Entscheidungsstichwort (Thema)

Notwendige Beiladung immatrikulierter wissenschaftlicher Hilfskräfte

 

Orientierungssatz

1. Mit der Entscheidung der Einzugsstelle nach § 121 Abs 3 AVG (§ 1399 Abs 3 RVO) über die Beitragshöhe wird stets auch über die Beitragspflicht und über die Versicherungspflicht entschieden. Die Frage der Versicherungspflicht ist hierbei nicht lediglich eine rechtliche Vorfrage.

2. In einem Rechtsstreit über die Versicherungspflicht immatrikulierter Personen, die als wissenschaftliche Hilfskräfte und Stellenverwalter bei einer Universität eine entgeltliche Beschäftigung ausüben, sind diese Personen notwendig beizuladen.

3. Eine notwendige Beiladung kann nicht aus dem Grund unterbleiben, daß der Aufenthalt einer großen Anzahl beizuladender Personen (hier 645) ermittelt werden müßte, da selbst wenn einige Personen nicht auffindbar sein sollten, die Möglichkeit der Trennung des Verfahrens oder der öffentlichen Zustellung des Beiladungsbeschlusses besteht.

 

Normenkette

SGG § 75 Abs 2 Fassung: 1953-09-03; AVG § 2 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1227 Abs 1 S 1 Nr 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 4 Abs 1 Nr 4 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1228 Abs 1 Nr 3 Fassung: 1957-02-23; AVG § 121 Abs 3 Halbs 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1399 Abs 3 Halbs 1 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 20.06.1980; Aktenzeichen L 4 Kr 1022/77)

SG Mannheim (Entscheidung vom 15.03.1977; Aktenzeichen S 7 Kr 805/75)

 

Tatbestand

Der Rechtsstreit wird um die Frage geführt, ob für 645 entgeltlich beschäftigte wissenschaftliche Hilfskräfte und Verwalter von Assistentenstellen der Universität H, die nach Ablegung der Abschlußprüfungen weiter als ordentliche Studierende immatrikuliert blieben, Versicherungspflicht in der Rentenversicherung der Angestellten bestand und ob deshalb das klagende Land für die Zeit vom 1. Dezember 1964 bis 30. September 1967 Beiträge in Höhe von 451.378,08 DM schuldet.

Nach vorausgegangenem längerem Schriftwechsel zwischen der Beklagten, der Universität H und der beigeladenen Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) holte die Beklagte am 25. November 1966 zu der von ihr für grundsätzlich gehaltenen Rechtsfrage, ob Personen, die nach der Diplomprüfung zum Zwecke der Promotion weiterhin immatrikuliert seien und nebenbei als wissenschaftliche Hilfskräfte bei der Universität eine entgeltliche Beschäftigung ausübten, rentenversicherungspflichtig oder versicherungsfrei seien, eine Erklärung gemäß § 121 Abs 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) von der BfA ein. Mit Schreiben vom 16. Februar 1967 teilte sie unter der Überschrift "Rentenversicherungspflicht von Doktoranden/Wissenschaftliche Hilfskräfte etc, hier: Versicherungsfreiheit gemäß § 4 Abs 1 Nr 4 AnVNG" (= richtig: AVG) eine (die Versicherungspflicht des genannten Personenkreises ab 1. Januar 1964 entgegen der bis dahin vertretenen Auffassung bejahende) Erklärung der BfA vom 6. Januar 1967 der Universitätskasse H mit und forderte diese auf, für den infrage stehenden Personenkreis rückwirkend ab 1. Januar 1964 die entsprechenden Meldungen zur Beitragsgruppe "L" zu erstatten, die Beiträge nachzuweisen und an sie abzuführen. Die Universitätskasse erhob mit Schreiben vom 17. Februar 1964 Widerspruch "gegen die Entscheidung der BfA" und bat, die Entscheidung über den Widerspruch vorerst auszusetzen. Am 22. Dezember 1967 übersandte die Beklagte der Universitätskasse H zwei Mitteilungen über die Nacherhebung von Beiträgen in Höhe von 459.836,13 DM und 4.899,08 DM. Als Anlagen waren über den höheren Betrag eine Beitragsberechnung vom 21. Dezember 1967 und über den niedrigeren Betrag ein Nachtrag zu dieser Rechnung vom 22. Dezember 1967 beigefügt. Zusätzlich waren in einer Aufstellung insgesamt 645 Personen mit ihrem Namen, der Beschäftigungsdauer, soweit sie in die Zeit vom 1. Dezember 1964 bis 30. September 19ö7 fiel, und - fast ausnahmslos - dem Bruttoverdienst aufgeführt, aus dem die Beklagte die Beiträge zur Angestelltenversicherung (damals 14 %) errechnet hatte.

Dem Widerspruch half die Beklagte nicht ab: Der Bescheid vom 16. Februar 1967 und der Beitragsbescheid vom 21. Dezember 1967 - dieser dem Grunde nach - seien wegen der Beitragsforderung ab Dezember 1964 nicht zu beanstanden (Widerspruchsbescheid vom 24. April 1975). Die Klage blieb allenfalls erfolglos (Urteil des Sozialgerichts -SG- Mannheim vom 15. März 1977). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg das Urteil des SG abgeändert und die Bescheide der Beklagten vom 16. Februar 1967 und 22. Dezember 1967 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. April 1975 aufgehoben, soweit Beiträge für die Zeit vor dem 1. März 1967 verlangt werden. Im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 20. Juni 1980). Das LSG hat das Land Baden-Württemberg - wie schon das SG - auf Grund des im Wege der Klageänderung vorgenommenen Parteiwechsels als Kläger betrachtet. In den Mitteilungen der Beklagten vom 16. Februar 1967 und 22. Dezember 1967 hat es trotz Fehlens einiger typischer Merkmale Verwaltungsakte gesehen, die mit hinreichender Deutlichkeit erkennen ließen, daß die Beklagte für die immatrikulierten wissenschaftlichen Hilfskräfte und Stellenverwalter Beiträge verlangt habe. Die Beiladung dieser Personen hat das LSG nicht für erforderlich gehalten und zur Begründung hierzu ausgeführt, die Beklagte habe in ihrem Bescheid vom 16. Februar 1967 nach wörtlicher Wiedergabe der Stellungnahme der beigeladenen BfA darum gebeten, für den infrage stehenden Personenkreis Meldungen zu erstatten, die Beiträge nachzuweisen und an sie, die Beklagte, abzuführen. Damit und durch ihre weiteren Bescheide vom 22. Dezember 1967 habe sie zu erkennen gegeben, daß es ihr auf die Entrichtung der Beiträge angekommen sei und die Frage der Versicherungspflicht oder -freiheit nur eine - wenn auch rechtlich erhebliche - Vorfrage sei. Unter diesen Umständen sei eine Beiladung der Betroffenen aus denselben Gründen entbehrlich wie im Urteil des BSG vom 10. September 1975 - 3/12 RK 15/74 -. Im übrigen wäre eine Beiladung heute nicht mehr durchführbar. Etwa 640 Personen, darunter offenbar Ausländer, auch aus außereuropäischen Staaten, die vor etwa 13 bis 15 Jahren nach bestandenem Examen noch für kurze Zeit Hilfskräfte oder Stellenverwalter an der Universität H gewesen seien, würden sich erfahrungsgemäß heute nicht mehr ermitteln und laden lassen. Eine notwendige Beiladung in Versicherungspflicht-Streitigkeiten könne in so extremen Fällen unter Umständen an praktischen Hindernissen ihre Grenze finden.

In der Sache hat das LSG entschieden, daß die immatrikulierten wissenschaftlichen Hilfskräfte und Stellenverwalter als gegen Entgelt beschäftigte Angestellte nach § 2 Abs 1 Nr 1 AVG versicherungspflichtig gewesen seien. Die Voraussetzung der Versicherungsfreiheit nach § 4 Abs 1 Nr 4 AVG habe nicht vorgelegen, weil nach dem ersten Studienabschluß (Diplomprüfung oder Staatsexamen oder Promotion) ein "ordentliches Studium" iS dieser Vorschrift nicht mehr habe angenommen werden können. Auch nach anderen Vorschriften habe Versicherungsfreiheit nicht bestanden. Dennoch könne die Beklagte Beiträge für die Zeit vor dem 1. März 1967 nicht mehr fordern. Dem stehe ihre Mitteilung vom 21. Januar 1963 entgegen, mit dem sie gegenüber der Universität und dem Land als Arbeitgeber verbindlich geregelt habe, daß der darin angesprochene Personenkreis versicherungsfrei gewesen sei. Hierbei handele es sich um einen bindend gewordenen Verwaltungsakt, zu dessen Erlaß die Beklagte als Einzugsstelle nach § 121 Abs 3 AVG zuständig gewesen sei. Selbst wenn er wegen der Unbestimmtheit des betroffenen Personenkreises rechtswidrig gewesen sei, sei er nicht unbeachtlich. Der für den Kläger begünstigende Verwaltungsakt habe nur mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden können. Das sei nur für Beiträge der Fall, die für Gehälter ab März 19ö7 erhoben worden seien.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision vertritt die Beklagte die Auffassung, daß es sich bei dem Schreiben vom 21. Januar 1963 nicht um einen Verwaltungsakt gehandelt habe, sondern um eine Auskunft, mit der nichts mit unmittelbarer Wirkung nach außen geregelt worden sei und die auch keine Regelung eines Einzelfalles zum Gegenstand gehabt habe. Auch sei ein Vertrauensschutz nicht begründet worden.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG insoweit aufzuheben, als

es die Beitragsnachforderung für die Zeit vom

1. Dezember 1964 bis 28. Februar 1967 betrifft,

und die Klägerin zu verurteilen, die geforderten

Rentenversicherungsbeiträge für den gesamten

Zeitraum vom 1. Dezember 1964 bis 30. September

1967 in Höhe von 451.378,08 DM nebst entstandener

Säumniszinsen zu zahlen (dh sinngemäß: die Berufung

des Klägers gegen das Urteil des SG in vollem Umfang

zurückzuweisen).

Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 3. Dezember 1980 Anschlußrevision eingelegt. Er beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen

und das Urteil des LSG dahin abzuändern, daß die

Bescheide der Beklagten vom 16. Februar 1967 und

22. Dezember 1967 in der Gestalt des

Widerspruchsbescheides vom 24. April 1975 auch insoweit

aufgehoben werden, als Beiträge für die Zeit vom

1. März 1967 bis 30. September 1967 verlangt werden.

Die Beigeladene beantragt,

das Urteil des LSG dahin abzuändern, daß die

Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG in vollem

Umfang zurückgewiesen wird, sowie die Anschlußrevision

des Klägers zurückzuweisen.

Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils in dem durch sie streitbefangenen Umfang und insoweit zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.

Die Anschlußrevision des Klägers ist dagegen unzulässig. Sie ist nicht innerhalb der am 18. August 1980 abgelaufenen Revisionsfrist eingelegt worden. Als somit unselbständige Anschlußrevision hätte sie deshalb bis zum Ablauf eines Monats nach der Zustellung der Revisionsbegründungsschrift der Beklagten beim Revisionsgericht eingehen müssen (§ 202 SGG iVm § 556 der Zivilprozeßordnung -ZPO-). Die Revisionsbegründungsschrift der Beklagten ist dem Kläger mit einem am 9. Oktober 1980 zur Post gegebenen Einschreibebrief übersandt worden und gilt deshalb als am 12. Oktober 1980 zugestellt (§ 63 Abs 2 SGG iVm § 4 Abs 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes -VwZG-). Die Revisionsanschlußschrift des Klägers vom 3. Dezember 1980 ist jedoch erst am 11. Dezember 1980, also nicht innerhalb der am 12. November 1980 abgelaufenen Anschlußfrist, beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen. Wiedereinsetzungsgründe nach § 67 SGG sind nicht zu erkennen.

Die Aufhebung des Berufungsurteils in dem durch die Revision der Beklagten streitbefangenen Umfang ist zwingend geboten, weil das Verfahren vor dem LSG an einem im Revisionsverfahren fortwirkenden prozessualen Mangel leidet, der in der Revisionsinstanz nicht beseitigt werden kann. Das LSG hätte die Personen, um deren Versicherungspflicht es geht, zum Verfahren notwendig beiladen müssen (§ 75 Abs 1, 1. Fall SGG), weil die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann (BSG SozR 1500 § 75 Nrn 15 und 21). Die Gründe, die das LSG bewogen haben, von der Beiladung abzusehen, können nicht durchgreifen. Die Versicherungspflicht der wissenschaftlichen Mitarbeiter ist nicht lediglich eine - an der Rechtskraft des Urteils nicht teilnehmende - rechtliche Vorfrage. Der Senat hat seine dahingehende frühere Rechtsprechung (Beschluß vom 15. Juni 1973, 12 RK 21/72, USK 73243) bereits mit den Urteilen vom 29. April 1976, 12/3 RK 66/75 (BSGE 41, 297) und 12/3 RK 38/75 (USK 7630) aufgegeben und seitdem in ständiger Rechtsprechung - auch entgegen der früheren Rechtsprechung des in Versicherungspflicht- und Beitragsstreitigkeiten nicht mehr zuständigen 3. Senats des BSG - daran festgehalten, daß mit der Entscheidung der Einzugsstelle nach § 121 Abs 3 AVG (= 1399 Abs 3 der Reichsversicherungsordnung -RVO-) über die Beitragshöhe (Beitragsbescheid) stets auch über die Beitragspflicht und über die Versicherungspflicht entschieden wird. Der Sache nach enthält ein solcher Bescheid drei zwingend voneinander abhängige und in ihrer Reihenfolge nicht austauschbare Einzelentscheidungen, nämlich zunächst eine Entscheidung über die Versicherungspflicht, sodann eine Entscheidung über die Beitragspflicht, die aus der vorausgehenden Entscheidung über die Versicherungspflicht folgt, und schließlich, aus der Entscheidung über die Beitragspflicht folgend, diejenige über die Beitragshöhe (BSGE 41, 297, 299). Der Bescheid der Beklagten vom Dezember 1967 und der Widerspruchsbescheid vom 24. April 1975 entsprechen auch diesen Anforderungen. Ihrem Inhalt ist eindeutig zu entnehmen, daß die Beklagte auch und vorweg über die Versicherungspflicht der in den beigegebenen Listen namentlich aufgeführten Personen entschieden und diese Entscheidung zur Grundlage ihrer Beitragsforderung gegen den Kläger als dem zur Beitragsentrichtung allein verpflichteten Arbeitgeber gemacht hat. Ist aber die Rentenversicherungspflicht der in Betracht kommenden Personen selber Gegenstand einer Entscheidung und nicht nur deren Vorfrage, dann greift die Entscheidung unmittelbar in die Rechtssphäre der Versicherten ein, über deren Versicherungspflicht entschieden wird. Um die materielle Rechtskraft des Urteils auch auf sie zu erstrecken, ist deshalb ihre Beiladung erforderlich. Von einer Beiladung könnte allenfalls dann abgesehen werden, wenn der derzeitige Aufenthalt der beizuladenden Personen unbekannt ist. Daß dies im vorliegenden Fall zutrifft, hat das LSG nicht festgestellt. Es entspricht auch nicht der Lebenserfahrung, daß sich alle 645 in Betracht kommenden Personen heute nicht mehr werden ermitteln lassen. Selbst wenn einige von ihnen nicht mehr auffindbar sein sollten, stünde dies einer verfahrensfehlerfreien Prozeßführung nicht entgegen, weil das LSG eine Trennung des Verfahrens vornehmen und zunächst über die die beiladungsfähigen Versicherten betreffenden Beitragsforderungen entscheiden könnte; im übrigen wäre an die Möglichkeit einer öffentlichen Zustellung des Beiladungsbeschlusses zu denken.

Die Unterlassung einer notwendigen Beiladung ist ein im Revisionsverfahren von Amts wegen zu beachtender und zur Zurückverweisung zwingender Verfahrensfehler (BSG SozR 1500 § 75 Nr 1; Meyer-Ladewig SGG § 163, Anm 5, § 168 Anm 3).

Das auf dem Verfahrensfehler beruhende Urteil des LSG muß demnach - in dem noch streitbefangenen Umfang - aufgehoben und der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden, ohne daß - mangels Beteiligung aller vom Verfahren Betroffenen - der Senat Ausführungen zur materiell-rechtlichen Seite des Rechtsstreits machen kann.

Die Kostenentscheidung bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten. Hinsichtlich des Streitteiles, der von der als unzulässig verworfenen Anschlußrevision der Beklagten erfaßt wird, besteht keine Kostenerstattungspflicht der bis jetzt am Verfahren Beteiligten (§ 193 Abs 4 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651986

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