der Strafverbüßung herausnehmen und in das Allgemeine Krankenhaus H verlegen. Mit der von der Staatsanwaltschaft verfügten Unterbrechung der Vollstreckung (§ 45 StVollstrO), die durch die lebensgefährliche Erkrankung des Klägers ausgelöst wurde, endete entgegen der Auffassung der Beklagten die Sonderzuständigkeit der Vollzugsbehörde. Diese Sonderzuständigkeit lebte auch danach in der gesamten streitigen Zeit nicht wieder auf.

Damit wird nicht, wie die Beklagte meint, § 131 BSHG unzulässigerweise umgangen. Die Beklagte verkennt, daß der Fall des Klägers sich in nichts von dem Fall unterscheidet, in dem ein nichtinhaftierter Rentner lebensbedrohlich an Tbc erkrankt, so daß die unverzügliche Krankenhausaufnahme erforderlich ist. In einem solchen Fall hat der Erkrankte Anspruch auf Heilbehandlung gegen den Rentenversicherungsträger nach § 1244 a Abs. 3 Satz 1 RVO. Daran ändert sich auch nichts dadurch, daß die Krankenhauseinweisung wegen der akuten Lebensgefahr für den Erkrankten ohne Mitwirkung des Rentenversicherungsträgers oder dessen Einflußnahme geschehen ist. Vielmehr macht es die Eigenart der notwendigen Heilbehandlung in akuten Fällen aus, daß der Rentenversicherungsträger nicht vom Beginn der Krankenhauseinweisung an seine Einflußnahme geltend machen kann. Es bleibt aber - und das ist entscheidend - dem Rentenversicherungsträger unbenommen, nachdem bereits die Heilbehandlung des lebensbedrohlich Erkrankten begonnen hat, in die Heilbehandlung einzugreifen und zweckgerichtete Weisungen über Art und Maß der Heilbehandlung zu erteilen. Von dieser Befugnis hat die Beklagte übrigens insofern auch Gebrauch gemacht, als der Kläger zur Operation in das Krankenhaus G verlegt worden ist. Dieses Krankenhaus ist nämlich eine Krankenanstalt der Beklagten; dies hat die Beklagte selbst in ihrem streitigen Bescheid zum Ausdruck gebracht.

Ein anderes Ergebnis wäre nur dann zu rechtfertigen, wenn die Vollzugsbehörde die Einweisung des lebensgefährlich Erkrankten mit besonderen Auflagen und Weisungen an das Krankenhaus verbinden würde (so in dem vom 4. Senat des BSG entschiedenen Fall: Urteil vom 30. Juli 1975 - 4 RJ 171/74 - zur Veröffentlichung bestimmt). Das ist aber nach den Feststellungen des LSG nicht geschehen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

NJW 1976, 389

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