Leitsatz (redaktionell)

1. Beitragsnachforderung: Das Interesse des Versicherten an der Entrichtung von Rentenversicherungsbeiträgen überwiegt das des Arbeitgebers auf Schutz vor nachträglicher Inanspruchnahme, so daß einer rückwirkenden Geltendmachung von Beitragsforderungen durch die Einzugsstelle der Grundsatz von Treu und Glauben nicht entgegensteht.

2. Die Bindungswirkung nach SGG § 77 gilt nicht für Verwaltungsakte, die vor dem Inkrafttreten des SGG (1954-01-01) ergangen sind.

3. Ein die Versicherungsfreiheit ausdrücklich anerkennender Bescheid ist ein feststellender Verwaltungsakt.

 

Normenkette

RVO § 395 Abs. 2 Fassung: 1924-12-15; BGB § 242 Fassung: 1896-08-18; RVO § 1396 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 118 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision der beigeladenen Bundesversicherungsanstalt für Angestellte wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. Juni 1962 aufgehoben, soweit es die Beiträge zur Angestelltenversicherung für die Zeit vom 1. Oktober bis zum 31. Dezember 1956 betrifft.

Insoweit wird die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 28. November 1958 zurückgewiesen.

Ferner wird die Entscheidung des Landessozialgerichts im Kostenpunkt aufgehoben. Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Bei der klagenden Firma, einer Arzneimittelfabrik, waren die Tochter des Alleininhabers der Firma - die Beigeladene zu 3) - und deren inzwischen verstorbener Ehemann als Angestellte tätig. Beide wurden von der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) im Hinblick darauf, daß sie die zukünftigen alleinigen Erben des Betriebes seien, als mithelfende Familienangehörige angesehen, die nicht der Versicherungspflicht unterlägen. Zuletzt bestätigte die beklagte AOK diese Auffassung für den Ehemann der Beigeladenen zu 3) in einem Schreiben an die klagende Firma vom 13. November 1951.

Auf Grund einer Betriebsprüfung im Januar 1957 forderte die beklagte AOK, die inzwischen ihre Auffassung über die Versicherungsfreiheit von "Meisterkindern" auf Grund des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 5. April 1956 (BSG 3,30) geändert hatte, von der klagenden Firma die Beiträge zur Angestelltenversicherung (AnV) und zur Arbeitslosenversicherung (ArblV) für die Zeit vom 1. Oktober bis zum 31. Dezember 1956 nach (Bescheid vom 22. Januar 1957). Der Widerspruch der klagenden Firma wurde mit Bescheid vom 29. Mai 1958 zurückgewiesen.

Die klagende Firma ist der Auffassung, daß eine Nacherhebung der Beiträge gegen Treu und Glauben verstoße. Die beklagte AOK sei an ihre Bescheide, die die Versicherungsfreiheit der Beigeladenen zu 3) und ihres Ehemannes festgestellt hätten, bis zur Bekanntgabe der anderweitigen Beurteilung der Versicherungspflicht von Meisterkindern gebunden gewesen. Diese Unterrichtung der Öffentlichkeit sei frühestens Ende Dezember 1956 erfolgt. Sie hat beantragt,

den Bescheid der beklagten AOK vom 22. Januar 1957 i. d. F. des Widerspruchsbescheids vom 29. Mai 1958 aufzuheben.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 28. November 1958). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der klagenden Firma das Urteil des SG sowie die angefochtenen Bescheide der beklagten AOK aufgehoben, und zwar im wesentlichen mit folgender Begründung: Die Erklärungen der beklagten AOK über die Versicherungsfreiheit der Beigeladenen zu 3) und ihres Ehemannes stellten Verwaltungsakte dar. Diese Verwaltungsakte hätten zwar im Zeitpunkt ihres Erlasses nicht unanfechtbar werden können (§ 405 Abs. 2 RVO aF). Die genannte Vorschrift sei jedoch mit Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) aufgehoben worden. Damit seien die die Versicherungsfreiheit feststellenden Bescheide der beklagten AOK unanfechtbar und bindend im Sinne des § 77 SGG geworden. Demnach hätte die beklagte AOK ihre Bescheide über die Versicherungsfreiheit nicht rückwirkend für die Zeit vom 1. Oktober bis zum 31. Dezember 1956 zurücknehmen dürfen (Urteil vom 26. Juni 1962).

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision hat die beigeladene Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben, soweit es die Versicherungspflicht und Beitragspflicht der Beigeladenen zu 3) und ihres verstorbenen Ehemannes in der AnV für die Zeit vom 1. Oktober bis 31. Dezember 1956 betrifft, und in diesem Umfang die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Sie beruft sich auf die Entscheidung des erkennenden Senats vom 18. März 1966 - 3 RK 58/63 -, wonach die vor Inkrafttreten des SGG ergangenen Bescheide der Krankenkassen über die Versicherungs- und Beitragspflicht nicht von der Bindungswirkung des § 77 SGG erfaßt werden. Die Nachforderung der nicht verjährten Beiträge zur AnV verstoße auch nicht gegen Treu und Glauben.

Die beklagte AOK ist dieser Auffassung beigetreten.

Die klagende Firma hat beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält daran fest, daß die beklagte AOK angesichts der jahrzehntelangen Übung, in Betrieben ihrer Eltern beschäftigte Meisterkinder als versicherungsfrei zu behandeln, erst von der Bekanntgabe der anderweitigen Beurteilung der Rechtslage an hätte Beiträge fordern dürfen.

Alle Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Die Revision der beigeladenen BfA, die sich nach der Beschränkung ihres Revisionsantrags nur noch auf die Nachforderung der Beiträge zur AnV für die Zeit vom 1. Oktober bis zum 31. Dezember 1956 bezieht, ist begründet.

Die beklagte AOK hat die Beigeladene zu 3) und deren verstorbenen Ehemann bis zum Jahre 1956 im Hinblick auf die damalige Rechtsauffassung über die Versicherungsfreiheit von Meisterkindern, die im Betriebe ihrer Eltern bzw. Schwiegereltern beschäftigt waren und eine sichere Anwartschaft auf spätere Übernahme des Betriebs hatten, als versicherungsfrei angesehen. Sie hat dieser Auffassung auch zum mindesten für den verstorbenen Ehemann der Beigeladenen zu 3) in dem Schreiben an die klagende Firma vom 13. November 1951 Ausdruck verliehen. Dieser die Versicherungsfreiheit des Genannten ausdrücklich anerkennende Bescheid ist ein Verwaltungsakt.

Dieser Verwaltungsakt ist jedoch nicht nach § 77 SGG bindend geworden, wie das LSG meint. Denn diese Vorschrift ist nicht auf Bescheide anzuwenden, die vor dem Inkrafttreten des SGG (1. Januar 1954) ergangen sind und die nach dem früheren Recht nicht unanfechtbar geworden sind. Vor dem 1. Januar 1954 konnte vielmehr die Frage der Versicherungspflicht oder Versicherungsfreiheit ohne Rücksicht auf eine solche Entscheidung der Krankenkasse nach der damaligen Vorschrift des § 405 Abs. 2 RVO jederzeit überprüft werden. Da es mithin an einer Bindung an den Bescheid vom 13. November 1951 fehlt, war die beklagte AOK befugt, über die Frage der Versicherungspflicht neu zu befinden (ebenso Urteile des Senats vom 27. August 1965 - 3 RK 74/61 - und vom 18. März 1966 - 3 RK 58/63 -).

Der nachträglichen Geltendmachung von Beitragsforderungen durch die Einzugsstelle steht auch nicht der für das öffentliche Recht geltende Grundsatz von Treu und Glauben entgegen. Die hiernach gebotene Interessenabwägung führt in der Rentenversicherung dazu, die Beitragsnachforderungen grundsätzlich für zulässig zu erachten. Das Interesse des Versicherten an der tatsächlichen Beitragsentrichtung überwiegt das des Arbeitgebers auf Schutz vor nachträglicher Inanspruchnahme (vgl. im einzelnen BSG 17, 173 und 21, 52). Es können daher die Beiträge zur AnV nachgefordert werden, soweit sie nicht verjährt sind.

Das Urteil des LSG mußte daher aufgehoben werden, soweit es die Nachforderung der Beiträge zur AnV für die Zeit vom 1. Oktober bis zum 31. Dezember 1956 betrifft.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2379718

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