Leitsatz (amtlich)

Auch in einem landwirtschaftlichen Unternehmen steht ein Versicherter, wenn sich Betriebs- und Wohnräume innerhalb eines Gebäudes befinden, auf dem Weg von der Wohnung zur Aufnahme einer betrieblichen Tätigkeit grundsätzlich nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, solange der rein persönliche Lebensbereich noch nicht verlassen ist (Vergleiche BSG 1960-01-29 2 RU 265/ 56 = BSGE 11, 267).

 

Normenkette

RVO § 542 Fassung: 1942-03-09, § 543 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 12. Mai 1958 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Klägerin und ihr im Jahre 1884 geborener Ehemann lebten in dem landwirtschaftlichen Unternehmen ihres Sohnes auf Altenteil. Sie hatten im ersten Stockwerk des Bauernhauses drei Räume inne. Der Ehemann der Klägerin half im Betrieb weiter mit und betreute vor allem die Pferde. Am 12. Februar 1957 war er zunächst zu Bekanntenbesuchen unterwegs gewesen und hatte dann mit seiner Ehefrau in seiner Wohnung zu Abend gegessen; anschließend wollte er die Pferde füttern. Auf dem Wege zur Stallung stürzte er auf der vom Obergeschoß zum Erdgeschoß führenden Haustreppe und zog sich dabei so erhebliche Verletzungen zu, daß er im Krankenhaus in D stationär behandelt werden mußte. Dort ist er am 20. Februar 1957 an Lungenentzündung als Folge des Unfalls gestorben.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 10. April 1957 einen Entschädigungsanspruch ab. In dem Bescheid ist ausgeführt: Für den Körperschaden, den der Ehemann der Klägerin angeblich aus Anlaß des Unfalls vom 12. Februar 1957 erlitten habe, werde ein Ersatz nicht gewährt, weil der Verunglückte bei der Tätigkeit, die zum Unfall geführt habe, nicht versichert gewesen sei. Der Versicherungsschutz gelte nur für Wege auf der Betriebsstätte an solchen Orten, an denen eine dem Betrieb dienende Tätigkeit verrichtet werden könnte; auf der Haustreppe sei das noch nicht der Fall gewesen.

Mit der hiergegen gerichteten Klage hat die Klägerin geltend gemacht, ihr Ehemann sei auf dem Wege zur Verrichtung einer landwirtschaftlichen Betriebstätigkeit verunglückt und habe dabei auch innerhalb des Wohnhauses unter Versicherungsschutz gestanden, da die Wohnung in landwirtschaftlichen Unternehmen zur Betriebsstätte gehöre. Das Sozialgericht (SG.) Hildesheim hat dem im Verhandlungstermin gestellten Antrag der Klägerin, unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides festzustellen, daß der Unfall ihres Ehemannes vom 12. Februar 1957 ein zu entschädigender landwirtschaftlicher Arbeitsunfall sei, entsprochen: Bei den vorliegenden landwirtschaftlichen Betriebsverhältnissen gelte auch die Haushaltung als Teil des Unternehmens, so daß landwirtschaftlichen Zwecken dienende Wege auch innerhalb des Wohnhauses dem versicherten Betrieb zuzurechnen seien. Auf einem solchen Weg sei der Ehemann der Klägerin verunglückt, als er zum Füttern der Pferde ging.

Auf die Berufung der Beklagten hiergegen hat das Landessozialgericht (LSG.) durch Urteil vom 12. Mai 1958 die Entscheidung des SG. aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung ist im wesentlichen ausgeführt: Obwohl die Klägerin ihren Anspruch auf Hinterbliebenenentschädigung mit der Leistungsklage hätte verfolgen können und müssen, sei die erhobene Feststellungsklage jedenfalls im Berufungsverfahren schon aus prozeßwirtschaftlichen Gründen ausnahmsweise für zulässig zu erachten. Der geltend gemachte Anspruch der Klägerin sei jedoch unbegründet. Ihr Ehemann habe innerhalb des Hauses auf dem Weg zum Stall nicht unter Versicherungsschutz gestanden. Der "häusliche Bereich", mit dessen Verlassen der Versicherte den Weg zur Arbeitsstätte erst beginne und der nach den in BSG. 2 S. 239 entwickelten Grundsätzen durch die Haustür begrenzt werde, sei nach den dieser Entscheidung zugrunde liegenden Erwägungen in gleicher Weise auch auf dem Gebiet der landwirtschaftlichen Unfallversicherung abzugrenzen. Der Ehemann der Klägerin habe sich daher auf der Haustreppe noch innerhalb seines privaten und daher unversicherten häuslichen Wirkungskreises befunden.

Das LSG. hat die Revision zugelassen, weil die Frage der Abgrenzung des häuslichen Wirkungskreises von dem versicherungsrechtlich geschützten Weg zur Arbeitsstätte durch die erwähnte, sich auf städtische Wohngrundstücke beziehende Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG.) nicht restlos geklärt sei.

Das Urteil ist der Klägerin am 2. Juli 1958 zugestellt worden. Sie hat durch ihren Prozeßbevollmächtigten die Bewilligung des Armenrechts und die Beiordnung eines Rechtsanwalts zur Durchführung des Revisionsverfahrens beantragt. Dem Antrag ist durch Beschluß vom 29. Mai 1959 - zugestellt am 2. Juni 1959 - entsprochen worden. Daraufhin hat die Klägerin durch ihren Prozeßbevollmächtigten gegen das Urteil des LSG. am 4. Juni 1959 Revision eingelegt und gleichzeitig beantragt, ihr wegen Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Revision macht geltend, das LSG. habe sich zu Unrecht auf BSG. 2 S. 239 berufen; diese städtische Wohngrundstücke betreffende Entscheidung biete für landwirtschaftliche Unternehmen keinen brauchbaren Maßstab. Der Gang des Ehemannes der Klägerin zum Füttern der Pferde sei schon auf der Haustreppe als Betriebsweg anzusehen.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG. Hildesheim vom 12. November 1957 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie meint, in landwirtschaftlichen Unternehmen, bei denen es keine klare Trennung zwischen privaten und betrieblich genutzten Räumen gebe, trete beim Übergang von privater Verrichtung zur Betriebsarbeit der Versicherungsschutz erst mit dem Erreichen des Ortes ein, an dem die betriebliche Tätigkeit ausgeübt werden soll.

II

Die Revision ist zulässig. Die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) sind gegeben. Die Klägerin, die wegen ihrer Mittellosigkeit, also ohne Verschulden, zunächst verhindert war, die Revisionsfrist zu wahren, hat nach der Bewilligung des Armenrechts innerhalb eines Monats die Revision in der gesetzlich vorgeschriebenen Form (§§ 164, 166 SGG) eingelegt und begründet; sie hat damit die versäumten Rechtshandlungen ordnungsmäßig nachgeholt. Für die Versäumung der Revisionsfrist war ihr deshalb die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren; eines besonderen formellen Ausspruchs hierüber bedurfte es nicht (BSG. 6 S. 80 (82)). Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist auch begründet.

Die Klägerin verlangt von der Beklagten Entschädigung aus Anlaß des Unfalls ihres Ehemannes. Hierauf ist auch ihr im vorliegenden Verfahren gestellter Antrag festzustellen, daß der Unfall ein zu entschädigender landwirtschaftlicher Arbeitsunfall ist, gerichtet. Dieser Fassung des Antrags ist bei der gegebenen Sachlage nicht zu entnehmen, daß es der Klägerin darauf angekommen wäre, eine Feststellungsklage im Sinne des § 55 SGG zu erheben. Der sachgemäßen Würdigung ihres Klagevorbringens entspricht es vielmehr anzunehmen, daß sie die Aufhebung des ablehnenden Bescheides der Beklagten und deren Verurteilung zur Entschädigungsleistung begehrt (§ 54 Abs. 4 SGG). Daß sie diesem Begehren nicht durch einen entsprechend klaren Antrag Ausdruck gegeben hat, steht der Annahme nicht entgegen, daß es in Wirklichkeit bereits Gegenstand der vorinstanzlichen Entscheidung geworden ist. Gegen die Zulässigkeit einer aus § 54 Abs. 4 SGG hergeleiteten Klage bestehen keine Bedenken.

Nach den Feststellungen des LSG., die von der Revision nicht angegriffen worden sind (§ 163 SGG), war der Ehemann der Klägerin im Anschluß an das Abendessen, das er in seiner Altenteilwohnung eingenommen hatte, zum Stall unterwegs, um die Pferde zu füttern, als er auf der Treppe stürzte. Er beabsichtigte also, im Zeitpunkt des Unfalls, eine versicherte landwirtschaftliche Tätigkeit aufzunehmen. Der Weg, auf dem sich der Unfall ereignete, sollte die Verrichtung dieser Tätigkeit ermöglichen und stand somit in ursächlichem Zusammenhang mit der versicherten Beschäftigung des Ehemannes der Klägerin in dem landwirtschaftlichen Unternehmen seines Sohnes. Diesen Weg mußte er aber auch deshalb zurücklegen, weil er vorher mit seiner Ehefrau zusammen in der gemeinsamen Altenteilwohnung zu Abend gegessen hatte. Mit dieser dem zweifelsfrei unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnenden Verrichtung stand der zum Unfall führende Weg somit gleichfalls in ursächlichem Zusammenhang. Der Übergang von einer privaten und daher unversicherten Verrichtung zu einer betrieblichen Tätigkeit ist in der Regel nicht schon wegen des Zweckes, dem der gesamte Weg im Grunde dient, der versicherten Tätigkeit zuzurechnen (SozR. RVO § 543 Bl. Aa 15 Nr. 20). In einem solchen Falle kommt es vielmehr darauf an, ob die ursächliche Verknüpfung zwischen dem Zurücklegen des Weges und der versicherten Tätigkeit rechtlich so wesentlich ist, daß daneben die ursächliche Beziehung zu der unversicherten Verrichtung, hier dem vorangegangenen Aufenthalt in der Wohnung, rechtlich unberücksichtigt bleiben kann (BSG. 11 S. 267). In Übereinstimmung mit dem angefochtenen Urteil und den insoweit zutreffenden Ausführungen der Beklagten ist der erkennende Senat der Auffassung, daß auch bei landwirtschaftlichen Unfällen der Versicherungsschutz nicht schon dann zu bejahen ist, wenn der Verunglückte den unfallbringenden Weg angetreten hat, um eine versicherte Tätigkeit aufzunehmen; auch unter den besonderen Betriebsverhältnissen landwirtschaftlicher Unternehmen besitzt vielmehr innerhalb des dem persönlichen unversicherten Leben dienenden Wohnbereichs die Beziehung zu diesem Lebensbereich in der Regel rechtlich das ausschlaggebende Gewicht. Im vorliegenden Falle wäre daher kein Versicherungsschutz begründet, solange der Ehemann der Klägerin seinen persönlichen Lebensbereich noch nicht verlassen hatte. Ob die Frage des Versicherungsschutzes anders zu beurteilen wäre, wenn der Versicherte durch besondere Umstände, etwa durch drohende Gefahr, veranlaßt wird, die beabsichtigte Tätigkeit gerade in einem bestimmten Zeitpunkt und möglicherweise in Hast oder Eile auszuführen, brauchte hier nicht entschieden zu werden, da ein solcher Umstand nach dem vorliegenden Sachverhalt offensichtlich nicht gegeben ist.

Die Auffassung des LSG., der Ehemann der Klägerin habe sich im Zeitpunkt des Unfalls noch in seinem rein persönlichen Lebensbereich befunden, ist unter den dargelegten rechtlichen Gesichtspunkten nicht bedenkenfrei. Das LSG. hat verkannt, daß die Grundsätze, die von der Rechtsprechung zu § 543 Reichsversicherungsordnung (RVO) für die Abgrenzung des unversicherten Lebensbereichs entwickelt worden sind (vgl. BSG. 2 S. 239), nur dann angewendet werden können, wenn es sich um Wege innerhalb eines Gebäudes handelt, in welchem sich nicht zugleich auch den Zwecken des versicherten Unternehmens dienende Räume befinden. Diese Voraussetzung ist bei Wohngebäuden landwirtschaftlicher Unternehmen im allgemeinen nicht gegeben. Hier gehört es vielmehr zur Ausnahme, wenn sich in ihnen keine Räume befinden, die gleichzeitig auch für Betriebszwecke bestimmt sind wie z. B. Lager- und Vorratsräume. Da nach § 916 Abs. 1 RVO auch die Haushaltung in der Regel als Teil des landwirtschaftlichen Unternehmens gilt, wird hierdurch die betriebliche Sphäre des Hauses beträchtlich erweitert und eine klare Scheidung zwischen den Teilen des Wohngebäudes welche betrieblichen Zwecken dienen und denjenigen, welche ausschließlich dem persönlichen Lebensbereich zuzurechnen sind, erschwert. Bei Wegen innerhalb eines solchen Hauses hängt der Beginn des Versicherungsschutzes nach der Auffassung des Senats davon ab, ob der Teil des Gebäudes, den der Verunglückte im Zeitpunkt des Unfalls erreicht hatte, in rechtlich wesentlichem Umfang den Zwecken des Unternehmens diente, wobei eine nur selten und gelegentlich vorkommende Nutzung solcher Gebäudeteile für die Beurteilung des Versicherungsschutzes allerdings außer Betracht zu bleiben hat (vgl. BSG. 11 S. 267). Daß die beabsichtigte Betriebstätigkeit an der im Zeitpunkt des Unfalls erreichten Stelle verrichtet werden sollte, ist entgegen der Meinung der Beklagten nicht erforderlich. Wenn der Versicherte überhaupt die betriebliche Sphäre erreicht hat, ist im Zusammenhang mit seiner Absicht, eine versicherte Tätigkeit auszuüben, der Weg bereits in einem so erheblichen Maße betriebsbezogen, daß er dieser Tätigkeit unbedenklich zugerechnet werden kann.

Das angefochtene Urteil enthält keine tatsächlichen Feststellungen über die räumliche Beschaffenheit des landwirtschaftlichen Anwesens, in dem der Ehemann der Klägerin auf der Haustreppe verunglückt ist. Insbesondere ist nicht geklärt, zu welchen Räumen die Treppe führte, auf der sich der Unfall ereignete, und durch welche Räume der Verunglückte gehen mußte, um zur Treppe zu kommen. Ohne nähere Aufklärung hierüber, insbesondere in welcher Weise diese Räume von der Landwirtsfamilie W. genutzt wurden, kann nicht entschieden werden, ob der Treppenraum noch zu den ausschließlich dem persönlichen Lebensbereich des Ehemanns der Klägerin zuzurechnenden Räumen gehört, weil seine Benutzung für die Betriebszwecke nicht ins Gewicht fällt, oder ob die Benutzung so wesentlich ist, daß der Ehemann der Klägerin beim Betreten der Treppe seinen persönlichen Lebensbereich bereits verlassen hatte.

Da sonach die tatsächlichen Feststellungen für eine abschließende rechtliche Beurteilung des Sachverhalts nicht ausreichen, mußte das Urteil des LSG. aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Bei der weiteren Verhandlung wird das LSG, im Hinblick auf die Fassung des Bescheides der Beklagten zweckmäßigerweise die Klägerin zu veranlassen haben, durch Neufassung ihrer Anträge zweifelsfrei klarzustellen, welche Ansprüche sie zum Gegenstand des Verfahrens machen will.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 165

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