Leitsatz (amtlich)

Übt ein Beamter neben seinem versicherungsfreien Beamtenverhältnis eine entgeltliche Angestelltentätigkeit aus, so sind bei der Ermittlung des für die Versicherungspflicht maßgebenden "regelmäßigen Jahresarbeitsverdienstes" (AVG § 4 Abs 1 Nr 1) nur die Bezüge aus der Angestelltentätigkeit zu berücksichtigen.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Zwei nebeneinander bestehende Beschäftigungsverhältnisse sind versicherungsrechtlich getrennt zu beurteilen, wenn in ihnen "verschiedenartige Tätigkeiten" ausgeübt werden. Bei der Ermittlung des JAV sind deshalb die Bezüge aus einer Angestellten- und einer Arbeitertätigkeit nicht zusammenzurechnen.

2. Die Versicherungsfreiheit nach RVO § 169 erstreckt sich nicht auf abhängige Beschäftigungsverhältnisse, die vorläufig des Dienstes enthobene Beamte neben ihrem Beamtenverhältnis eingehen.

 

Normenkette

AVG § 4 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1229 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09, § 169 Abs. 1 Fassung: 1945-03-17

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 12. Dezember 1961 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die beigeladene Postassistentin ... wurde im Jahre 1956 von der Oberpostdirektion Hamburg wegen eines Dienstvergehens vorläufig ihres Dienstes enthoben; zugleich wurde die Hälfte ihrer Dienstbezüge einbehalten. Das Disziplinarverfahren endete damit, daß sie in eine niedrigere Dienstaltersstufe ihrer Besoldungsgruppe eingestuft und ihr das Aufsteigen im Gehalt auf die Dauer von zwei Jahren versagt wurde (Urteil des Bundesdisziplinarhofs vom 26. August 1959). Seit dem 27. Januar 1958 war die Beigeladene B. bei der Klägerin als kaufmännische Angestellte tätig. Bei einer Betriebsprüfung stellte die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) fest, daß das Beschäftigungsverhältnis der Beigeladenen B. bei der Klägerin versicherungspflichtig sei; sie forderte die Nachentrichtung der Beiträge (Bescheid vom 20. Juni 1958). Der Widerspruch der Klägerin wurde mit der Begründung zurückgewiesen, die Versicherungsfreiheit nach § 169 der Reichsversicherungsordnung (RVO) beziehe sich nur auf die "tätigen" Beamten, zu denen Fräulein B. aber nicht gehöre; außerdem gelte die Versicherungsfreiheit nur für das Beschäftigungsverhältnis als tätiger Beamter, nicht aber für weitere Beschäftigungsverhältnisse (Bescheid vom 17. Juli 1958).

Die Klägerin hat gegen den Widerspruchsbescheid Klage erhoben mit dem Antrag,

1. den Widerspruchsbescheid der beklagten AOK vom 17. Juli 1958 aufzuheben,

2. festzustellen, daß die Beigeladene B. in ihrem Beschäftigungsverhältnis bei der Klägerin nicht der Versicherungspflicht zur Angestellten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung unterliege.

Sie ist der Auffassung, § 169 RVO gelte ebenso wie § 6 Abs. 1 Nr. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) für alle aktiven Beamten ohne Rücksicht darauf, ob sie "tätig" seien oder nicht. Da ein des Dienstes vorläufig enthobener Beamter seine Beamteneigenschaft nicht verliere und die Sicherungen des Beamtenverhältnisses behalte, sei der besondere Schutz der Sozialversicherung entbehrlich.

Die beklagte AOK hat um

Klagabweisung

gebeten. Sie hält an ihrer Rechtsauffassung fest, daß ein Beamter in seinem Beamtendienstverhältnis versicherungsfrei und zugleich als Angestellter in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis versicherungspflichtig sein könne.

Die beigeladene Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (BfArb) ist dieser Auffassung beigetreten. Sie beruft sich insbesondere auf § 173 RVO: Wenn schon bei Ruhegehaltsempfängern ein Bedürfnis nach dem Schutz der Sozialversicherung anerkannt werde, so müsse das erst recht bei Personen gelten, denen nur eine Anwartschaft auf Ruhegehalt gewährleistet sei.

Die beigeladene Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) und die Beigeladene B. haben sich dem Antrag und den Ausführungen der Klägerin angeschlossen.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 26. Oktober 1961).

Gegen dieses Urteil haben die Klägerin und die Beigeladene B. Berufung eingelegt.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 12. Dezember 1961). Es bestätigte seine schon in einem Urteil vom 6. Oktober 1959 dargelegte Auffassung, daß die abhängige Beschäftigung eines vorläufig des Dienstes enthobenen Beamten durch einen privaten Arbeitgeber grundsätzlich der Versicherungspflicht unterliege. Die Versicherungspflicht in der Angestellten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung folge aus § 2 Nr. 1 AVG, § 165 Abs. 1 Nr. 2 RVO und § 56 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG). Mit Wortlaut und Zweck dieser Vorschriften sei die Ansicht der Klägerin nicht vereinbar, daß ein mit Anwartschaft auf Versorgung verbundenes Beamtenverhältnis für jede weitere Beschäftigung Versicherungsfreiheit begründe. Anderenfalls erübrigten sich die Regelungen über die Befreiung von der Versicherungspflicht in §§ 173, 1230 RVO, § 7 AVG sowie § 73 des Gesetzes zu Art. 131 Grundgesetz (GG). Der Gesetzgeber unterscheide in diesen Vorschriften zwischen tätigen und nichttätigen Beamten sowie zwischen Wartestands- und Ruhestandsbeamten, also zwischen dem Beamtenverhältnis im rechtlichen Sinn und einer tatsächlichen Beschäftigung. Voraussetzung für die Versicherungsfreiheit sei eine tatsächliche Beschäftigung im öffentlichen Dienst. Bei einem des Dienstes enthobenen Beamten bestehe zwar noch - ähnlich wie bei den Ruhestands- und Wartestandsbeamten sowie den in § 23 des Gesetzes zu Art. 131 GG genannten Beamten zur Wiederverwendung - ein Beamtenstatus. aber kein Beschäftigungsverhältnis mehr. - Die Verpflichtung zur Nachversicherung beim Ausscheiden aus dem Beamtenverhältnis (§ 9 AVG) genüge nicht dem Schutzbedürfnis des ausgeschiedenen Beamten, weil für die Beschäftigung in der Privatwirtschaft keine Nachversicherung durchgeführt werde. - Schließlich sei zu berücksichtigen, daß es dem System der Sozialversicherung widerspreche, wenn ein Arbeitgeber für die Beschäftigung eines dienstenthobenen Beamten keine Arbeitgeberanteile abzuführen brauche (vgl. § 113 AVG = § 1386 RVO).

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Revision eingelegt mit dem Antrag,

unter Aufhebung des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 15. Juli 1958, des erstinstanzlichen und des angefochtenen Urteils festzustellen, daß die Beigeladene B. in der Zeit ihrer Beschäftigung bei der Klägerin vom 22. Januar bis 31. Mai 1958 nicht der Versicherungspflicht in der Angestellten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung unterlag.

Sie wendet sich gegen die Auffassung des LSG, daß die Vorschriften über die Versicherungsfreiheit (§ 169 RVO, § 6 Abs. 1 Nr. 3 AVG) nur für tatsächlich im Dienst ihrer Verwaltung tätige Beamte gelten sollen. Diese Vorschriften wollten vielmehr nur die nicht mehr im aktiven Dienst befindlichen Beamten, d. h. die Ruhestands- und Wartestandsbeamten ausschließen. - Die Versicherungspflicht der in einem weiteren Beschäftigungsverhältnis stehenden Beamten müsse von ihrem Sicherungsbedürfnis her beurteilt werden. Der Beamte sei aber bereits durch Versorgungsansprüche aus seinem Beamtenverhältnis ausreichend gesichert. - Die beklagte AOK habe sich mit dem angefochtenen Bescheid in Gegensatz zur Auffassung der beigeladenen BfA gesetzt. An deren Erklärungen zu Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung sei sie aber gebunden. Es müsse daher bezweifelt werden, ob die Beklagte noch "postulationsfähig und prozeßlegitimiert" sei, soweit es sich um die Angestelltenversicherung handele.

Die beklagte AOK hat

Zurückweisung der Revision

beantragt. Sie hält an ihrer Auffassung fest, daß nur "tätige" Beamte versicherungsfrei sind. Die Versicherungsfreiheit nach § 169 RVO habe immer nur für das Beschäftigungsverhältnis bei dem dort genannten Dienstherrn gegolten. - Sie, die beklagte AOK, sei postulationsfähig und prozeßlegitimiert, auch soweit es sich um die Angestelltenversicherung handele. Sie habe über Versicherungspflicht, Beitragspflicht und Beitragshöhe in eigener Verantwortung zu entscheiden. Im übrigen sei ihr eine bindende Erklärung der BfA zu der hier strittigen Rechtsfrage nicht bekannt.

Die beigeladene BfA vertritt in Übereinstimmung mit der Klägerin die Meinung, daß die Versicherungsfreiheit wegen gewährleisteter Versorgungsanwartschaften nicht auf Beschäftigungen bei den in § 169 Abs. 1 RVO bzw. § 6 Abs. 1 Nr. 3 in Verbindung mit Nr. 2 AVG genannten Arbeitgebern beschränkt sei. Das habe auch das Reichsversicherungsamt (RVA) in seiner Rechtsprechung über die Versicherungsfreiheit vorübergehend zur anderweitigen Dienstleistung beurlaubter Gerichtsassessoren angenommen (AN 1931, 487). Zwischen einem beurlaubten und einem dienstenthobenen Beamten bestehe, was das Fortbestehen des Beamtenverhältnisses und die Gewährleistung der Versorgungsanwartschaften betreffe, kein Unterschied.

Die beigeladene BfArb hat von einer Stellungnahme abgesehen.

II

Die Revision ist nicht begründet. Zu Recht hat das LSG in Übereinstimmung mit dem SG und der beklagten AOK das Beschäftigungsverhältnis der Beigeladenen B. bei der Klägerin als versicherungspflichtig angesehen.

Daß die beigeladene BfA im vorliegenden Verfahren einen von der beklagten AOK abweichenden Standpunkt vertreten hat, berührt - entgegen der Meinung der Klägerin - nicht das Recht der beklagten AOK, den von ihr erlassenen Verwaltungsakt im Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit in der von ihr für zweckmäßig und richtig erachteten Weise zu verteidigen (vgl. § 121 Abs. 3, letzter Halbs. AVG). Selbst wenn die beigeladene BfA zu der hier strittigen Rechtsfrage eine Erklärung im Sinne des § 121 Abs. 4 AVG abgegeben hätte - was nicht ersichtlich ist -, würde eine solche Erklärung nur das Innenverhältnis zwischen Einzugsstelle und Träger der Rentenversicherung betreffen und den mit der Erklärung nicht übereinstimmenden Verwaltungsakt der Einzugsstelle in seiner Rechtswirksamkeit unberührt lassen (BSG 15, 118, 124).

In der Krankenversicherung folgt die Versicherungspflicht der Beigeladenen B. daraus, daß sie als Angestellte mit einem regelmäßigen Jahresarbeitsverdienst unter 7920 DM beschäftigt war (§ 165 Abs. 1 Nr. 2 RVO in Verbindung mit dem Zweiten Einkommensgrenzengesetz vom 27. Juli 1957 - BGBl I, 1070). Ihrer Versicherungspflicht steht nicht entgegen, daß sie noch Bezüge aus dem Postbeamtenverhältnis hatte, die mit der Angestelltenvergütung zusammengerechnet möglicherweise einen höheren Betrag als 7920 DM ergeben hätten. Die Dienstbezüge aus dem Postbeamtenverhältnis bleiben bei der Ermittlung des regelmäßigen Jahresarbeitsverdienstes außer Ansatz. Wie der Senat in seiner Entscheidung vom 20. Dezember 1961 (BSG 16, 98, 104) bereits dargelegt hat, sind zwei nebeneinander bestehende Beschäftigungsverhältnisse versicherungsrechtlich getrennt zu beurteilen, wenn in ihnen "verschiedenartige Tätigkeiten" ausgeübt werden. Demgemäß sind bei der Ermittlung des für die Krankenversicherungspflicht der Angestellten maßgebenden Jahresarbeitsverdienstes die Verdienste aus Angestellten- und Arbeitertätigkeit nicht zusammenzurechnen (so auch schon RVA, Grunds. Entsch. Nr. 2518; AN 1919, 289, 290). Das gleiche muß gelten, wenn Bezüge aus versicherungspflichtiger und nicht versicherungspflichtiger Beschäftigung als Beamter vorliegen. In diesem Fall kommt für die Berechnung des Jahresarbeitsverdienstes im Sinne des § 165 Abs. 1 Nr. 2 RVO nur der Verdienst aus der versicherungspflichtigen Beschäftigung in Betracht (RVA, Entsch. vom 14. September 1938; EuM 43, 360, 362). Deshalb sind die Dienstbezüge der Beigeladenen B. bei der Ermittlung des Jahresarbeitsverdienstes außer Ansatz zu lassen; denn diese ist als Postbeamtin mit gewährleisteter Versorgungsanwartschaft in ihrem Beamtenverhältnis versicherungsfrei (§ 169 RVO idF der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung vom 17. März 1945; RGBl I 41). Dies galt auch in der Zeit, als die Beigeladene B. vorläufig des Dienstes enthoben war. Ihr Beamtenstatus und die hierauf gegründete Gewährleistung ihrer Anwartschaft auf Ruhegehalt und Hinterbliebenenversorgung wurden von der vorläufigen Dienstenthebung nicht berührt, wie der Senat in der Entscheidung vom heutigen Tage in der Sache 3 RK 99/59 näher begründet hat.

In dieser Sache ist auch näher dargelegt, daß die Versicherungsfreiheit nach § 169 RVO sich nicht auf abhängige Beschäftigungsverhältnisse erstreckt, die ein vorläufig des Dienstes enthobener Beamter neben seinem Beamtenverhältnis eingegangen ist.

Aus der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung ergibt sich die Versicherungspflicht in der Arbeitslosenversicherung (§ 56 Abs. 1 Nr. 1 AVAVG idF der Bekanntmachung vom 3. April 1957 - BGBl I 321).

Die Versicherungspflicht der Beigeladenen B. in der Angestelltenversicherung folgt aus § 2 Nr. 1 in Verbindung mit §§ 4 Abs. 1 Nr. 1, 5 Abs. 1 AVG. Die Beigeladene B. war als Angestellte mit einem regelmäßigen Jahresarbeitsverdienst unter 15.000 DM beschäftigt. Die dem § 169 RVO entsprechende Vorschrift des AVG über die Versicherungsfreiheit (§ 6 Abs. 1 Nr. 3 in Verbindung mit Nr. 2 AVG) ist auf das Angestelltenverhältnis der Beigeladenen B. nicht anwendbar, wie in der Sache 3 RK 99/59 zu der dem § 6 Abs. 1 Nr. 3 AVG entsprechenden Vorschrift der Rentenversicherung der Arbeiter (§ 1229 Abs. 1 Nr. 3 RVO) näher dargelegt ist.

Der angefochtene Bescheid der beklagten AOK ist somit zu Recht ergangen.

Das angefochtene Urteil des LSG, das die klagabweisende Entscheidung des SG bestätigt hat, ist im Ergebnis richtig. Die Revision der Klägerin ist deshalb im vollen Umfang als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

BSGE, 133

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