Entscheidungsstichwort (Thema)

Erziehungsgeldanspruch für Asylbewerber

 

Orientierungssatz

1. Gewöhnlicher Aufenthalt ist in § 1 BErzGG in dem in § 30 Abs 3 SGB 1 umschriebenen Sinne zu verstehen (vgl BSG vom 25.6.1987 - 11a REg 1/87 und BSG vom 16.12.1987 - 11a REg 3/87).

2. Asylbewerber können schon während des Asylverfahrens den gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben, wenn sie selbst im Falle eines negativen Ausgangs des Asylverfahrens aufgrund ihrer besonderen Situation nicht mit einer Abschiebung in ihre Heimat rechnen müssen.

3. Während des Anerkennungsverfahrens nach dem Asylrecht ist der Aufenthalt zwar rechtmäßig, jedoch nur zeitlich befristet und hat daher lediglich vorübergehenden Charakter. Er begründet deshalb nicht einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des Bundeserziehungsgeldgesetzes.

4. Türkische Staatsangehörige, die dem syrisch-orthodoxen Glauben zugehören und deren Aufenthalt geduldet wird, haben einen Anspruch auf Erziehungsgeld.

 

Normenkette

SGB 1 § 30 Abs 3 S 2; BErzGG § 1 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1985-12-06; AuslG § 14 Abs 1 S 1; AsylVfG §§ 19-20

 

Verfahrensgang

SG Augsburg (Entscheidung vom 28.01.1987; Aktenzeichen S 15 Eg 1/86)

 

Tatbestand

In dem Rechtsstreit geht es um die Frage, ob eine türkische Staatsangehörige, die als syrisch-orthodoxe Christin einen Asylantrag gestellt hat, vor dessen unanfechtbarer Erledigung den gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet iS des § 1 Abs 1 Nr 1 des Bundeserziehungsgeldgesetzes (BErzGG) haben kann.

Die im Jahr 1953 in der Türkei geborene Klägerin, türkische Staatsangehörige und syrisch-orthodoxe Christin, reiste im Mai 1985 in das Bundesgebiet ein und stellte im selben Monat einen Asylantrag, den sie mit Drangsalen wegen ihrer Zugehörigkeit zu dieser Religionsminderheit begründete. Die Stadt Augsburg gestattete ihr zur Durchführung des Asylverfahrens den Aufenthalt. Am 13. August 1985 heiratete die Klägerin den Türken A O und gebar am 14. April 1986 eine Tochter. Im November 1985 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag ab; hiergegen erhob die Klägerin Klage. Erziehungsgeld bewilligte das Versorgungsamt ihr nicht, der Widerspruch blieb erfolglos (Bescheid vom 22. April 1986, Widerspruchsbescheid vom 17. Juli 1986). Der Ehemann erhielt am 18. September 1986 die unbefristete Arbeitserlaubnis.

Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, der Klägerin ab 14. April 1986 Erziehungsgeld "dem Grunde nach" zu gewähren. Die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 BErzGG seien erfüllt, insbesondere habe die Klägerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet. Selbst im Falle eines negativen Ausgangs des Asylverfahrens müsse sie aufgrund ihrer besonderen Situation als türkische Christin nicht damit rechnen, in ihre Heimat abgeschoben zu werden.

Mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision meint der Beklagte, die Klägerin könne bis zum Abschluß des Asylverfahrens nur einen vorübergehenden Aufenthalt haben, deshalb habe sie auch nur eine befristete Aufenthaltsgestattung erhalten (Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum gewöhnlichen Aufenthalt von Asylbewerbern im Kindergeldrecht). Die vom BErzGG angestrebte Stärkung der Erziehungskraft der Familie komme dann nicht in Betracht, wenn der Aufenthalt eines Elternteils nicht gesichert sei.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist nicht begründet.

Rechtsgrundlage für den Anspruch der Klägerin ist § 1 Abs 1 BErzGG. Von den darin aufgeführten Tatbeständen ist, wie das SG ohne Rechtsfehler angenommen hat, allein strittig, ob die Klägerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes hat (§ 1 Abs 1 Nr 1 BErzGG). Dies ist entgegen dem Beklagten von der Geburt des Kindes am 14. April 1986 an bis zum 13. Februar 1987 der Fall; während dieser Zeit hatte die Klägerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Augsburg.

Nach § 30 Abs 3 Satz 2 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB 1) hat den gewöhnlichen Aufenthalt jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Das gilt auch, wie der Senat im Urteil vom 25. Juni 1987 - 11a REg 1/87 - (DVBl 1987, 1123; zur Veröffentlichung in BSGE und SozR bestimmt) sowie in einem weiteren Urteil vom heutigen Tage - 11a REg 3/87 - entschieden hat, für das BErzGG.

In dem Urteil vom 25. Juni 1987 hat der Senat ferner entschieden, daß in der Regel Asylbewerber keinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik haben, wozu er im einzelnen ausgeführt hat, daß als mit dem Aufenthalt verbundene Umstände (§ 30 Abs 3 Satz 2 SGB 1) alle - subjektive wie objektive, tatsächliche wie rechtliche, bestehende wie künftig zu erwartende - Umstände zu berücksichtigen seien, die für den nach der Vorschrift zu ziehenden Schluß im Einzelfall Aussagekraft hätten. Asylbewerbern werde der Aufenthalt in Deutschland nur zeitlich befristet und jedenfalls nicht über die Dauer des Asylverfahrens hinaus gestattet. Deshalb bleibe ungewiß, ob der Asylbewerber sich nach dem Ende des Asylverfahrens hier aufhalten dürfe. Es lasse sich sonach nicht erkennen, daß er hier nicht nur vorübergehend verweilt, wie dies § 30 Abs 3 Satz 2 SGB 1 voraussetzt. An dieser für den Regelfall vorgesehenen Beurteilung ist festzuhalten. Dabei hat der Senat allerdings berücksichtigt, daß jedenfalls die damalige Klägerin nicht zu einer Personengruppe zählte, deren Angehörige nach den Erkenntnisquellen zur Zeit der strittigen Erziehungsgeldbezugszeiten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch bei einem erfolglosen Ausgang des Asylverfahrens in Deutschland verbleiben durften. Die Klägerin des vorliegenden Rechtsstreits gehört dagegen einer solchen Personengruppe an.

Hier hat das SG, dessen Urteil zu einer Zeit ergangen ist, als das Asylverfahren sich im Verwaltungsprozeß befand und die Bezugsdauer für das Erziehungsgeld noch lief, zur mutmaßlichen Verweildauer der Klägerin ausgeführt, sie müsse selbst im Falle eines rechtskräftigen negativen Ausgangs des Asylverfahrens aufgrund ihrer besonderen Situation als türkische Christin nicht damit rechnen, in ihre Heimat abgeschoben zu werden. An diese Feststellung, die sich als tatsächliche Feststellung und nicht als Ergebnis einer rechtlichen Beurteilung durch das SG darstellt, ist der Senat gebunden, zumal gemäß § 161 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) eine Sprungrevision nicht auf Mängel des Verfahrens gestützt werden kann; die Rüge von Verfahrensmängeln bei dieser Feststellung ist dementsprechend auch nicht erhoben worden. Es kann dahingestellt bleiben, ob auch tatsächliche Feststellungen bindend wären, für die jede Grundlage fehlt, so daß sie als willkürlich gelten müßten. Denn bei der fraglichen Feststellung kann hiervon keine Rede sein.

Die Konferenz der Innenminister hat aufgrund eines am 1. März 1985 gefaßten Beschlusses der Regierungschefs des Bundes und der Länder zur aufenthalts- und asylrechtlichen Behandlung von türkischen Staatsangehörigen christlichen Glaubens Verfahrensgrundsätze erlassen (vgl zB den Erlaß des Hessischen Ministers des Innern vom 23. Dezember 1985, StAnz 1986, 168), die Härteregelungen für Türken christlicher Religionszugehörigkeit vorsehen. Sie kommen der Klägerin voll zugute, soweit der Einreisezeitpunkt nach Deutschland und andere darin aufgeführte Tatbestände in Rede stehen. Einzelne weitere Voraussetzungen mögen zwar bei Urteilserlaß eventuell noch ungeklärt gewesen sein; insoweit spielt indes ferner der Gesichtspunkt des Familiennachzuges zugunsten der Klägerin eine Rolle, sofern ihr Ehemann, der im September 1986 die unbefristete Arbeitserlaubnis erhalten hat, sich bis dahin mindestens ein Jahr rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, er auch die Lebenshaltungskosten der Familie tragen konnte und über eine angemessene Wohnung verfügte, was nach der Lage des Falles anzunehmen ist (vgl hierzu zB den Erlaß des Hessischen Ministers des Innern vom 13. Juli 1984, StAnz 1486).

Mußte die Klägerin jedoch "nach den Erkenntnissen zZt der Bezugszeiten des Erziehungsgeldes" (erkennender Senat aaO) nicht mit einer Abschiebung rechnen, dann waren die Voraussetzungen dafür gegeben, daß sie damals im Bundesgebiet nicht nur vorübergehend verweilte. Zwar war ihr aufgrund der §§ 19 Abs 1 und 20 Abs 3 Nr 3 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) der Aufenthalt nur befristet, für die Dauer des Asylverfahrens, gestattet. Diese Aufenthaltsgestattung allein könnte für den Ausschluß eines nur vorübergehenden Verweilens nicht ausreichen, wie der Senat aaO bereits dargelegt hat. Wenn aber die Klägerin während des Asylverfahrens die begründete Aussicht hatte, entweder als Asylberechtigte mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis (§ 29 Abs 1 AsylVfG) anerkannt oder nach den landesrechtlichen Verfahrensgrundsätzen auf Dauer im Bundesgebiet wenigstens geduldet zu werden, dann hatte sie in diesem Zeitraum einen Status inne, der einer Rechtsposition auf dauernden Aufenthalt praktisch gleichkam.

Hiernach war das angefochtene Urteil zu bestätigen; dies führte zur Zurückweisung der Revision.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663711

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