Leitsatz (amtlich)

Für die Rentenversicherung der Arbeiter wird an der Rechtsprechung festgehalten, daß eine tarifliche Verdienstsicherung grundsätzlich dem Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente nicht entgegensteht (vgl BSG vom 12.11.1980 1 RJ 104/79, BSG vom 11.3.1982 5b/5 RJ 166/80, BSG vom 14.7.1982 5a RKn 7/81, BSG vom 29.11.1984 5b RJ 46/84 und BSG vom 10.7.1985 5a RKn 18/84 = SozR 2200 § 1246 Nr 69, 88, 95, 124, 128).

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 21.07.1986; Aktenzeichen L 14 J 3/86)

SG Duisburg (Entscheidung vom 13.11.1985; Aktenzeichen S 7 J 265/83)

 

Tatbestand

Der 1933 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. Seit 1950 war er in einem Walzwerk beschäftigt, zunächst als Schmierer und als Reißer nach der Lohngruppe 4 des Lohnrahmentarifvertrages für die Eisen- und Stahlindustrie in Nordrhein-Westfalen. Von 1963 bis 1979 verrichtete er als Einsetzer vollwertig die Tätigkeiten eines Hüttenfacharbeiters und wurde nach der Lohngruppe 6 (Facharbeiter-Lohngruppe) entlohnt. Seit Februar 1979 ist er aus gesundheitlichen Gründen als handwerkliche Hilfskraft eingesetzt und in die Lohngruppe 3 eingestuft, erhält aber aufgrund einer tarifvertraglichen Lohnsicherung weiterhin den Lohn der Gruppe 6. Nach der tarifvertraglichen Regelung wird eine Berufsunfähigkeitsrente auf die Verdienstsicherung angerechnet.

Den 1982 gestellten Antrag auf Rente wegen Berufsunfähigkeit lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, der Kläger könne nach der medizinischen Beurteilung noch als Walzwerker arbeiten und erhalte im übrigen aufgrund der tarifvertraglichen Lohnsicherung für die Tätigkeit als handwerkliche Hilfskraft den vollen Facharbeiterlohn. Der Widerspruch blieb erfolglos (Bescheide vom 27. August 1982 und 30. August 1983).

Das Sozialgericht (SG) Duisburg hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. August 1982 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren, weil er nicht mehr als Einsetzer arbeiten könne (Urteil vom 13. November 1985). Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein- Westfalen hat die auf fehlende berufliche Betroffenheit infolge tarifvertraglicher Verdienstsicherung gestützte Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es hat sich der Rechtsauffassung des 1. und 5. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) angeschlossen, wonach eine tarifliche Verdienstsicherung das Vorliegen von Berufsunfähigkeit grundsätzlich nicht ausschließt. Es hat die Revision wegen der Rechtsprechung des 4. Senats des BSG zugelassen, die in bestimmten Fällen bei tariflicher Verdienstsicherung den Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente verneine (Urteil vom 21. Juli 1986).

Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1246 Abs 1 und 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des 4. Senats ist sie der Meinung, Berufsunfähigkeit des Klägers müsse wegen der tariflichen Verdienstsicherung in Höhe des früheren Lohnes verneint werden, weil der Kläger bei diesem Lohn selbst in der Lohngruppe 3 einen ihm zumutbaren Arbeitsplatz innehabe. Es dürfe auch nicht dem Arbeitgeber überlassen bleiben, durch Herabstufung des Arbeitnehmers in eine ihm von der Tätigkeit her nicht zumutbare Lohngruppe den Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente auszulösen, der - wegen Anrechnung dieser Rente auf die tarifliche Verdienstsicherung - letztlich dem Arbeitgeber zugute komme.

Die Beklagte beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen, weil das Berufungsgericht den Anspruch des Klägers auf Rente wegen Berufsunfähigkeit zu Recht bejaht hat.

Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger über 15 Jahre lang vollwertig die Arbeiten eines Hüttenfacharbeiters mit abgeschlossener Berufsausbildung verrichtete und auch als Facharbeiter tariflich entlohnt wurde. Es hat weiter festgestellt, daß der Kläger diese bis 1979 ausgeübte Facharbeitertätigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann und für ihn zumutbare Verweisungstätigkeiten nicht vorhanden sind. Schließlich hat das LSG festgestellt, daß es sich bei der vom Kläger anschließend ausgeübten Tätigkeit als handwerkliche Hilfskraft um eine ungelernte Tätigkeit handelt, für die lediglich eine "Anlernzeit" von einem Monat erforderlich ist. An diese Feststellungen des LSG ist der erkennende Senat gemäß § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gebunden, weil die Beklagte ihre zunächst erhobenen Verfahrensrügen in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich nicht mehr aufrecht erhalten hat. Unter Zugrundelegung der genannten Feststellungen des LSG ist der Kläger nach der ständigen Rechtsprechung des BSG berufsunfähig iS des § 1246 Abs 2 RVO (vgl das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des erkennenden Senats vom 30. September 1987 - 5b RJ 20/86 -mwN).

An diesem Ergebnis ändert sich auch bei Berücksichtigung der zugunsten des Klägers bestehenden tariflichen Verdienstsicherung nichts. Nach der für die ständige Rechtsprechung des BSG maßgebenden qualitativen Beurteilung des bisherigen Berufs und der Zumutbarkeit eines Verweisungsberufs iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO ist der tatsächlich gezahlte Lohn nicht rechtserheblich (vgl Urteil des 5. Senats in SozR Nr 103 zu § 1246 RVO, Urteil des 4. Senats vom 26. April 1977 - 4 RJ 96/76 -, Urteil des 1. Senats in SozR 2200 § 1246 Nr 69). Der erkennende Senat hat an dieser Rechtsprechung auch in den Fällen einer tariflichen Verdienstsicherung festgehalten und im Einklang mit dem Urteil des 1. Senats vom 12. Dezember 1980 (SozR 2200 § 1246 Nr 69) mehrmals entschieden, daß der Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente durch eine - die Rente anrechnende - tarifliche Verdienstsicherung nicht ausgeschlossen wird (vgl SozR aaO Nrn 88, 95, 124, 128). Er hat sich dabei insbesondere in seinem Urteil vom 29. November 1984 (SozR aaO Nr 124) mit der grundsätzlich gegenteiligen Rechtsauffassung des 4. Senats in dessen Entscheidungen vom 19. Januar 1979 und 19. März 1980 (SozR aaO Nrn 26 und 60) eingehend auseinandergesetzt und dargelegt, daß er sich der Rechtsprechung des 4. Senats nicht anschließen kann, zumal dieser seine Rechtsauffassung in einem weiteren Urteil vom 24. Juni 1982 (SozR aaO Nr 93) modifiziert und derjenigen des 1. und 5. Senats für bestimmte Fallgruppen der tariflichen Verdienstsicherung angeglichen hat.

Einer Anfrage beim 4. Senat und gegebenenfalls einer Anrufung des Großen Senats zur Klärung noch streitiger Einzelfragen bedarf es nicht, weil nach der seit dem 1. Januar 1988 geltenden Geschäftsverteilung des BSG der 4. Senat nicht mehr für Rechtsstreitigkeiten aus der Arbeiterrentenversicherung zuständig ist und er innerhalb seiner nunmehr gegebenen Zuständigkeit für die Rentenversicherung der Angestellten die im vorliegenden Fall zu entscheidende Rechtsfrage nicht entschieden hat. Sie ist - soweit ersichtlich - bisher für den Bereich der Angestelltenversicherung auch nicht entscheidungserheblich gewesen.

Das LSG hat somit im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats zutreffend die tarifliche Verdienstsicherung des Klägers für die Beurteilung der Frage seiner Berufsunfähigkeit außer Betracht gelassen. Insoweit geht auch der Hinweis der Beklagten fehl, es dürfe nicht dem Arbeitgeber überlassen werden, durch Herabstufung eines Versicherten aus einer gelernten in eine ungelernte Tätigkeit den Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit auszulösen. Denn diese Herabstufung ist hier nach den von der Revision nicht angefochtenen und deshalb für den Senat gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG aus gesundheitlichen Gründen notwendig geworden.

Die Revision der Beklagten kann daher keinen Erfolg haben und ist zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663723

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Kranken- und Pflegeversicherungs Office. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen