Entscheidungsstichwort (Thema)

Erhöhung der Rente bei Sachbezügen

 

Orientierungssatz

1. AnVNG Art 2 § 54 Abs 2 (= Art 2 § 55 Abs 2) fordert, daß der Versicherte während mindestens fünf Jahren für eine versicherungspflichtige Beschäftigung neben Barbezügen in wesentlichem Umfang Sachbezüge erhalten hat.

2. Die Auffassung, die Berücksichtigung von Zeiten der Zwangsarbeit bei der Rentenberechnung mit den Werten der Anlagen 1 und 5 zu § 22 FRG stehe einem während der Beschäftigung von Mai 1945 bis Juni 1950 erhaltenen Barbezug gleich oder sei ihm gleichzustellen, findet weder im Wortlaut des Gesetzes eine Stütze, noch steht sie mit Sinn und Zweck des Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG in Einklang.

3. Die entsprechende Anwendung von Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG im Blick auf nach dem FRG anzurechnende Zeiten erscheint problematisch, weil bei Versicherten, denen Beitragszeiten mit den Werten der Anlagen zu § 22 FRG gutgeschrieben werden, also die durchschnittlichen Bruttojahresarbeitsentgelte der Versicherten, die den einzelnen Leistungsgruppen der Anlage 1 zu § 22 FRG entsprechende Beschäftigungen in Westdeutschland und Berlin (West) ausgeübt haben, ein volles, um den Wert von Sachbezügen nicht gemindertes Entgelt berücksichtigt wird, so daß sie regelmäßig den Nachteil in der Rente nicht haben, den Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG ausgleichen soll.

 

Normenkette

ArVNG Art 2 § 55 Abs 2 Fassung: 1965-06-09; AnVNG Art 2 § 54 Abs 2 Fassung: 1965-06-09; FRG § 22 Abs 1 S 5

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 13.05.1988; Aktenzeichen L 1 An 33/87)

SG Stade (Entscheidung vom 20.01.1987; Aktenzeichen S 4 An 65/85)

 

Tatbestand

Streitig ist die Höhe des Altersruhegeldes.

Der 1920 in S       /Polen geborene Kläger ist anerkannter Vertriebener. Nach seiner Entlassung aus der Wehrmacht im Januar 1945 war er in russischer und polnischer Internierung. Von Mai 1945 bis Juni 1947 war er zur Arbeit bei einem polnischen Kaufmann in S       , anschließend bis Juni 1950 zu Feldarbeiten auf einem Staatsgut zwangsverpflichtet. Er erhielt jeweils Unterkunft und Verpflegung, ab Juni 1949 außerdem den Lohn eines Landarbeiters. Am 2. Juni 1950 wurde ihm die polnische Staatsangehörigkeit entzogen. Seit Juli 1950 lebt er in der Bundesrepublik Deutschland; hier hat er Beiträge zur Angestelltenversicherung entrichtet.

Die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) gewährte dem Kläger mit Bescheid 1) vom 6. März 1981 ab Januar 1981 Altersruhegeld (ARG), bei dessen Berechnung sie mit Bescheid 2) vom 24. Februar 1982 ab Januar 1981 unter Bezugnahme auf das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung (DPSVA) vom 9. Oktober 1975 (BGBl II 1976 S 396) die Zeit vom 9. Mai 1945 bis 30. Juni 1947 nach Maßgabe der Leistungsgruppe (LG) 3 der Anlage 1 A1 zu § 22 des Fremdrentengesetzes (FRG; Arbeiter außerhalb der Land- und Forstwirtschaft), die Zeit vom 1. Juli 1947 bis 30. Juni 1950 nach der LG 2 der Anlage 1 A2 zu § 22 FRG (Arbeiter in der Landwirtschaft) berücksichtigte.

Den Antrag des Klägers vom 24. Februar 1984, die vorgenannten Zeiten wegen Sachbezugs höher zu bewerten, lehnte die BfA mit dem insoweit streitigen Bescheid 3) vom 7. August 1984 - mit dem sie das ARG ab Januar 1981 mit höherem Zahlbetrag neu feststellte - ab, weil neben Sachbezügen kein Barentgelt gezahlt worden sei. Dem Begehren des Klägers gab die Beklagte auch in dem während des Widerspruchsverfahrens ergangenen (Neufeststellungs-)Bescheid 4) vom 12. Oktober 1984 und im Widerspruchsbescheid vom 14. Mai 1984 nicht statt.

Das Sozialgericht (SG) Stade hat die Klage durch Urteil vom 20. Januar 1987 abgewiesen, weil Art 2 § 55 Abs 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) für eine Anrechnung höherer Beitragswerte fünf Jahre des Nebeneinanders von Sachbezügen und Barentgelt voraussetze, der Kläger aber nur etwa für ein Jahr bar entgolten worden sei. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen durch Urteil vom 13. Mai 1988 das Urteil des SG und den Widerspruchsbescheid vom 14. Mai 1985 aufgehoben, die Bescheide 3) und 4) geändert und die Beklagte verurteilt, das ARG ab 1. Januar 1981 unter Berücksichtigung von Sachbezügen in der Zeit vom 9. Mai 1945 bis 30. Juni 1950 zu berechnen und die entsprechende Altersrente vom 1. Januar 1981 an zu zahlen. Das LSG hat ausgeführt: Die Voraussetzungen des § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB 10) seien gegeben, weil der Bescheid 3) rechtswidrig sei. Nach Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG müßten die jedenfalls für die Monate Juli 1947 bis Juni 1950 günstigeren Werte der Anlage 2 zu dieser Vorschrift zugrunde gelegt werden. Der Kläger habe für die Dauer der Zwangsarbeit ab Mai 1945 den Erhalt von Sachbezügen im wesentlichen Umfang, nämlich Kost und Unterkunft, glaubhaft gemacht. Er habe zwar erst ab Juni 1949 Lohn erhalten und vorher unentgeltlich arbeiten müssen. Die bei seinem ARG für die Zeit der Zwangsarbeit nach der Anlage 1 zu § 22 FRG angerechneten Arbeitsentgelte seien aber unter Berücksichtigung der Umstände dieses Falles "Barbezügen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung" iS des Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG gleichzustellen.

Die Beklagte rügt mit ihrer - vom LSG zugelassenen - Revision eine Verletzung des Art 2 § 54 Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG = Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG). Sie meint, die dem Kläger gewährten Sachbezüge hätten nicht zu einem Arbeitsentgelt gehört (Hinweis auf BSG SozR 5750 Art 2 § 55 Nr 1), sondern seien bloß Mittel zur Erhaltung der Arbeitskraft gewesen. Der Sinn des Gesetzes (dazu Hinweis auf BSG SozR Nrn 5, 6, 8 zu Art 2 § 54 AnVNG - gemeint: § 55 ArVNG) werde hier durch eine zusätzliche Berücksichtigung von Sachbezügen verfehlt.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung gegen das Urteil des SG Stade vom 20. Januar 1987 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten gegen das Urteil des LSG Niedersachsen vom 13. Mai 1988 zurückzuweisen.

Er hält das Urteil des LSG für zutreffend und trägt vor, es sei davon auszugehen, daß der ihm bei Beginn der Zwangsarbeit zustehende Lohn ganz, später (ab Juni 1949) zu 25 vH für den Wiederaufbau Warschaus einbehalten worden sei. Es entspreche dem Wesen der Zwangsarbeit, daß der Staat eigene Ansprüche mit dem Lohnanspruch des Zwangsarbeiters verrechne.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Entgegen der Ansicht des LSG hat das SG die Klage zu Recht abgewiesen.

Der Kläger begehrt, der Berechnung seines ARG Tabellenwerte nach den Anlagen zu Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG für die Zeit von Mai 1945 bis Juni 1950 zugrunde zu legen. Das hat die Beklagte mit den streitigen Bescheiden 3) und 4) abgelehnt. Offenbleiben kann, ob deren Rechtmäßigkeit nach § 44 SGB 10 oder nach den für einen Zweitbescheid geltenden Grundsätzen zu beurteilen ist. Dies ist fraglich, weil die streitigen Verwaltungsakte keinen Ausspruch darüber enthalten, ob und wieweit die früheren Bescheide 1) oder 2) zurückgenommen werden, weil bei ihrem Erlaß das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erwiesen hat, und deswegen Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind (§ 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10). Sie haben vielmehr das ARG des Klägers von Rentenbeginn an mit höherem Zahlbetrag umfassend, dh auch hinsichtlich Rentenart und Rentenbeginn, erneut festgestellt und dadurch die früheren Verwaltungsakte völlig ersetzt. Dies kann aber auf sich beruhen, weil - wie noch auszuführen ist - im Blick auf das Begehren des Klägers weder der Bescheid 2) im Zeitpunkt seines Erlasses (§ 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10) rechtswidrig gewesen ist noch die streitigen Bescheide unrichtig sind. Zu Recht hat nämlich die BfA für den og Zeitraum die Anlagen zu Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG nicht rentensteigernd berücksichtigt.

Nach Art 2 § 55 Abs 2 Buchst b) ArVNG (idF durch Art 2 § 1 Nr 11 des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 9. Juni 1965 - BGBl I S 476) sind, wenn glaubhaft gemacht wird, daß der Versicherte während mindestens fünf Jahren für eine versicherungspflichtige Beschäftigung neben Barbezügen in wesentlichem Umfang Sachbezüge erhalten hat, zur Ermittlung der für den Versicherten maßgeblichen Rentenbemessungsgrundlage (§ 32 AVG) für jeden Monat einer Beschäftigung für Zeiten vom 29. Juni 1942 an die Bruttojahresarbeitsentgelte der Tabellen der Anlage 2 zugrunde zu legen, wenn es für den Versicherten günstiger ist. Hier fehlt es für die streitige Zeit vom 9. Mai 1945 bis zum 30. Juni 1950 am fünfjährigen Erhalt von Barentgelt. Nach den nicht angegriffenen und daher bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) hat der Kläger erst ab Juni 1949 Lohn erhalten und vorher "unentgeltlich", dh im Zusammenhang: nur für "Kost und Unterkunft", gearbeitet. Es fehlen hiernach Barbezüge, die er neben Sachbezügen zumindest fünf Jahre erhalten haben muß, die ihm aber damals nur ab Juni 1949 wirklich gewährt worden sind. Schon deshalb ist nicht darauf einzugehen, weshalb ihm vor Juni 1949 Barentgelt nicht gezahlt worden ist, ob es sich überhaupt um Zeiten gehandelt hat, die nach Art 4 Abs 2 DPSVA iVm Art 2 Abs 1 des Gesetzes zum DPSVA vom 12. März 1976 (BGBl II S 393) in entsprechender Anwendung des FRG gutzuschreiben waren, obwohl sie nach polnischem Recht - wie das LSG in Anwendung nicht revisiblen Rechts (§ 162 SGG) für den Senat bindend festgestellt hat - nicht zu berücksichtigen sind, und ob Beschäftigungszeiten iS von § 16 FRG anzuerkennen sind, obwohl ein rentenversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis grundsätzlich nur auf freiwilliger Basis, nicht zwangsweise begründet werden kann.

Die Auffassung des LSG, die Berücksichtigung der Zeiten der Zwangsarbeit bei der Berechnung des ARG mit den Werten der Anlagen 1 und 5 zu § 22 FRG durch die BfA stehe einem während der Beschäftigung von Mai 1945 bis Juni 1950 erhaltenen Barbezug gleich oder sei ihm gleichzustellen, findet weder - was keiner Darlegung bedarf - im Wortlaut des Gesetzes eine Stütze, noch steht sie mit Sinn und Zweck des Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG in Einklang. Die Vorschrift bezweckt einen Ausgleich dafür, daß die in der Zeit bis zum 31. Dezember 1956 zu niedrig festgesetzten Sachbezugswerte die Höhe des versicherungspflichtigen Entgelts entscheidend beeinflussen und sich nachteilig auf die persönliche Bemessungsgrundlage (§ 32 AVG) derjenigen auswirken, die neben Barbezügen mindestens fünf Jahre lang in erheblichem Umfang Sachbezüge als Arbeitsentgelt erhalten haben. Sie soll allgemein die beitragsmäßige Unterbewertung von neben Barbezügen gewährten Sachbezügen ausgleichen (st Rspr: BSG SozR 5750 § 55 Nr 1; Nr 2; Nr 4 jew mwN). Dieser Nachteil kann dem Versicherten bei der Rentenfeststellung nicht entstehen, wenn er während der Beschäftigungszeit Barbezüge tatsächlich nicht erhalten hat, zumal derjenige versicherungsfrei ist, der als Entgelt für eine Beschäftigung, die nicht zur Berufsausbildung ausgeübt wird, nur freien Unterhalt erhält (§ 4 Abs 1 Nr 3 AVG = § 1228 Abs 1 Nr 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO). Aus Gründen des Eingliederungsprinzips sieht § 22 Abs 1 Satz 5 FRG die entsprechende Anwendung dieses Nachteilsausgleichs auch für Versicherte vor, die für eine Beschäftigung im Herkunftsgebiet fünf Jahre lang Barbezüge wirklich erhalten und daneben Sachbezüge in wesentlichem Umfang gehabt haben. Da diese Voraussetzung - wie ausgeführt - beim Kläger nicht erfüllt ist, bedarf es keiner Erörterung, von welchen Umständen eine entsprechende Anwendung von Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG im Blick auf nach dem FRG anzurechnende Zeiten abhängt. Dies erscheint problematisch, weil bei Versicherten, denen Beitragszeiten mit den Werten der Anlagen zu § 22 FRG gutgeschrieben werden, also die durchschnittlichen Bruttojahresarbeitsentgelte der Versicherten, die den einzelnen Leistungsgruppen der Anlage 1 zu § 22 FRG entsprechende Beschäftigungen in Westdeutschland und Berlin (West) ausgeübt haben, ein volles, um den Wert von Sachbezügen nicht gemindertes Entgelt berücksichtigt wird, so daß sie regelmäßig den Nachteil in der Rente nicht haben, den Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG ausgleichen soll.

Nach alledem war auf die begründete Revision der Beklagten das Urteil des LSG aufzuheben und die zutreffende Entscheidung des SG wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654808

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