Leitsatz (redaktionell)

1. Im anwaltlichen Probedienst bei einem Rechtsanwalt beschäftigte Assessoren sind gegen Entgelt tätige "Angestellte in höherer Stellung" und versicherungspflichtig. Dies gilt auch für Rechtsanwälte, die in persönlicher Abhängigkeit im Büro eines anderen Rechtsanwalts mitarbeiten.

2. Umgestaltung des ursprünglichen Verwaltungsakts durch den zurückweisenden Widerspruchsbescheid.

3. Wesentliches Merkmal für das Vorliegen einer Versicherungspflicht begründenden Beschäftigungsverhältnisses ist die persönliche Abhängigkeit, dh die Bindung an Weisungen des Arbeitgebers bzw die Einordnung in den Betrieb.

4. Bei Personen, die Dienste höherer Art (BGB § 622) leisten, kann persönliche Abhängigkeit auch dann angenommen werden, wenn die Weisungsbefugnis des Arbeitgebers hinsichtlich der Ausführung der Arbeit stark eingeschränkt ist oder völlig fehlt; in diesen Fällen wird die Bindung an die Weisungsbefugnis des Arbeitgebers durch die Eingliederung in den übergeordneten Organismus des Betriebes oder der Verwaltung ersetzt.

5. Ein für einen anderen Rechtsanwalt in dessen Büro tätiger Rechtsanwalt, der über Ort und Zeit der Arbeit nicht frei bestimmen kann und für seine Tätigkeit eine feste Vergütung erhält, steht in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis.

 

Normenkette

RVO § 165 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1957-07-27; AVG § 2 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; AVAVG § 56 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1957-07-27

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 21. September 1966 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beigeladene zu 3), der Rechtsanwalt S (S.), im Anschluß an seine versicherungspflichtige Tätigkeit als Anwaltsassessor im Anwaltsbüro des Klägers auch weiterhin für die Zeit vom 1. Oktober 1959 bis 31. Mai 1961 abhängig beschäftigt war und ob deshalb der Kläger Sozialversicherungsbeiträge für ihn zu entrichten hat.

Am 4. März 1959 meldete der Kläger den damaligen Anwaltsassessor S. mit Wirkung vom 1. März 1959 bei der beklagten Krankenkasse (KK) mit einem monatlichen Verdienst von 799,99 DM an; Beiträge wurden abgeführt. Am 17. Mai 1961 meldete der Kläger S. mit der Begründung zum 31. Mai 1961 ab, dieser sei "selbständiger Rechtsanwalt". Bei einer Betriebsprüfung am 10. Oktober 1961 stellte die beklagte Krankenkasse fest, daß eine am 1. Juni 1959 eingetretene Gehaltsveränderung der Beklagten nicht mitgeteilt worden war. Mit Beitragsnachberechnung vom 19. Oktober 1961 forderte die Beklagte vom Kläger Beiträge zur Angestellten- und Arbeitslosenversicherung in Höhe von 189,74 DM nach. Gegen diese Nachforderung legte der Kläger Widerspruch ein. Zur Begründung machte er geltend, zunächst sei S. bei ihm als Anwaltsassessor beschäftigt gewesen und im Anschluß daran als Anwalt im freien Mandatsvertrag tätig geworden. Für die Zeit vom 1. Oktober 1959 bis 31. Mai 1961 habe er irrtümlicherweise Beiträge gezahlt. Diese beanspruche er zurück.

Der Widerspruch gegen diesen Bescheid blieb erfolglos. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Anspruch des Klägers entfalle zwar nicht schon deswegen, weil die Beiträge auf Grund einer bindenden Entscheidung der Beklagten über das Bestehen der Versicherungspflicht des S. geleistet wurden, denn solch ein bindend gewordener Verwaltungsakt der Beklagten liege nicht vor. Jedoch könne der Kläger die Beiträge deswegen nicht zurückfordern, weil S. während der streitigen Zeit bei ihm versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei. Er habe sich, was zwischen den Beteiligten unstreitig sei, bis zum 30. September 1959 in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis beim Kläger befunden. In seiner Vernehmung vor dem SG - vor seiner Beiladung, die erst im Berufungsverfahren erfolgt ist - habe S. ausgesagt, an seinem Arbeitsverhältnis habe sich auch ab 1. Oktober 1959 nichts geändert. Er habe weiterhin für den Kläger in vollem Umfang gearbeitet, und zwar wie ein angestellter Assessor oder juristischer Hilfsarbeiter, allerdings mit voller Unterschriftsberechtigung. Wenn er geringfügig in eigenen Sachen tätig gewesen sei, habe er die Termine im Einverständnis mit dem Kläger während der Arbeitszeit wahrgenommen. Den Schriftverkehr in eigenen Sachen habe er nach Dienstschluß beim Kläger zu Hause in seiner Wohnung abgewickelt. Auch sein Bruttogehalt in Höhe von 799,99 DM habe sich in der fraglichen Zeit nicht geändert. Die Akten habe er weiter vom Kläger zugewiesen erhalten, sie dann aber im großen und ganzen selbständig bearbeitet. Auch sei er an Dienststunden gebunden gewesen. Diese Merkmale sprächen dafür, daß ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis vorliege.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger die zugelassene Revision eingelegt und ausgeführt, von dem Augenblick an, in dem der bisherige Anwaltsassessor als Anwalt zugelassen worden sei, sei jedes Abhängigkeitsverhältnis entfallen. S. habe die Schriftsätze selbst unterschrieben und dafür auch die Verantwortung getragen. Im übrigen habe er auch keine Kenntnis von der Zuteilung von Armenrechtssachen und von Pflichtverteidigungen des S. gehabt. S. habe in einem eigenen Arbeitszimmer gearbeitet. Die Bindung an Dienststunden habe mit Anweisungen nichts zu tun gehabt. Sie seien dem rechtsuchenden Publikum bekannt gegeben und hätten aus diesem Grunde eingehalten werden müssen. Eine Zuweisung von Akten finde in jeder Sozietät statt, denn irgendjemand müsse schließlich die Akten verteilen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 21. September 1966 sowie das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 7. Dezember 1964 und den Widerspruchsbescheid vom 12. Dezember 1961 aufzuheben, den Bescheid vom 19. Oktober 1961 abzuändern, ferner die Beklagte zu verurteilen, ihm die von ihm entrichteten Sozialversicherungsbeiträge für die Zeit vom 1. Oktober 1959 bis 31. Mai 1961 zurückzuerstatten.

Die beklagte KK, die beigeladene Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg, und die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der beigeladene Rechtsanwalt S. hat keinen Antrag gestellt.

II

Die Revision ist nicht begründet.

Der Anspruch des Klägers auf Rückzahlung der nach seiner Ansicht irrtümlich zuviel gezahlten Beiträge vom 1. Oktober 1959 bis 31. Mai 1961 ist von diesem zwar erst im Widerspruchsverfahren geltend gemacht worden und über ihn hat nur die Widerspruchsstelle der Beklagten mitbefunden, indem sie eine Versicherungspflicht und ordnungsgemäße Beitragsentrichtung für die streitige Zeit angenommen hat. Dies ist jedoch zumindest dann unbedenklich, wenn die geltend gemachte Forderung in untrennbarem Zusammenhang mit dem ursprünglichen Verwaltungsakt steht, wie es hier der Fall ist, in dem letztlich die Beteiligten lediglich darüber streiten, ob der Beigeladene S. beim Kläger für die Zeit vom 1. Oktober 1959 bis 31. Mai 1961 versicherungspflichtig beschäftigt war. Der den Widerspruch zurückweisende Bescheid braucht den ursprünglichen Verwaltungsakt nicht zu bestätigen, sondern kann ihn auch umgestalten, d.h. ihm einen anderen sachlichen Inhalt geben. Dann ist der ursprüngliche Verwaltungsakt in der neuen Gestalt (§ 95 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) Streitgegenstand und der geänderte Verwaltungsakt gilt als Akt der Stelle, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat (vgl. Urteil des 9. Senats vom 8. Oktober 1969 - 9 RV 46/69 -).

Wie der Senat in BSG 21, 57 ff entschieden hat, sind im anwaltlichen Probedienst beschäftigte Assessoren ("Anwaltsassessoren") gegen Entgelt tätige "Angestellte in höherer Stellung" (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -). Sie sind daher versicherungspflichtig (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 AVG). Dies will offensichtlich der Kläger nicht bestreiten. Er meint nur, ab 1. Oktober 1959 sei S. als Rechtsanwalt in seinem Büro tätig und mithin selbständig gewesen; aus diesem Grunde entfalle die Versicherungspflicht und er - der Kläger - habe zu Unrecht Beiträge gezahlt.

Zwar ist die Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) vom 1. August 1959 (BGBl I 565) bereits am 1. Oktober 1959 in Kraft getreten (§ 237 BRAO), während S. erst am 4. Dezember 1959 seine Zulassung als Anwalt erhielt. Aber in der Zwischenzeit war S. wie ein Anwaltsassessor weiter beschäftigt und damit versicherungspflichtig (BSG aaO).

Auch nach der Zulassung des S. als Rechtsanwalt bestand weiterhin Versicherungspflicht. S. befand sich seit diesem Zeitpunkt beim Kläger in einem Beschäftigungsverhältnis (Angestellter in höherer Stellung, § 3 Abs. 1 Nr. 2 AVG) und war mithin versicherungspflichtig (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 AVG).

Nach allgemeiner Ansicht und feststehender Rechtsprechung ist wesentliches Merkmal für das Vorliegen eines Versicherungspflicht begründenden Beschäftigungsverhältnisses die persönliche Abhängigkeit, mit der die Weisungsbefugnis des Arbeitgebers bzw. die Einordnung in den Betrieb verbunden ist (vgl. ua BSG 21, 57, 58 mit weiteren Nachweisen; BSG vom 22. Juni 1966, SozR Nr. 4 zu § 2 AVG mit weiteren Nachweisen sowie BSG vom 24. November 1967, SozR Nr. 55 zu § 165 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Die Weisungsbefugnis kann allerdings - insbesondere bei Diensten höherer Art (§ 622 BGB) - stark eingeschränkt sein, soweit es die Ausführung der Arbeit betrifft. Es gibt sogar Verhältnisse, bei denen der Arbeitgeber keinen Einfluß auf die sachliche Ausführung der Tätigkeit des Arbeitnehmers hat (zB Chefarztvertrag). Aber auch in diesen Fällen ist die Dienstleistung des Arbeitnehmers "fremdbestimmt". Nur tritt hier das Direktionsrecht des Arbeitgebers in Form von ausdrücklichen Weisungen wenig in Erscheinung. Um so größeres Gewicht erhält dann das Merkmal der Eingliederung in einen übergeordneten Organismus für eine Abgrenzung zwischen abhängiger Tätigkeit und selbständigen Diensten (vgl. BSG 16, 289, 293, 294).

Nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen ergibt eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalles, daß hier auch für die Zeit, in der der Beigeladene S. als Rechtsanwalt bei dem Kläger tätig gewesen ist, ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis vorgelegen hat. Er hat auch über den 3. Dezember 1959 hinaus im gleichen Umfang für den Kläger gearbeitet wie als versicherungspflichtiger Anwaltsassessor. Er hatte zwar die volle Unterschriftsberechtigung und trug damit die Verantwortung für die von ihm unterschriebenen Schriftsätze, aber eine ähnliche Verantwortung trägt zB auch der Prokurist einer Firma. Den Schriftverkehr in eigenen Sachen hat er, obgleich er im Büro des Anwalts ein Zimmer hatte, nicht während der Dienstzeit erledigt, sondern nach Dienstschluß beim Kläger in seiner eigenen Wohnung abgewickelt. Er erhielt auch von dem Kläger die Akten zugewiesen, was bei einer Sozietät in der Regel nicht der Fall ist. Auch war er an Dienststunden gebunden. Er konnte also nicht seiner Tätigkeit ohne Einverständnis des Klägers fernbleiben, während der Kläger selbst, auch wenn die Dienststunden dem rechtsuchenden Publikum bekannt gegeben waren, diese nicht unbedingt einzuhalten brauchte, sondern sich durch S. vertreten lassen konnte. Soweit S. in eigenen Sachen tätig geworden ist, hat er die Termine nur im Einverständnis mit dem Kläger während der Arbeitszeit wahrgenommen, während ein selbständiger Rechtsanwalt, der in einer Sozietät arbeitet, für die Wahrnehmung von Terminen nicht des Einverständnisses der anderen Sozien bedarf. Er konnte mithin über seine Arbeitszeit nicht frei verfügen, auch nicht über den Ort seiner Tätigkeit. Er hat während der ganzen Zeit seine Arbeitskraft zumindest überwiegend dem Kläger zur Verfügung gestellt und daher fremdbestimmte Arbeit geleistet. Außerdem bezog S., ebenso wie zu der Zeit, als er noch Anwaltsassessor war, eine feste Vergütung. Mithin bestand Versicherungspflicht für die Zeit vom 1. Oktober 1959 bis 31. Mai 1961 zur Angestelltenversicherung und der Kläger hatte die Beiträge zu entrichten (§ 118 Abs. 1 AVG). Entsprechendes gilt für die Arbeitslosenversicherung (§ 56 Abs. 1 Nr. 2 AVAVG). Der Kläger kann daher die von ihm für die genannte Zeit geleisteten Beiträge nicht zurückfordern.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2284928

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