Leitsatz (redaktionell)

Die Absicht, einen Rentenantrag zu stellen, und die in Verbindung damit eingeholte Auskunft sind keine Antragstellung auf Rentengewährung.

Die RVO hat bestimmte Aufgaben nicht den Versicherungsträgern, sondern Behörden der Länder, Gemeinden oder Gemeindeverbänden übertragen und den obersten Verwaltungsbehörden der Länder die näheren Bestimmungen überlassen (RVO §§ 35 - 60, 110, 111). Diese Behörden üben ihre Aufgaben in eigener Zuständigkeit aus, sind den Versicherungsträgern nicht ein- oder angegliedert und handeln weder in deren Auftrag noch sind sie an deren Weisungen gebunden.

Die irrige Auskunft einer solchen Stelle begründet daher weder eine Leistungs- noch eine Schadensersatzpflicht des für den Auskunftsbereich sachlich und örtlich zuständigen Versicherungsträgers.

Nur wenn der Leistungsträger selbst aus anderen Gründen (zB Schadenersatz) verpflichtet wäre, die begehrte Leistung doch zu gewähren, könnte er sie nach dem Grundsatz von Treu und Glauben, der auch das öffentliche Recht beherrscht, nicht im Leistungsverfahren verweigern und den Berechtigten auf ein anderes Verfahren verweisen.

 

Normenkette

RVO § 35 Fassung: 1924-12-15, § 110 Fassung: 1924-12-15, § 111 Fassung: 1924-12-15

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 18. August 1959 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten um Witwenrente für eine zurückliegende Zeit.

Die Klägerin bezieht seit Januar 1949 Witwenrente aus der Unfallversicherung ihres am 3. Januar 1949 infolge eines Dienstunfalls gestorbenen Ehemannes; seit dem 1. August 1956 erhält sie Witwenrente aus der Rentenversicherung der Arbeiter (ArV) und der Angestellten (AV). Mit der Klage begehrt sie diese Rente auch für die Zeit vom 1. Februar 1949 bis 31. Juli 1956.

Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) sprach die Klägerin einige Zeit nach dem Tod ihres Ehemannes bei der für sie zuständigen Ortsbehörde für die Arbeiter- und Angestelltenversicherung in Rommelshausen (Kreis Waiblingen) wegen ihrer Witwenrente vor. Der dort beschäftigte Sachbearbeiter erklärte der Klägerin nach Durchsicht der Versicherungsunterlagen, sie erfülle die Voraussetzungen für eine Witwenrente in ihrer Person noch nicht; sie solle die Papiere bis zu ihrer Arbeitsunfähigkeit gut aufheben. Die Klägerin nahm daraufhin die Versicherungsunterlagen wieder an sich und ging fort. In ihrem im Juli 1956 gestellten Antrag auf Witwenrente aus AV und ArV wies die Klägerin auf diesen Sachverhalt hin. Die Beklagte, die zunächst noch Ermittlungen wegen der Möglichkeit einer Vorverlegung des Rentenbeginns durchgeführt hatte, teilte der Klägerin mit Bescheid vom 28. März 1957 mit, daß eine solche nicht möglich sei.

Das Sozialgericht (SG) verurteilte die Beklagte, der Klägerin Witwenrente nach den gesetzlichen Vorschriften für die Zeit vom 1. Februar 1949 an zu zahlen; es ließ die Berufung zu (Urteil vom 27. November 1957). Das LSG hob dieses Urteil auf und wies die Klage ab: Die Klägerin habe zwar 1949 einen mündlichen Rentenantrag gestellt, dieser sei aber wieder zurückgenommen worden (Urteil vom 18. August 1959). Das LSG ließ die Revision zu.

Die Klägerin legte gegen das ihr am 14. September 1959 zugestellte Urteil am 3. Oktober 1959 Revision ein; sie beantragte sinngemäß, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung der Revision trug sie gleichzeitig vor, das LSG habe unter Verletzung allgemein anerkannter Auslegungsregeln in dem passiven Verhalten der Klägerin eine Antragsrücknahme erblickt; die durch § 1 des Württembergischen Gesetzes Nr. 76 eingeleitete Rechtsentwicklung sei nicht berücksichtigt worden; selbst wenn von einem zu Beginn des Jahres 1949 gestellten Antrag nicht mehr ausgegangen werden könne, verstoße die Nichtgewährung der Rente für die Zeit vor dem 1. August 1956 gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, weil allein die unrichtige Auskunft der Ortsbehörde für den Mangel des Antrags ursächlich gewesen sei.

Die Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.

Das LSG kam zutreffend zu dem Ergebnis, daß der Klägerin ein Anspruch auf Witwenrente aus der Rentenversicherung für die Zeit vom 1. Februar 1949 bis zum 31. Juli 1956 nicht zusteht. Ein solcher Anspruch der Klägerin hängt in erster Linie davon ab, ob sie seinerzeit einen Rentenantrag gestellt hat (§ 41 Abs. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - aF; § 1286 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO - aF). Zwar bedarf ein solcher Antrag keiner besonderen Form und kann deswegen auch mündlich gestellt werden (§§ 204 AVG, 1613 RVO; BSG 2, 273, 275). Das eigene Vorbringen der Klägerin läßt jedoch erkennen, daß sie keinen Rentenantrag gestellt hat. Die Klägerin wird zwar seinerzeit, als sie im Jahre 1949 bei der Ortsbehörde vorsprach, die Absicht gehabt haben, einen solchen Rentenantrag zu stellen. Es kam jedoch nicht hierzu, weil die Klägerin im unmittelbaren Anschluß an die ihr erteilte - wenn auch unrichtige - Belehrung über ihre Rechte durch den zuständigen Sachbearbeiter ihre Versicherungsunterlagen wieder an sich nahm und fort ging. Offensichtlich hielt sie nunmehr einen Rentenantrag für aussichtslos und sah deswegen davon ab, ihn zu stellen. Deshalb ist es auch verständlich, daß sie sich in der Folgezeit bis zum Jahre 1956 nicht mehr nach ihrer Rente erkundigte. Selbst wenn aber davon auszugehen wäre, daß - wie das LSG annimmt - seinerzeit zunächst ein mündlicher Rentenantrag gestellt wurde, so wäre dieser im Verlauf der Unterredung mit dem Sachbearbeiter der Ortsbehörde von der Klägerin wieder zurückgenommen worden, wie das LSG aus deren Verhalten mit Recht gefolgert hat.

Dem Umstand, daß für das Verhalten der Klägerin die irrige Auskunft der Ortsbehörde ursächlich war, konnte für die Entscheidung des Senats keine Bedeutung zukommen. Gewiß wird durch diese falsche Auskunft ein Verschulden der Klägerin ausgeschlossen (vgl. AN 34, 196, 198). Aber darauf kommt es nicht an, weil § 1286 Abs. 1 RVO aF in der Fassung des § 1 des Gesetzes Nr. 76 des Landes Württemberg-Baden über den Beginn der Rentenzahlung in der Invaliden- und Angestelltenversicherung vom 12. Januar 1948 (RegBl der Regierung Württemberg-Baden S. 11) durch die §§ 5 Buchst. b und 4 Abs. 1 des Gesetzes über den Ablauf der durch Kriegsvorschriften gehemmten Fristen in der Sozial- und Arbeitslosenversicherung vom 13. November 1952 (BGBl I 737) außer Kraft gesetzt wurde. Das fehlende Verschulden der Klägerin könnte auch nicht etwa deshalb Berücksichtigung finden, weil die weitere Entwicklung des Rechts der Sozialversicherung wieder zu einer für die Versicherten günstigeren Regelung geführt hat. Zwar haben die Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze (§ 67 AVG nF; § 1290 RVO nF) den Rentenbeginn großzügiger geordnet; sie haben jedoch nicht den § 1 des Gesetzes Nr. 76 beherrschenden Gedanken aufgegriffen. Von einer über dieses Gesetz zu den Neuregelungsgesetzen führenden, wenn auch unterbrochenen, Rechtsentwicklung kann daher nicht die Rede sein.

Die Frage, ob und von wem die Klägerin für ihren infolge falscher Auskunft bei der Ortsbehörde entstandenen Schaden Ersatz beanspruchen kann, berührt nicht den vorliegenden Rechtsstreit, sondern wird in dem bereits anhängigen Zivilrechtsstreit zu entscheiden sein. Wenn die Klägerin unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes (BFH) meint, es verstoße gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, wenn sich eine Behörde auf eine nicht rechtzeitige Antragstellung berufe, obwohl es hierzu infolge einer Auskunft eben dieser Behörde gekommen sei, so mag dies zwar für den Bereich einer einzelnen Behörde oder einer in sich geschlossenen Verwaltung, wie etwa der Finanzverwaltung, zutreffen (vgl. BStBl 1955 III 81, 1958 III 87 und 116). Während in den vom BFH entschiedenen Fällen dieselbe Behörde (Finanzamt oder Oberfinanzdirektion) die Auskunft erteilt und den Antrag beschieden hat, ist dies aber in dem vorliegenden Fall gerade nicht geschehen.

Die RVO hat - wie auch die anderen Gesetze über Sozialversicherung - bestimmte Aufgaben nicht den Versicherungsträgern, sondern Behörden der Länder, Gemeinden oder Gemeindeverbänden übertragen und den obersten Verwaltungsbehörden der Länder die näheren Bestimmungen überlassen (§§ 35 bis 60, 110, 111 RVO). Diese Behörden üben ihre Aufgaben in eigener Zuständigkeit aus, sind den Versicherungsträgern nicht ein- oder angegliedert und handeln weder in deren Auftrag noch sind sie an deren Weisungen gebunden. Die durch die RVO den Versicherungsämtern übertragenen Geschäfte werden in dem früheren Land Württemberg durch die Gemeinden wahrgenommen (§§ 36, 110, 111 RVO; Art. 1 des Württemb. Ausführungsgesetzes zur RVO vom 8. Juli 1912 - RegBl. für Württemberg S. 245 -; §§ 1 und 2 Abs. 1 der Verfügung des Württemb. Ministeriums des Inneren zum Vollzug dieses Gesetzes vom 26. Oktober 1912 - RegBl. S. 820 -; § 1 Abs. 3 der Verfügung des Württemb. Arbeitsministeriums zum Vollzug des AVG vom 29. Dezember 1922 - RegBl. 1923 S. 39 -). Die Ortsbehörde ist keine Behörde im Dienst der Beklagten, obgleich sie mit dieser von Gesetzes wegen zu gemeinsamer Aufgabe verbunden ist (vgl. BGHZ 26, 232, 236 sowie EuM 38, 189, 192).

Während also in der Finanzverwaltung die Verantwortlichkeit für eine durch fehlerhafte Auskunft begangene Amtspflichtverletzung den Rechtsträger trifft, der auch die Leistung zu gewähren hat (Art. 34 des Grundgesetzes; § 839 des Bürgerlichen Gesetzbuches), ist im vorliegenden Falle der Dienstherr des Angestellten, der die Amtspflichtverletzung begangen haben soll, weder identisch mit dem Leistungsträger, noch gehört er zu dessen Verantwortungsbereich. Nur dann aber, wenn der Leistungsträger selbst aus anderen Gründen (z.B. Schadensersatz) verpflichtet wäre, die begehrte Leistung doch zu gewähren, könnte er sie nach dem Grundsatz von Treu und Glauben, der auch das öffentliche Recht beherrscht, nicht im Leistungsverfahren verweigern und den Berechtigten auf ein anderes Verfahren verweisen. An der Identität des Verpflichteten fehlt es jedoch im vorliegenden Falle.

Die Revision war daher zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2530016

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