Leitsatz (amtlich)

Die Voraussetzung des AVG § 43 Abs 1 ( = RVO § 1266 Abs 1), "daß die Versicherte" den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat", ist nicht erfüllt, wenn die Eheleute dauernd getrennt gelebt haben und jeder Ehegatte seinen Lebensunterhalt selbst bestritten hat.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Voraussetzungen zum Bezug einer Witwerrente (AVG § 43 der Familie überwiegend bestritten hat, sind dann nicht als erfüllt anzusehen, wenn die Ehegemeinschaft als dauernd aufgehoben zu betrachten ist und die Ehegatten jeweils nur ihren eigenen Lebensunterhalt bestritten haben.

2. Bei Aufhebung der häuslichen und ehelichen Gemeinschaft entfällt ein "Unterhalt der Familie".

 

Normenkette

AVG § 43 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1266 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 19. April 1972 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der im Juli 1910 geborene Kläger begehrt eine Witwerrente; er war mit der Versicherten bis zu deren Tode am 12. Juli 1967 verheiratet; aus dieser Ehe entstammt eine im Oktober 1947 geborene Tochter. Die Familie lebte bis 1964 gemeinsam zuletzt in Bayern. Seit dem 2. Dezember 1964 war der Kläger in ... (...) mit zweitem Wohnsitz polizeilich gemeldet; seine Frau und seine Tochter blieben in Bayern. Für das Kalenderjahr 1965 wurden der Kläger und die Versicherte steuerlich gemeinsam veranlagt; die Lohnsteuerkarte der Versicherten für das Kalenderjahr 1966 enthielt die Steuerklasse II 1 (dauernd getrennt lebend); bei seinem Antrag auf Arbeitslosengeld gab der Kläger im April 1967 an, die Versicherte und er lebten getrennt.

In der Zeit vom 14. April 1966 bis 12. April 1967 betrug der Nettolohn des Klägers einschließlich Krankengeldzuschuß 7.999,13 DM; außerdem erhielt er in dieser Zeit bis zum Tode seiner Frau insgesamt 1.292,61 DM Kranken- und Hausgeld sowie 358,- DM Arbeitslosengeld. Im April 1968 beantragte er Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, die ihm mit Wirkung vom 1. April 1968 bewilligt wurde. Der begutachtende Arzt hielt ihn aus gesundheitlichen Gründen seit dem 17. Mai 1967 zu keinen Arbeiten mehr fähig.

Die Versicherte arbeitete bis zu ihrem Tode als Bilanzbuchhalterin; aus dieser Beschäftigung und mehreren Nebentätigkeiten bezog sie in der Zeit vom 1. April 1966 bis zum 12. Juli 1967 insgesamt netto 16.986,81 DM.

Den im Oktober 1968 gestellten Antrag des Klägers auf Witwerrente lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 12. Juni 1969 ab, weil bei getrennter Lebensführung nachzuweisen sei, daß die Versicherte den Ehemann aus ihrem höheren Verdienst wesentlich unterhalten habe; daran fehle es hier.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers mit Urteil vom 19. April 1972 zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Die Voraussetzungen des § 43 Abs. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) seien nicht erfüllt, weil die Versicherte den Unterhalt ihrer Familie während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes nicht überwiegend bestritten habe. Während dieser Zeit hätten der Kläger und die Versicherte dauernd getrennt gelebt und deshalb habe überhaupt keine Familie im Sinne des § 43 AVG bestanden. Bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals "Unterhalt der Familie" dürften die einschlägigen Vorschriften des bürgerlichen Rechts nicht außer acht gelassen werden. § 1360 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) verpflichte die Ehegatten untereinander, die Familie angemessen zu unterhalten; nach § 1360 a Abs. 1 BGB umfasse der angemessene Unterhalt der Familie alles, was nach den Verhältnissen der Ehegatten erforderlich sei, um die Kosten des Haushalts zu bestreiten und die persönlichen Bedürfnisse der Ehegatten und den Lebensbedarf der gemeinsamen unterhaltsberechtigten Kinder zu befriedigen. Mit der Trennung der Ehegatten entfalle indes der Familienunterhalt. An seine Stelle trete im Rahmen der Billigkeit der Unterhaltsanspruch des einen Ehegatten gegen den anderen (§ 1361 Abs. 1 Satz 1 BGB). Auch im Schrifttum werde als Voraussetzung der Witwerrente das Bestehen der Familieneinheit verlangt (Koch/Hartmann, AVG, 3. Aufl., § 43, Anm. B I 2; Verbandskomm., 6. Aufl., § 1266, Anm. 5). Es könne nicht Rechtens sein, einem Witwer, der von seiner Familie getrennt gelebt und dessen Ehefrau sich und die Kinder unterhalten habe, eine Witwerrente zuzusprechen, obwohl ihm zu Lebzeiten der Frau nur seine eigenen Einkünfte zur Verfügung gestanden hätten. Dagegen müsse § 43 Abs. 2 i. V. m. § 42 AVG auch für getrennt lebende Ehegatten gelten, weil ein Witwer nicht schlechter gestellt werden dürfe als der geschiedene Ehemann. Dem Kläger stehe aber auch hiernach kein Anspruch auf Witwerrente zu. Maßgebend sei die Zeit vom 14. April 1966, an dem der Kläger eine neue Arbeitsstelle angetreten habe, bis zum Tode der Versicherten. Veränderungen während dieses Zeitraumes seien allesamt nicht von Dauer oder unwesentlich gewesen. Zwar sei der Kläger seit dem 17. Mai 1967 erwerbsunfähig, seine stationäre Behandlung (vom 17. Mai bis 3. Juli 1967), während der er lediglich Hausgeld von der Krankenkasse bezogen habe, sei aber ihrer Natur nach vorübergehend gewesen, Rentner sei er erst im Jahre 1968 geworden. Bei den Einkommensverhältnissen des Klägers und der Versicherten habe er keinen Unterhaltsanspruch gegen die Versicherte gehabt, die mit ihrem höheren Einkommen auch noch die gemeinsame Tochter unterhalten habe. Mit durchschnittlich 643,- DM netto monatlich habe der Kläger ein seine Bedürfnisse ausreichend deckendes Einkommen gehabt. Dasselbe müsse gelten, wenn der letzte wirtschaftliche Dauerzustand nur die Zeit der Krankheit vom 17. Mai 1967 an umfasse; denn das Krankengeld habe je Wochentag 17,90 DM betragen, und während der stationären Behandlung seien ihm neben Behandlung und Verpflegung insgesamt 183,68 DM gezahlt worden. Die Versicherte habe dem Kläger auch nicht tatsächlich Unterhalt geleistet.

Das LSG hat die Revision zugelassen, weil es seine Ausführungen zur Auslegung des § 43 AVG für rechtsgrundsätzlich hält.

Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt mit dem Antrag,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen,

hilfsweise,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu verurteilen, ihm Witwerrente aus der Versicherung seiner verstorbenen Ehefrau zu gewähren.

Er rügt die Verletzung des § 43 Abs. 1 AVG, weil das LSG den Begriff der Familie in unzulässiger Weise eingeengt habe. Die Auffassung des Berufungsgerichts laufe darauf hinaus, daß die Sozialgerichte die Aufgaben eines Ehescheidungsrichters übernehmen müßten. Im übrigen habe der letzte wirtschaftliche Dauerzustand erst im März 1967 begonnen, da er seit dieser Zeit völlig arbeitsunfähig sei. Das müsse notfalls durch eine erneute amtsärztliche Untersuchung geklärt werden. Es komme nicht darauf an, wann ihm die Rente bewilligt, sondern wann er krankheitsbedingt erwerbsunfähig geworden sei.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und weist ergänzend darauf hin, daß der Kläger mit seinem substantiierten Vorbringen, es hätten Gründe für eine Scheidung der Ehe mit der Versicherten bestanden, in der Revisionsinstanz nicht mehr gehört werden könne. Die Richtigkeit dieser Behauptung sei ohnehin unerheblich, da sich in den Unterhaltsverhältnissen der Ehegatten vor einer Scheidung keine Änderung ergeben hätte.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist unbegründet. Dem Urteil des LSG ist im Ergebnis beizutreten.

Nach § 43 Abs. 1 AVG (= § 1266 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) erhält der Ehemann einer Versicherten nach deren Tod eine Witwerrente, wenn die Verstorbene den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat. Während welcher Zeit dies der Fall gewesen sein muß, ist dem Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmen. Die Rechtsprechung hält den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tod der Versicherten für maßgeblich. Bei der Beurteilung dieser Frage ist das LSG von den Verhältnissen in dem Zeitraum vom 14. April 1966 (Arbeitsaufnahme des Klägers) bis zum 12. Juli 1967 (Tod der Versicherten) ausgegangen. Ob das richtig ist oder statt dessen - wie der Kläger meint - der Zeitraum ab seiner Erwerbsunfähigkeit (März 1967) zugrunde zu legen ist, kann offen bleiben; denn, wie das LSG zutreffend angenommen hat, scheitert der Anspruch des Klägers auf Witwerrente schon daran, daß die Versicherte nicht "ihre Familie" überwiegend unterhalten hat, weil der Kläger nach den mit der Revision nicht angegriffenen und deshalb bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) seit 1966 von seiner Familie dauernd getrennt gelebt hat. Auch wenn er gleichwohl noch zur "Familie" gehört haben mag - dieser Begriff ist nirgends eindeutig festgelegt -, so ist doch jedenfalls Voraussetzung für die Gewährung einer Witwerrente nach § 43 Abs. 1 AVG, daß in der maßgeblichen Zeit eine Familieneinheit unter Einschluß des Ehemannes auch wirklich bestanden hat. Dabei ist es nicht entscheidend, ob die Ehegatten während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes auch dauernd in häuslicher Gemeinschaft gelebt haben (vgl. SozR Nr. 11 zu § 1266 RVO); nur muß während dieser Zeit die Familie als Einheit bestanden haben und von der Versicherten überwiegend unterhalten worden sein (vgl. Verbandskommentar, 6. Aufl., Anm. 5 zu § 1266).

Der in den §§ 1360 ff BGB gebrauchte Begriff "Unterhalt der Familie" gibt - wie das Bundessozialgericht (BSG) schon mehrfach entschieden hat - auch einen brauchbaren Maßstab für die Auslegung des gleichen Begriffs in § 43 Abs. 1 AVG (BSG 28, 185, 188, 189; SozR Nr. 4 zu § 1266 RVO). Wenn infolge dauernden Getrenntlebens der Ehegatten eine eheliche Gemeinschaft nicht mehr besteht, gibt es auch keinen Familienunterhalt im Sinne der §§ 1360, 1360 a BGB, denn dieser umfaßt die Bestreitung des gemeinsamen Bedarfs der einzelnen Familienmitglieder. Das LSG hat daher zutreffend unter entsprechender Anwendung des § 1361 BGB angenommen, daß dann, wenn - wie hier - der Ehemann der Versicherten unter dauernder Aufhebung der häuslichen und ehelichen Gemeinschaft für sich gelebt, seinen Lebensunterhalt selbst bestritten und zum Familienunterhalt nichts beigetragen hat, ein "Familienunterhalt" entfällt. In solchem Falle läßt sich die in § 43 Abs. 1 AVG enthaltene Voraussetzung, daß die Versicherte den Familienunterhalt überwiegend bestritten hat, überhaupt nicht erfüllen, weil es an der Möglichkeit fehlt, den gemeinsamen Bedarf der Familie (einschließlich der Kosten der Haushaltsführung) zu bestreiten. Auf die Gründe, die zum Getrenntleben der Ehegatten geführt haben, kommt es dabei nicht an. Nach der Ansicht des Senats war diese Auslegung dem Sinne des § 43 Abs. 1 AVG stets immanent, auch wenn die Rechtsprechung hierzu bisher noch nicht Stellung genommen hat (vgl. auch BSG 31, 91, 93 sowie Koch/Hartmann, AVG, 3. Aufl., Anm. B I 2 zu § 43). Es wäre wenig sinnvoll, nach dem Tod der Versicherten deren "Unterhalt der Familie" durch eine Witwerrente zu ersetzen, wenn ein gemeinsamer Lebensbedarf der Familie von ihr gar nicht befriedigt worden ist. Andernfalls käme einem Ehemann, der von seiner Familie dauernd getrennt gelebt hat, nach dem Tode der Versicherten zusätzlich noch zugute, daß ihre Haushaltsführung als Beitrag der Versicherten zum Familienunterhalt gewertet wird.

Der Gesetzgeber hat offenbar nicht bedacht, daß bei dauerndem Getrenntleben der Ehegatten die Tatbestandsvoraussetzung in § 43 Abs. 1 AVG "... den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat" nicht erfüllbar ist. Diese Lücke im Gesetz ist durch die Rechtsprechung zu schließen (BSG 6, 21); das ist durch ergänzende Rechtsfindung nach dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers auf zweierlei Art möglich, nämlich dadurch, daß angenommen wird, § 43 Abs. 1 AVG sei auch gegeben, wenn entweder die Ehefrau - entsprechend dem nur einseitigen Unterhaltsanspruch des § 1361 BGB und den Regelungen des Bundesversorgungsgesetzes und des Bundesentschädigungsgesetzes über die Voraussetzungen einer Witwerrente - den Ehemann (als Einzelperson) überwiegend unterhalten hat, oder wenn der Witwer sinngemäß die Bedingungen erfüllt, die bei einem geschiedenen Mann als Voraussetzung für eine "Geschiedenenwitwenrente" der früheren Frau nach § 43 Abs. 2 AVG vorliegen müssen. Diesen letzteren Weg ist das LSG gegangen; es hat gemeint, der getrennt lebende Mann dürfe jedenfalls nicht schlechter als der geschiedene Mann gestellt werden. Welcher Weg vorzuziehen ist, kann im vorliegenden Fall offen bleiben, weil nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG weder für die eine noch für die andere Möglichkeit die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind.

Das angefochtene Urteil ist somit zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß dem Kläger kein Anspruch auf Witwerrente zusteht. Dabei kann außer Betracht bleiben, daß das LSG nicht ausdrücklich festgestellt hat, ob bei der verstorbenen Ehefrau des Klägers die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (§ 40 Abs. 2 i. V. m. § 23 Abs. 3 AVG) überhaupt erfüllt gewesen sind. Unter diesen Umständen muß die Revision des Klägers zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1668971

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Kranken- und Pflegeversicherungs Office. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen