Leitsatz (amtlich)
Eine Tilgungsbestimmung des Arbeitgebers dahin, an die sozialversicherungsrechtliche Einzugsstelle geleistete Zahlungen sollten vorrangig auf fällige Arbeitnehmeranteile zu den Sozialversicherungsbeiträgen angerechnet werden, kann zwar konkludent erfolgen, muß dann aber greifbar in Erscheinung treten.
Normenkette
BGB § 823; StGB § 266a
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 17. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 21. Februar 2000 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin nimmt die Beklagte, die ab 21. April 1994 Geschäftsführerin der M. GmbH war, auf Ausgleich des Schadens in Anspruch, der ihr als einzugsberechtigter Innungskrankenkasse aus der Vorenthaltung von Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung für die Monate Januar bis Mai und Juli 1995 entstanden sei.
Die M. GmbH war bereits seit Juni 1992 mit der Abführung geschuldeter Sozialversicherungsbeiträge in Rückstand geraten; seither geleistete Zahlungen reichten nicht aus, um ein Anwachsen dieser Rückstände zu verhindern. Nachdem sich die finanzielle Situation der M. GmbH verschlechtert hatte, zahlte diese ab Mai 1995 keine Löhne mehr an ihre Beschäftigten aus. Am 23. August 1995 wurde Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens über das Vermögen der Gesellschaft gestellt; die Eröffnung wurde mangels Masse abgelehnt.
Die Klägerin errechnete die für die Monate Januar bis Mai und Juli 1995 (jeweils zum 15. des Folgemonats fälligen) von der M. GmbH zu erbringenden Sozialversicherungsbeiträge auf den Gesamtbetrag von 132.284,37 DM. Die Klägerin erhielt im Jahre 1995 zugunsten der Beitragsschuld der Gesellschaft unter anderem folgende Zahlungen: 44.991 DM am 28. Februar 1995, 34.500 DM am 31. März 1995 und 10.000 DM am 10. Juli 1995. Diese eingegangenen Beträge verrechnete die Klägerin (ebenso wie in früheren Zeiträumen erbrachte Zahlungen) jeweils auf die im Hinblick auf die bestehenden Rückstände älteste offene Beitragsforderung. Auf dieser Grundlage beziffert die Klägerin die für die Monate Januar bis Mai und Juli 1995 zusammengenommen zu Lasten der M. GmbH noch offenstehenden Arbeitnehmerbeiträge auf 60.433,78 DM. Hierfür habe die Beklagte, die diese Arbeitnehmerbeiträge pflichtwidrig vorenthalten habe, gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 266 a StGB persönlich einzustehen.
Das Landgericht hat der Klage antragsgemäß stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage abgewiesen. Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin, mit der sie die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils begehrt.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht ist der Ansicht, die Beklagte habe keine Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung i.S.d. § 266 a Abs. 1 StGB vorenthalten.
Für Arbeitnehmerbeiträge betreffend die Monate Mai und Juli 1995 entfalle eine Haftung der Beklagten bereits deshalb, weil für diesen Zeitraum keine Löhne mehr an die Beschäftigten der Gesellschaft ausgezahlt worden seien und daher in der Nichtentrichtung der Beiträge kein strafbares Verhalten zu sehen sei. Der Tatbestand des § 266 a Abs. 1 StGB verlange mehr als die Nichterfüllung einer reinen Zahlungsverpflichtung. Erforderlich sei ein besonderes strafauslösendes Moment, das entsprechend dem untreueähnlichen Charakter der Strafbestimmung dem „Vorenthalten” dann anhafte, wenn der Täter vom ausgezahlten Lohn einbehaltene Beträge pflichtwidrig nicht abführe; hieran fehle es, wenn mangels einer Lohnzahlung auch die Möglichkeit eines Lohnabzugs nicht bestehe.
Was die Arbeitnehmeranteile für die Monate Januar bis April 1995 angehe, könnten diese deswegen nicht als im Sinne des § 266 a Abs. 1 StGB „vorenthalten” angesehen werden, da im maßgeblichen Zeitraum zur Deckung dieser Beträge ausreichende Zahlungen an die Klägerin erfolgt seien. Letztere habe die eingegangenen Gelder nicht wie geschehen auf die jeweils ältesten Forderungen der Gesamtschuld, also sowohl auf rückständige Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile verrechnen dürfen. Vielmehr sei – auch ohne eine entsprechende Tilgungsbestimmung seitens des Arbeitgebers – bei Teilzahlungen auf die Beitragsschuld, die zur Begleichung der Gesamtsozialversicherungsbeiträge nicht ausreichten, vorbehaltlich einer eindeutig anders lautenden Zweckbestimmung durch den Schuldner zunächst eine Verrechnung auf die Arbeitnehmeranteile vorzunehmen; dies sei im Hinblick auf eine „täterfreundliche” Lösung geboten, da ein zu vermutender vernünftiger Schuldnerwillen nur auf eine Verrechnung gerichtet sein könne, die eine Strafbarkeit ausschließe oder jedenfalls soweit wie möglich mindere. Dem stünden auch die Regelungen in § 2 der Beitragszahlungsverordnung nicht entgegen. Zur Tilgung der Arbeitnehmeranteile für die Monate Januar bis April 1995 hätten aber die am 28. Februar 1995, 31. März 1995 und 10. Juli 1995 eingegangenen Zahlungen der Gesellschaft ausgereicht.
II.
Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand. Die Überlegungen, aufgrund derer das Berufungsgericht für den hier streitigen Zeitraum ein „Vorenthalten” von Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung verneint hat, sind nicht frei von Rechtsfehlern.
1. Die Revision wendet sich zu Recht gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, eine Haftung der Beklagten für die Arbeitnehmerbeiträge betreffend die Monate Mai und Juli 1995 scheitere bereits daran, daß für diesen Zeitraum keine Lohnzahlungen an die Beschäftigten der M. GmbH mehr erfolgt seien.
Der erkennende Senat hat in seinem – nach Erlaß des Berufungsurteils ergangenen – Urteil vom 16. Mai 2000 (VI ZR 90/99 – VersR 2000, 981 ff., auch zur Veröffentlichung in BGHZ 144, 311 ff. bestimmt) ausdrücklich und grundsätzlich entschieden, daß Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung auch dann im Sinne des § 266 a Abs. 1 StGB vorenthalten sein können, wenn für den betreffenden Zeitraum kein Lohn an die Arbeitnehmer ausgezahlt worden ist. Der Senat hat dies insbesondere damit begründet, daß die Neufassung des Straftatbestandes des § 266 a Abs. 1 StGB das Merkmal des „Einbehaltens” nicht mehr enthält und daher nunmehr zur Erfüllung der Voraussetzungen dieser Strafvorschrift nur noch die Nichtabführung der Arbeitnehmerbeiträge bei Fälligkeit erforderlich ist. An dieser rechtlichen Beurteilung, die in den Senatsurteilen vom 14. November 2000 (VI ZR 149/99 – VersR 2001, 343, 344) und vom 9. Januar 2001 (VI ZR 407/99 – ZIP 2001, 422, 423) bestätigt worden ist, ist auch nach erneuter Überprüfung festzuhalten. Der Senat hat in den genannten Entscheidungen zu dieser bis dahin in Rechtsprechung und Schrifttum streitigen Rechtsfrage, den hierzu vertretenen Ansichten und den jeweils angeführten Argumenten im einzelnen Stellung genommen. Im Hinblick darauf erscheint – auch unter Berücksichtigung der Ausführungen im Berufungsurteil und in der Revisionserwiderung – eine nochmalige Darlegung der Problematik nicht als geboten.
2. Des weiteren greift die Revision mit Erfolg die Ansicht des Berufungsgerichts an, die Arbeitnehmerbeiträge betreffend die Monate Januar bis April 1995 seien deshalb als entrichtet (und somit nicht als „vorenthalten”) zu erachten, weil – entgegen der seitens der Klägerin vorgenommenen Verrechnung – die im Jahre 1995 eingegangenen Zahlungen auch ohne entsprechende Tilgungsbestimmung seitens des Arbeitgebers vorrangig auf die Arbeitnehmeranteile anzurechnen seien.
a) Die Überlegung des Berufungsgerichts, wonach stets im Sinne einer „täterfreundlichen” Lösung – auch ohne entsprechende Willensäußerung des Beitragsschuldners – die Verrechnung so vorzunehmen sei, daß dessen Strafbarkeit soweit wie möglich ausgeschlossen oder begrenzt werde, steht mit der Vorschrift des § 2 der Beitragszahlungsverordnung (vgl. zu dessen Regelungsgehalt insbesondere Senatsurteil vom 13. Januar 1998 – VI ZR 58/97 – VersR 1998, 469, 470) nicht in Einklang. Diese Bestimmung will grundsätzlich eine gleichmäßige Tilgung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge im Rahmen der Gesamtsozialversicherungsbeiträge sicherstellen. Zwar war es auch bereits vor der auf den Überlegungen des Bundessozialgerichts (BSGE 78, 20, 23) beruhenden Neufassung des § 2 der Beitragszahlungsverordnung dem Arbeitgeber gestattet, eine abweichende Tilgungsbestimmung dahin zu treffen, daß vorrangig auf die Arbeitnehmerbeiträge geleistet werde. Ohne entsprechende (mindestens konkludente) Tilgungsbestimmung kann jedoch eine derartige Verrechnung nicht in Betracht kommen. Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats kann eine in dieser Richtung wirksame (stillschweigende) Zahlungsbestimmung des Schuldners nur angenommen werden, wenn sie greifbar in Erscheinung getreten ist (vgl. Senatsurteil vom 4. Juli 1989 – VI ZR 23/89 – BGHR BGB § 823 Abs. 2, StGB § 266 a Nr. 2 sowie insbesondere die Senatsurteile vom 14. November 2000 – VI ZR 149/99 – VersR 2001, 343, 344 und vom 9. Januar 2001 – VI ZR 119/00 – ZIP 2001, 419, 420 m.w.N.). Ohne Erfüllung dieser Voraussetzungen kann nicht schon deshalb in jeder Teilzahlung des Beitragsschuldners eine stillschweigende Tilgungsbestimmung hinsichtlich der Arbeitnehmeranteile gesehen werden, weil deren Nichtzahlung straf- und haftungsrechtliche Folgen für den Geschäftsführer haben könnte (vgl. Senatsurteil vom 9. Januar 2001 – VI ZR 119/00 aaO). Soweit sich das Berufungsgericht für seine abweichende Auffassung auf frühere strafgerichtliche Erkenntnisse (etwa BGH, Beschluß vom 22. Mai 1991 – 2 StR 453/90 – NJW 1991, 2917, 2918) stützen will, sind diese zur Rechtslage vor Inkrafttreten der Beitragszahlungsverordnung ergangen, als noch die Tilgungsbestimmung des § 366 Abs. 2 BGB heranzuziehen war. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts würde die nunmehr maßgebliche Vorschrift des § 2 der Beitragszahlungsverordnung, die grundsätzlich eine gleichmäßige Tilgung der Gesamtsozialversicherungsbeiträge sicherstellen will, weitgehend leerlaufen, wollte man ohne eine entsprechende Willensäußerung des Arbeitgebers gleichsam automatisch von einer vorrangigen Tilgungsbestimmung zugunsten der Arbeitnehmerbeiträge ausgehen.
b) Die Auffassung des Berufungsgerichts rechtfertigt sich auch nicht aus der im Berufungsurteil angeführten Überlegung, die von der Klägerin vorgenommene Verrechnung der eingegangenen Beträge auf Rückstände von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen könne letztlich dazu führen, daß ein neuer Geschäftsführer anstelle des vorherigen, in dessen Amtszeit Rückstände aufgelaufen seien, bestraft werde; diese Strafbarkeit erfasse im praktischen Ergebnis auch das Nichtabführen von Arbeitgeberanteilen. Der Senat hat bereits in anderem Zusammenhang ausgeführt, daß es in derartigen Fällen gerade nicht um eine Ausdehnung der zivilrechtlichen Haftung des Geschäftsführers auf vor seiner Zeit entstandene Rückstände geht (vgl. Senatsurteil vom 9. Januar 2001 – VI ZR 119/00 aaO). Die Strafbarkeit und die Haftung des Geschäftsführers greifen vielmehr nur ein, wenn ihm – bei Erfüllung aller Tatbestandsmerkmale des § 266 a Abs. 1 StGB – vorgeworfen werden kann, daß er nicht für die Zahlung weiterer Beträge gesorgt hat, die – nach einer der Regelung in § 2 Beitragszahlungsverordnung entsprechenden Verrechnung der tatsächlich bei der Einzugsstelle eingegangenen Leistungen – noch nötig gewesen wären, um die fälligen Arbeitnehmerbeiträge abzudecken. Im übrigen steht es dem Arbeitgeber frei, durch eine ausdrückliche oder nach außen greifbar in Erscheinung tretende konkludente Tilgungsbestimmung eine Verrechnung vorrangig mit den aktuell fälligen Arbeitnehmerbeiträgen zu erreichen und so seiner Strafbarkeit entgegenzuwirken. Daß die Erfordernisse einer derartigen wirksamen Tilgungsbestimmung im vorliegenden Fall durch die Beklagte erfüllt worden wären, hat das Berufungsgericht bisher aber gerade nicht festgestellt.
3. Die bisherigen Überlegungen des Berufungsgerichts sind daher aus Rechtsgründen nicht geeignet, die Klageabweisung hinsichtlich der hier als Schaden geltend gemachten Arbeitnehmerbeiträge für die Monate Januar bis Mai und Juli 1995 zu tragen. Das Berufungsurteil kann auf der Grundlage der bis jetzt getroffenen Feststellungen auch nicht mit anderer Begründung aufrechterhalten werden. Denn das Berufungsgericht hat – von seinem Rechtsstandpunkt aus konsequent – zu den weiteren Voraussetzungen einer Haftung aus § 266 a Abs. 1 StGB, die in der Revisionserwiderung angesprochen werden, nicht Stellung genommen und keine Klärung des Sachverhalts herbeigeführt. Dies gilt insbesondere für die Frage, inwieweit es der Beklagten überhaupt möglich gewesen wäre, weitere Leistungen der Gesellschaft auf die Arbeitnehmeranteile zu veranlassen, und für das Problem eines vorsätzlichen Verhaltens der Beklagten. Auch die Frage, in welcher Höhe die geltend gemachten Beitragsrückstände tatsächlich bestehen, ist im Berufungsurteil offengelassen.
III.
Das Berufungsurteil war daher aufzuheben und die Sache zur weiteren Aufklärung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Unterschriften
Dr. Müller, Dr. v. Gerlach, Dr. Dressler, Wellner, Diederichsen
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 26.06.2001 durch Holmes, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 625206 |
BB 2001, 1600 |
DStZ 2001, 648 |
BGHR 2001, 781 |
EBE/BGH 2001, 250 |
GmbH-StB 2001, 221 |
NJW-RR 2001, 1536 |
EWiR 2001, 1003 |
NZA 2002, 153 |
Nachschlagewerk BGH |
WM 2001, 1823 |
ZAP 2001, 1249 |
ZIP 2001, 1474 |
DZWir 2001, 458 |
MDR 2001, 1166 |
NZI 2001, 546 |
NZS 2001, 643 |
NZS 2002, 195 |
SozVers 2002, 136 |
VersR 2001, 1246 |
GmbHR 2001, 721 |
RdW 2001, 528 |