Leitsatz (amtlich)

Versicherungspflichtig Beschäftigte in Betrieben, deren Inhaber nur Gastmitglieder einer Innung sind, sind nicht Mitglieder der IKK.

 

Leitsatz (redaktionell)

Die mit dem Wechsel der Mitgliedschaft zu der gesetzlich zuständigen KK verbundenen höheren Beitragsleistungen müssen wie jeder andere Pflichtversicherte auch Versicherte in Kauf nehmen, die über einen längeren Zeitraum bei einem unzuständigen Versicherungsträger versichert waren.

 

Normenkette

RVO § 225 Fassung: 1972-08-10, § 234 Fassung: 1972-08-10, §§ 250, 315 Fassung: 1924-12-15; HwO §§ 58-61, 66-67, 70

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 11.02.1977; Aktenzeichen L 1 Kr 44/75)

SG Lübeck (Entscheidung vom 21.03.1975; Aktenzeichen S 6 Kr 41/73)

 

Tenor

Die Revisionen der Beigeladenen zu 1) bis 65, 67) bis 72) und 74) bis 87) gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11. Februar 1977 werden zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die klagende Ortskrankenkasse oder die beklagte Innungskrankenkasse der für die gesetzliche Krankenversicherung der im Betrieb der Beigeladenen zu 1) versicherungspflichtig Beschäftigten zuständige Versicherungsträger ist.

Die Beigeladene zu 1) betreibt in N (Kreis S, Schleswig-Holstein) einen Kraftfahrzeughandwerksbetrieb. Der Mitinhaber, H B, ist seit dem 3. April 1957 in die Handwerksrolle der Handwerkskammer L eingetragen. Am 1. April 1960 wurde die Beigeladene zu 1) als Gastmitglied ohne Stimmrecht in die Innung für das Kraftfahrzeughandwerk H aufgenommen. Diese ist Trägerinnung der Beklagten. Ursprünglich waren die Arbeitnehmer der Beigeladenen zu 1) bei der AOK für den Kreis S, der Rechtsvorgängerin der Klägerin, versichert. Nachdem die Beigeladene zu 1) Gastmitglied der Kraftfahrzeuginnung H geworden war, meldete sie die bei ihr beschäftigten Arbeitnehmer bei der AOK ab und bei der Beklagten an. Der Kassenbezirk der Beklagten erstreckt sich entsprechend den Bezirken ihrer Trägerinnungen auf die Freie und Hansestadt H. Der Betrieb der Beigeladenen liegt nur wenig nördlich der H Stadtgrenze. Die AOK für den Kreis S richtete am 26. April 1960 ein Schreiben an die Innung des Kraftfahrzeughandwerks in H, in dem es ua heißt: "..., daß wir die Abmeldungen der Arbeitnehmer der Firma Gebrüder E ... per 1. 3. 60 wegen Übertritts zur Vereinigten Innungskrankenkasse der Freien und Hansestadt H anerkannt haben." Im Zuge der Gebietsreform in Schleswig-Holstein wurde am 1. Januar 1970 die Stadt N gegründet und dem Kreis S zugeschlagen. Die Klägerin wurde gleichzeitig Rechtsnachfolgerin der AOK für den Kreis S.

Das Sozialgericht (SG) Lübeck hat die Klage auf Feststellung ihrer Zuständigkeit und Verurteilung der Beklagten, die versicherungspflichtigen Arbeitnehmer der Beigeladenen zu 1) zu benennen und an die Beklagte zu verweisen, abgewiesen (Urteil vom 21. März 1975). Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat entsprechend dem im Berufungsverfahren eingeschränkten Antrag festgestellt, daß die Klägerin zuständige Versicherungsträgerin für die Krankenversicherung der im Betriebe der Beigeladenen zu 1) in N beschäftigten Arbeitnehmer ist. Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 11. Februar 1977).

Mit ihren Revisionen rügen die Beigeladenen zu 1) bis 65), 67) bis 72) und 74) bis 87) eine Verletzung des § 250 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Ihre Mitgliedschaft bei der Beklagten sei durchaus sachgerecht. Sie ergebe sich aus der Gastmitgliedschaft der Beigeladenen zu 1) bei der Kraftfahrzeuginnung H. Der Beschäftigungsbetrieb liege verkehrsmäßig wesentlich günstiger zu der Beklagten als zu der Klägerin in Bad Segeberg und auch die Beiträge der Beklagten seien niedriger als die der Klägerin. Die Beigeladenen hätten im übrigen auf jeden Fall auf den Bestand des seit 1960 bestehenden Rechtszustandes vertrauen können.

Die Beigeladenen zu 1) bis 65), 67) bis 72) und 74) bis 87) beantragen,

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revisionen zurückzuweisen.

Die Beklagte schließt sich den Anträgen der Beigeladenen an.

 

Entscheidungsgründe

Die Revisionen sind als unbegründet zurückzuweisen. Das LSG hat im Ergebnis zutreffend der zulässigen Feststellungsklage (§ 55 Abs 1 Nr 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) stattgegeben.

Der Beschäftigungsort der im Betrieb der Beigeladenen zu 1) versicherungspflichtig Beschäftigten ist N. Die Klägerin ist die hierfür örtlich zuständige Allgemeine Ortskrankenkasse. Diese Beschäftigten sind ihre Mitglieder, weil sie nicht in eine besondere Orts- oder eine Betriebs- oder eine Innungskrankenkasse, insbesondere nicht in die Beklagte gehören (§ 234 Abs 1 RVO). Die Feststellung des LSG betrifft nur die versicherungspflichtigen Beschäftigten der Beigeladenen zu 1). Das kommt allerdings nicht im Urteilsausspruch selbst zum Ausdruck, ergibt sich aber unmißverständlich aus den Urteilsgründen. Es bedurfte daher weder einer Änderung noch einer ausdrücklichen Klarstellung des Urteilsausspruchs. Solange die Beklagte allerdings Beiträge der Beschäftigten entgegennimmt, besteht für sie unter den weiteren Voraussetzungen des § 315 RVO eine sog Formalmitgliedschaft bei der Beklagten, die erst mit der schriftlichen Verweisung an die Klägerin endet (§ 315 letzter Satzteil RVO).

Eine Innungskrankenkasse (IKK) kann als Träger der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 225 Abs 1 RVO) von einer oder mehreren Innungen gemeinsam, deren Mitglieder in die Handwerksrolle eingetragen sind, für die der Innung angehörenden Betriebe ihrer Mitglieder mit Zustimmung des Gesellenausschusses errichtet werden (§ 250 Abs 1 Satz 1 RVO). Die in den Mitgliedsbetrieben versicherungspflichtig Beschäftigten sind Pflichtmitglieder der IKK (§ 250 Abs 2 Satz 1 RVO). Diese Voraussetzungen sind für die im Betrieb der Beigeladenen zu 1) Beschäftigten nicht erfüllt. Zwar ist der Mitinhaber H B in die Handwerksrolle der Handwerkskammer L eingetragen. Er ist aber nicht Mitglied einer Trägerinnung der Beklagten iS von § 250 RVO. Er gehört der Innung des Kraftfahrzeughandwerks, Sitz H, nicht als Mitglied (§ 58 der Handwerksordnung - HandwO -; § 5 der Satzung dieser Innung) sondern als Gastmitglied (§ 59 HandwO; § 14 der Satzung) an. Die Rechtsstellung eines Gastmitgliedes unterscheidet sich in der Innung von der eines Mitgliedes wesentlich dadurch, daß es an der Innungsversammlung (§ 61 HandwO, § 22 der Satzung) nur mit beratender Stimme teilnehmen kann (§ 59 Satz 3 HandwO, § 14 Abs 2 Satz 2 der Satzung). Einem Gastmitglied ist es also verwehrt, an der Willensbildung der Innung rechtswirksam teilzunehmen, und zwar weder unmittelbar bei den der Innungsversammlung vorbehaltenen Angelegenheiten noch mittelbar bei Beschlüssen des Vorstandes und der Ausschüsse (§§ 60, 66, 67 HandwO; §§ 21, 29, 35 der Satzung). Auch für die Wahl dieser von der Innungsversammlung zu wählenden Organe ist es nämlich nicht stimmberechtigt (§ 61 Abs 2 Nr 4 HandwO; § 22 Abs 2 Nr 4 der Satzung). Gastmitglieder einer Innung sind daher bei der Errichtung einer IKK (§ 250 Abs 1 RVO) nicht mit rechtswirksamem Stimmrecht beteiligt. Dasselbe gilt, wenn die Mitgliedschaft in der IKK bei der Vereinigung von Innungen für weitere Beschäftigte begründet wird (§ 250 Abs 1 a RVO), denn bei der Vereinigung von Innungen sind Gastmitglieder ebenfalls nicht stimmberechtigt. Bei der Errichtung einer IKK und der Erstreckung der Mitgliedschaft sind nicht nur die Innungsmitglieder beteiligt, sondern auch die Gesellenausschüsse der Innungen (§ 68 HandwO); sie müssen zustimmen (§ 250 Abs 1 und 1a RVO). Der Gesellenausschuß wird wiederum von den bei den Innungsmitgliedern beschäftigten Gesellen gewählt (§ 70 HandwO; § 55 Abs 1 der Satzung). Auch hierbei sind also Gesellen aus Betrieben von Gastmitgliedern der Innung nicht beteiligt. Schließlich ist der Kreis derjenigen, die als Gastmitglieder aufgenommen werden können, wesentlich größer als derjenige der Handwerker, für die die Innung gegründet worden ist. Nach § 59 Satz 1 HandwO ist eine Gastmitgliedschaft für Personen möglich, die dem Handwerk beruflich oder wirtschaftlich nahestehen (ebenso § 14 Abs 1 Satz 1 der Satzung). Da aber Gastmitglieder und die in deren Betrieben beschäftigten Gesellen bei der Errichtung einer IKK und deren weiterer Gestaltung nicht oder nur mit beratender Stimme mitwirken und Gastmitglieder auch Personen werden können die kein Handwerk betreiben, würde es dem Sinn und Zweck der Pflichtmitgliedschaft in einer IKK (§ 250 Abs 2 RVO) als einer Versichertengemeinschaft von in Handwerksbetrieben Beschäftigten, die in Innungen zusammengeschlossen sind, widersprechen, wenn auch in Betrieben von Gastmitgliedern versicherungspflichtig beschäftigte Pflichtmitglieder der IKK wären. Ob der Mitgliedschaft der bei der Beigeladenen zu 1) versicherungspflichtig Beschäftigten bei der Beklagten auch der Umstand entgegensteht, daß der Betrieb außerhalb des Bezirks der Beklagten liegt, worauf das LSG seine Entscheidung gestützt hat, braucht daher nicht entschieden zu werden.

Die Beigeladenen können sich für ihre Rechtsauffassung auch nicht erfolgreich auf das Schreiben der Rechtsvorgängerin der Klägerin, der AOK S vom 26. April 1960 berufen. Mit diesem Schreiben sind keine Rechtswirkungen zwischen den Beteiligten ausgelöst worden. Zunächst ist es weder an die Beklagte noch an die Beigeladene zu 1) oder an in deren Betrieb Beschäftigte gerichtet, sondern an die Innung des Kraftfahrzeughandwerks, Sitz H. Im übrigen handelt es sich nicht um einen Verwaltungsakt. In diesem Schreiben wird nichts ausdrücklich geregelt, sondern es wird von einer anderweitigen Regelung Kenntnis gegeben. Diese Regelung bezog sich nämlich, wie sich aus dem Inhalt des Schreibens ergibt, darauf, daß die Abmeldung der Arbeitnehmer wegen Übertritts zur IKK von der AOK S "anerkannt" worden war. Das bedeutet rechtlich, daß die AOK S damals nach eigener rechtlicher Prüfung zu der Überzeugung gelangt war, daß sie nicht der zuständige Versicherungsträger war, vielmehr dies allein die Beklagte sein sollte. Die in dem Schreiben erwähnten Abmeldungen der Arbeitnehmer sowie die Bezeichnung "Übertritt" lassen erkennen, daß die AOK S damals die Versicherten schriftlich an eine andere Kasse verwiesen hat (§ 315 RVO am Ende). Die Abmeldung und der Übertritt sind lediglich tatsächliche Folgerungen aus der Verweisung an die vermeintlich zuständige Kasse. Aus der damaligen Zuständigkeitsregelung zwischen der AOK S und der Beklagten sind jedoch gegenüber dem jetzigen Feststellungsbegehren keine rechtlichen Hindernisse zu entnehmen. Die Zuständigkeitsfrage mußte nach dem damaligen und nach dem jetzigen Recht vielmehr, wenn sich daraus Streit ergab - was jetzt der Fall ist - gerichtlich geklärt werden (§ 55 Abs 1 Nr 2 SGG). Der allgemeine Gedanke des Vertrauensschutzes rechtfertigt nicht die Aufrechterhaltung des objektiv-rechtswidrigen Zustandes einer dem Gesetz widersprechenden Pflichtmitgliedschaft bei einem unzuständigen Versicherungsträger (vgl im Ergebnis auch das Urteil des LSG Bremen vom 1. Dezember 1967 in Breith 1968, 376 ff). Die mit einem Wechsel der Mitgliedschaft zu der gesetzlich zuständigen Krankenkasse gegebenenfalls verbundenen Erschwernisse oder höheren Beitragsleistungen müssen die Versicherten ebenso in Kauf nehmen wie jeder andere Pflichtversicherte, der Pflichtmitglied einer gesetzlichen Krankenkasse ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 und 4 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 246

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