Orientierungssatz

Dem Gerichtshof der EG wird zur Vorabentscheidung folgende Frage vorgelegt:

Führt die Anwendung und Auslegung der Art 7 und Art 48 bis 51 EWGVtr sowie des Art 3 EWGV 1408/71 dazu, daß Versicherte, die gleichzeitig eine Rente nach innerstaatlichen Vorschriften und Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung eines anderen mitgliedstaatlichen Versicherungsträgers erhalten, bei der nach nationalen Vorschriften (hier: § 76 iVm § 75 RKG) vorzunehmenden Ruhensberechnung nicht schlechter gestellt werden dürfen, als Versicherte, die beide Leistungen nach innerstaatlichen Vorschriften beziehen?

 

Normenkette

EWGVtr Art. 7, 48 bis 51, Art. 48; EWGV 1408/71 Art. 3; RKG § 76a Abs. 2 S. 1 Fassung: 1982-12-20; RVO § 1279a Abs. 2 S. 1 Fassung: 1982-12-20, § 1278 Abs. 1; RKG § 75 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 04.06.1987; Aktenzeichen L 2 Kn 46/86)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob und inwieweit das Knappschaftsruhegeld (1. Mai 1983 bis 28. Februar 1986) des verstorbenen Ehemannes (Versicherter) der Klägerin wegen des Bezuges einer belgischen Unfallrente geruht hat.

Der Versicherte - italienischer Staatsbürger - hatte nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) von 1948 bis 1952 im belgischen Bergbau gearbeitet und bezog ab 1972 von dem für Berufskrankheiten zuständigen belgischen Versicherungsträger (FMP) eine Rente wegen Silikose. Diese wurde zuletzt seit 1977 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 56 vH und ab dem 1. Dezember 1983 nach einer MdE um 59 vH gewährt. Vom 1. Februar 1983 an erhielt der Versicherte auch eine belgische Altersrente. Dies hat nach belgischen Rechtsvorschriften zu einer Kürzung der Unfallrente geführt.

Aufgrund der in der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegten Versicherungszeiten bewilligte die Beklagte dem Versicherten am 14. Juni 1983 Knappschaftsruhegeld dem Grunde nach und stellte dieses mit Bescheid vom 6. Februar 1984 endgültig fest. Dabei rechnete die Beklagte bei der Ruhensberechnung die Brutto-Beträge der belgischen Unfallrente an und berücksichtigte einen dieser Leistung zugrundeliegenden Jahresarbeitsverdienst (JAV) nicht. Das Widerspruchsverfahren blieb erfolglos (Bescheid vom 30. Mai 1984). Mit den Neufeststellungsbescheiden vom 13. Dezember 1984 und 11. Oktober 1985 berechnete die Beklagte den Ruhensbetrag unter Berücksichtigung der gekürzten belgischen Unfallrente.

Im Laufe des Klageverfahrens ist der Versicherte verstorben. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Abänderung der entgegenstehenden Bescheide verurteilt, bei der Berechnung des dem Versicherten gewährten Knappschaftsruhegeldes die belgische Unfallrente unberücksichtigt zu lassen und der Klägerin und Sonderrechtsnachfolgerin die entsprechenden Leistungen zu gewähren (Urteil vom 10. April 1986).

Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG diese Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 4. Juni 1987). Es hat im wesentlichen ausgeführt: Die Beklagte habe zu Recht die Vorschriften der § 76a iVm § 75 RKG angewandt. Diese Ruhensvorschriften des innerstaatlichen deutschen Rechts würden nicht von höherrangigem EWG-Recht verdrängt oder überlagert. Art 12 Abs 2 EWG-VO Nr 1408/71 sei auf eine ausschließlich nach innerstaatlichem Recht gewährte Leistung, wie das hier strittige Knappschaftsruhegeld, nicht anwendbar. Diese Vorschrift hindere den nationalen Gesetzgeber nicht, das Ruhen einer solchen Leistung für den Fall anzuordnen, daß sie mit einer Leistung zusammentrifft, die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaates gewährt wird. Die Anordnung in § 76a Abs 2 Satz 1 RKG, bei ausländischen Unfallrenten einen JAV nicht festzustellen, verstoße auch nicht gegen das im EWG-Vertrag garantierte Recht auf Freizügigkeit. Es sei nicht ersichtlich, daß damit das Einreise- und Aufenthaltsrecht für Arbeitnehmer sowie das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt angetastet würde. Die mögliche leistungsrechtliche Benachteiligung sei kein für die Wahl des Beschäftigungsortes objektiv wesentlicher Gesichtspunkt. Auch ein mittelbarer Eingriff in die Freizügigkeit könne der Vorschrift des § 76a Abs 2 Satz 1 RKG nicht beigemessen werden, da damit Arbeitnehmer wirtschaftlich nicht genötigt wären, ausländische Arbeitsmärkte zu meiden. Ein Versicherter erhalte niemals weniger, als allein ohne Anwendung der Ruhensvorschriften aus den gesetzlichen Rentenversicherungen zu zahlen wäre. Auch sei ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des EWG-Vertrages nicht zu erkennen. Danach werde nur eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit ausgeschlossen. Die Vorschrift des § 76a Abs 2 Satz 1 RKG betreffe aber deutsche und ausländische Knappschaftsrentner gleichermaßen. Festzustellen sei auch kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 des Grundgesetzes (GG). Der Gesetzgeber habe auf dem Gebiet der gewährenden Staatstätigkeit eine weitreichende Gestaltungsfreiheit. Diese ende erst dort, wo sich kein vernünftiger, der Natur der Sache gemäßer Differenzierungsgrund mehr finden lasse. Diese Grenze sei nicht überschritten. Es sei ein sachlich vertretbarer Grund für die insoweit abweichende Behandlung der Bezieher ausländischer Unfallrenten, daß dabei ein JAV häufig nicht feststellbar sei. Schließlich habe die Beklagte der Ruhensberechnung auch zu Recht den Bruttobetrag der belgischen Unfallrente ohne Abzug von belgischen Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen zugrundegelegt. Mit der neuen Vorschrift des § 76a RKG lasse sich dagegen eine bloße Netto-Berücksichtigung ausländischer Unfallrenten nicht mehr vereinbaren. Diese seien durch § 76a RKG, abgesehen von den in Abs 2 bestimmten Besonderheiten, uneingeschränkt in die bisherigen Ruhensvorschriften integriert worden. Auch ausländische Unfallrenten seien deshalb wie deutsche Unfallrenten mit ihrem Gesamtbetrag anzusetzen. Darin liege ebenfalls kein Verstoß gegen Art 3 GG. Der allgemeine Gleichheitssatz gebiete nicht, eine Sonderbelastung nach belgischem Recht durch ein Mehr an Leistungen aus der deutschen Rentenversicherung wirtschaftlich zu kompensieren.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der Art 48 bis 51 des EWG-Vertrages, des Art 3 der EWG-VO Nr 1408/71 sowie des Art 3 Abs 1 GG. § 76a Abs 2 Satz 1 RKG sei mit diesen höherrangigen Vorschriften nicht vereinbar. Ausländische Unfallrenten müßten bei Anwendung der Ruhensvorschriften den Verletztenrenten nach innerstaatlichem Recht völlig gleichgestellt werden. Dies bedeute, daß auch für ausländische Unfallrenten ein JAV zur Berechnung des ruhensfreien Grenzbetrages ermittelt werden müsse. In der Regel sei der JAV höher als die persönliche Rentenbemessungsgrundlage. Die fehlende Feststellung des JAV nach § 76a Abs 2 Satz 1 RKG habe daher zur Folge, daß ausländische Unfallrenten ein stärkeres Ruhen der Knappschaftsrente bewirken würden. So könne eine ausländische Unfallrente zu einem vollständigen Ruhen der Knappschaftsrente führen. Bei der Gewährung einer deutschen Verletztenrente sei dies aus rechnerischen Gründen dagegen ausgeschlossen. Wanderarbeitnehmer mit in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft erworbenen Unfallrenten würden durch die Regelung des § 76a Abs 2 Satz 1 RKG somit diskriminiert. Dabei seien nach dem europäischen Gemeinschaftsrecht nicht nur offenkundige Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten, sondern auch alle verschleierten Formen, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu demselben Ergebnis führten. Daß bei ausländischen Unfallrenten häufig ein JAV nicht bekannt sei, rechtfertige die Diskriminierung nicht. Vielmehr könne aus dem in deutsche Währung umgewandelten Zahlbetrag mühelos ein fiktiver JAV errechnet werden. Für diese Berechnung müsse der JAV dabei aus der ungekürzten belgischen Brutto-Unfallrente ermittelt werden. In diesem Fall bestünden keine Bedenken, der Ruhensberechnung selbst den Brutto-Betrag der Unfallrente zugrundezulegen. Der Ausschluß einer Alternativberechnung bei ausländischen Unfallrenten sei willkürlich und verstoße so auch gegen Art 3 Abs 1 GG.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 4. Juni 1987 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 10. April 1986 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Insbesondere bewirke § 76a Abs 2 Satz 1 RKG keine Diskriminierung von Wanderarbeitnehmern. Anknüpfungspunkt sei allein der Bezug einer Unfallrente, die von einem ausländischen Träger gezahlt werde. Auf die Staatsangehörigkeit komme es dabei nicht an. Es sei auch nicht ersichtlich, daß der Ruhenstatbestand in der Person eines ausländischen Versicherten leichter zu erfüllen sei, als bei einem Inländer.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat ruft den Europäischen Gerichtshof gemäß Art 177 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag) zur Vorabentscheidung an über die Auslegung der Art 7 und 48 bis 51 des EWG-Vertrages sowie des Art 3 der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern.

Die Anwendung und Auslegung dieser Vorschriften des europäischen Gemeinschaftsrechts ist für die Entscheidung über den anhängigen Rechtsstreit erheblich. Die zulässige Revision der Klägerin wäre zumindest teilweise begründet, wenn die genannten gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen im vorliegenden Fall dahingehend anzuwenden wären, daß die Beklagte im Rahmen der nach § 76a iVm § 75 RKG durchzuführenden Ruhensberechnung einen der belgischen Unfallrente zugrundeliegenden JAV feststellen und entsprechend berücksichtigen müßte.

Der Anwendung von nationalen Ruhensbestimmungen (§ 75 RKG; vgl auch die entsprechenden Vorschriften der §§ 1278 Reichsversicherungsordnung -RVO- und 55 Angestelltenversicherungsgesetz -AVG-) beim Bezug von ausländischen Unfallrenten stehen grundsätzlich keine rechtlichen Bedenken entgegen. Nach § 76a Abs 1 RKG (ebenso § 1279a RVO und § 56a AVG) sind die Vorschriften über das Zusammentreffen einer Rente mit einer Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung auch anzuwenden, wenn eine Rente bei einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit von einem Träger geleistet wird, der seinen Sitz außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes hat. Vor dem Inkrafttreten dieser Vorschrift war eine bundesdeutsche Regelung zur Anrechnung von ausländischen Unfallrenten nicht vorhanden. § 75 RKG rechtfertigte nur das teilweise Ruhen einer knappschaftlichen Rente beim Zusammentreffen mit einer Verletztenrente aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung (vgl BSG SozR 2200 § 1278 Nr 9). Eine Anrechnung von Leistungen aus anderen Mitgliedstaaten der EWG konnte jedoch unter Umständen nach Art 12 Abs 2 EWG-VO Nr 1408/71 erfolgen. Danach sind die für den Fall des Zusammentreffens mehrerer Leistungen vorgesehenen innerstaatlichen Ruhensvorschriften auch dann anwendbar, wenn es sich um Leistungen handelt, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates erworben wurden (vgl BSG aaO). Der Europäische Gerichtshof (Urteil vom 12. September 1983, EuGHE 1983, 2603 = SozR 6050 Art 12 Nr 12) hat dabei diese Bestimmung ua so ausgelegt, daß sie das Ruhen einer Leistung allein nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates auch dann ausschließt, wenn die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates erworbene Leistung, die bei der Kürzung anzurechnen ist, in Anwendung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen festgestellt worden ist und der zuständige Träger des ersten Mitgliedstaates zu ihrer Finanzierung beiträgt. Mit dem rein nationalen Kumulierungsverbot in § 75 RKG war damit die Ausdehnung auf Unfallrenten anderer Mitgliedstaaten durch Art 12 Abs 2 EWG-VO Nr 1408/71 nur eingeschränkt möglich. Seit der durch das Haushaltsbegleitgesetz 1983 mit Wirkung ab 1. Januar 1983 eingefügten Vorschrift des § 76a RKG ist die Anwendung der nationalen Antikumulierungsvorschriften auf Leistungen eines Trägers außerhalb der Bundesrepublik ausgedehnt worden. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zur früheren Rechtslage kann das nur bedeuten, daß die Anwendung der Vorschrift des § 76a RKG jedenfalls dann grundsätzlich zulässig ist, wenn der Rentenanspruch - wie im vorliegenden Fall - allein nach den bundesdeutschen Rechtsvorschriften erworben ist (vgl Pompe, Leistungen der sozialen Sicherheit bei Alter und Invalidität für Wanderarbeitnehmer nach Europäischem Gemeinschaftsrecht, S 238).

Zu prüfen bleibt, ob die Regelung über die Art und Weise der Ruhensberechnung in § 76a Abs 2 Satz 1 RKG mit höherrangigem Recht vereinbar ist. Nach dieser Bestimmung ist bei einer von einem Träger außerhalb des Geltungsbereiches dieses Gesetzes geleisteten Rente ein JAV nicht festzustellen. Durch die Anwendung dieser Vorschrift können Rentenbezieher, die Leistungen aus der Unfallversicherung eines nicht-deutschen Trägers erhalten, nicht unerhebliche Nachteile erfahren. Bei einem rein nationalen Zusammentreffen einer Knappschaftsrente mit einer Verletztenrente ist gemäß § 75 Abs 1 RKG der Höchstbetrag, den beide Leistungen zusammen nicht übersteigen dürfen, alternativ der Rentenbemessungsgrundlage oder dem JAV, der der Berechnung der Verletztenrente zugrundeliegt, zu entnehmen. Beim Bezug einer ausländischen Unfallrente ist dagegen als Höchstbetrag immer allein die maßgebliche Rentenbemessungsgrundlage heranzuziehen. Dies kann in vielen Fällen - so auch in der vorliegenden Streitsache - zu einer Benachteiligung bei Versicherten führen, die eine ausländische Unfallrente beziehen. Die gesetzliche Regelung in § 76a Abs 2 Satz 1 RKG ist daher sowohl im Hinblick auf Art 3 GG als auch im Hinblick auf Vorschriften des europäischen Gemeinschaftsrechts nicht unbedenklich.

Die Regelung verstößt nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 3 GG. Aus dieser Verfassungsnorm folgt das Verbot, wesentlich Gleiches willkürlich ungleich und wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu behandeln (BVerfGE 3, 58, 135). Willkür liegt dabei vor, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie einleuchtender Grund für die Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt (vgl zB BVerfGE 1, 10, 52; 51, 43, 76). Dabei genügt Willkür im objektiven Sinn, dh die tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit der Regelung in Bezug auf den zu ordnenden Gesetzgebungstatbestand (vgl BVerfGE 2, 266, 281; 4, 144, 155). Dem Gesetzgeber verbleibt hierbei aber ein weiter Gestaltungsspielraum. Dessen Grenzen sind erst überschritten, wenn für die vom Gesetzgeber getroffene Differenzierung sachlich einleuchtende Gründe schlechterdings nicht mehr erkennbar sind (vgl BVerfGE 69, 150, 160 mwN). Als Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung kommt dabei auch dem Gesichtspunkt der Verwaltungspraktikabilität Bedeutung zu. Dies darf aber nur in besonders gelagerten Fällen zu Ungleichheiten führen. Insbesondere eine stärkere Belastung ganzer Gruppen kann das Maß des verfassungsrechtlich zulässigen überschreiten (BVerfGE 44, 283, 288 mwN). Die hier vorliegende Regelung in § 76a Abs 2 Satz 1 RKG hat der Gesetzgeber damit gerechtfertigt, daß ein JAV bei ausländischen Unfallrenten häufig nicht feststellbar wäre (Deutscher Bundestag, Drucks 9/2140 S 104). Ob dieser allein erkennbare Zweck der Verwaltungsvereinfachung die vorgenommene Ungleichbehandlung stützt, ist zumindest zweifelhaft. Zu beachten ist aber, daß der Bezug einer ausländischen Unfallrente im Vergleich zu einer rein innerdeutschen Leistung ein sachliches Differenzierungskriterium darstellt. Ausländische Verletztenrenten werden nicht immer nach einem JAV berechnet. Auch könnten sich bei der Umrechnung der ausländischen Währungsbeträge Schwierigkeiten ergeben. Diese Gesichtspunkte rechtfertigen die unterschiedliche Behandlung.

Die Regelung in § 76a Abs 2 Satz 1 RKG könnte gegen den in den Art 7, 48 bis 51 EWG-Vertrag sowie in Art 3 EWG-VO Nr 1408/71 enthaltenen Grundsatz der Gleichbehandlung und Freizügigkeit und damit gegen Normen des Gemeinschaftsrechts verstoßen. Diese Grundsätze gehören zu den tragenden Grundprinzipien des europäischen Rechts und verbieten nicht nur die offenkundige Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit der aus den Systemen der sozialen Sicherheit leistungsberechtigten Personen, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch Anwendung anderer Unterscheidungskriterien tatsächlich zum gleichen Ergebnis führen (EuGHE 1979, S 2645 ff, 2653). Mit der Gleichbehandlung soll das Ziel erreicht werden, die Freizügigkeit durch Abschaffung von Diskriminierungen herzustellen (EuGHE 1967, 239 ff, 250). Die Vorschrift des § 76a Abs 2 Satz 1 RKG hat dagegen - wie bereits dargelegt - im Einzelfalle einer Benachteiligung von Wanderarbeitnehmern zur Folge. Wer eine deutsche Knappschaftsrente bezieht und gleichzeitig eine Unfallrente aus einem anderen Mitgliedstaat erhält, kann unter bestimmten rechnerischen Voraussetzungen - wie der Kläger - gegenüber einem Versicherten, der beide Rentenleistungen von einem deutschen Versicherungsträger bezieht, benachteiligt werden. Dagegen läßt sich mit der Beklagten einwenden, daß die Vorschrift des § 76a Abs 2 Satz 1 RKG kein für die Wahl des Beschäftigungsortes objektiv wesentlicher Gesichtspunkt ist, da ein wirtschaftlicher Zwang nicht ausgeübt wird. Das Ruhen führt niemals dazu, daß ein Versicherter insgesamt weniger erhält, als ohne Anwendung der Ruhensvorschriften allein aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu zahlen ist (vgl § 75 Abs 1 Satz 3 RKG). Auch sind von § 76a Abs 2 Satz 1 RKG alle Wanderarbeitnehmer ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit betroffen.

Da die obige Frage nicht zweifelsfrei beantwortet werden kann, sieht sich der Senat gezwungen, den Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung anzurufen.

Bei seinen Überlegungen geht der Senat davon aus, daß den angeführten Normen des europäischen Gemeinschaftsrechts Vorrang vor den bundesdeutschen einfachen Gesetzen zuerkannt werden muß. Dies ergibt sich aus der Autonomie und der unmittelbaren Wirksamkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung unter Hinzuziehung des Grundsatzes der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft. Weiterhin wird dies durch Art 189 EWG-Vertrag bestätigt. Danach hat auch eine Verordnung des Gemeinschaftsrechts allgemeine Geltung, ist verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat (vgl EuGHE 1964, 1251, 1269 ff; 1971, 1039, 1049; 1972, 89, 96; vgl dazu auch Alternativkommentar zum GG - Zuleeg Art 24 Abs 1 Rz 38 ff; Bonner Kommentar zum GG, Art 24, Rz 75 f; von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Handbuch des europäischen Rechts, Art 189, Rz 18 ff; Grabert, Kommentar zum EWG-Vertrag, Art 189, Rz 26 ff). Auch das BVerfG hat diese Vorrangstellung gegenüber einfachen Gesetzen grundsätzlich anerkannt (vgl BVerfGE 31, 145, 174). Folglich können auch allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, soweit es ihre Auslegung gebietet, unmittelbaren Einfluß auf innerstaatliche Regelungen ausüben. Dies jedenfalls insoweit, als davon - wie im vorliegenden Fall - Arbeitnehmer betroffen sind, die Leistungen aus mehreren Mitgliedstaaten beziehen.

Würde somit das europäische Gemeinschaftsrecht die Anwendung des § 76a Abs 2 Satz 1 RKG in der vorliegenden Streitsache überlagern, so müßte § 75 Abs 1 RKG ohne Einschränkung auch beim Bezug einer ausländischen Unfallrente angewandt werden. Dies würde bedeuten, daß der JAV, welcher der Berechnung der belgischen Unfallrente des Versicherten zugrundeliegt, bei der Anwendung von § 75 Abs 1 RKG berücksichtigt werden müßte. Die Höhe dieses JAV wurde vom LSG allerdings nicht festgestellt und läßt sich auch aus den Akten nicht ohne weiteres entnehmen. Ob die Knappschaftsrente des Versicherten ohne die Anwendung von § 76a Abs 2 Satz 1 RKG nur in einem geringeren Maße ruhen würde, läßt sich daher noch nicht zweifelsfrei beantworten. Die oben herausgestellte Frage ist jedoch in jedem Fall für den Senat entscheidungserheblich und zwingt zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof, da einerseits die Revision jedenfalls insoweit zurückzuweisen wäre und andererseits eine Aufhebung des Urteils des LSG und eine Zurückverweisung zur weiteren Tatsachenfeststellung ausgesprochen werden müßten. Dies gilt unabhängig davon, ob die belgische Unfallrente mit dem Brutto- oder Nettobetrag bei der Rentenberechnung anzusetzen ist. Diese Frage bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI15796830

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