Serie: Schlussabrechnungen der Coronahilfen

VG Gelsenkirchen kippt FAQ-Stichtag bei Überbrückungshilfen


VG Gelsenkirchen kippt FAQ-Stichtag bei Überbrückungshilfen

Das VG Gelsenkirchen hat eine Entscheidung getroffen, die das Fundament der bisherigen Verwaltungspraxis bei den Überbrückungshilfen jedenfalls in NRW erschüttern könnte.

Das Gericht verwirft in seinem Urteil v. 12.8.2025, 19 K 2499/23, die in den FAQ verankerte Stichtagsregelung zum 31.12.2021 für die Beurteilung von Unternehmensverbünden bei der Überbrückungshilfe IV. Diese Regelung sei EU-beihilferechtlich nicht haltbar. Das könnte erhebliche Auswirkungen auf viele laufende Schlussabrechnungsverfahren jedenfalls in NRW haben.

Der Fall: Gesellschaftsrechtlich komplexe Verhältnisse

Eine Betreiberin von Spielhallen hatte Überbrückungshilfe IV beantragt und im Antragsfor-mular angegeben, nicht Teil eines Unternehmensverbundes zu sein. Die Bezirksregierung Münster lehnte den Antrag später ab. Grund war zum einen die fehlende Mitwirkung bei der Aufklärung der Unternehmensstruktur. Zum anderen sei die Antragstellerin Teil eines Unternehmensverbundes gewesen, was die Antragsberechtigung ausschließe.

Im Klageverfahren stellte sich heraus: Die gesellschaftsrechtlichen Verhältnisse waren komplex. Zum 31.12.2021 bestand eine bestimmte Konstellation. Diese änderte sich jedoch durch Anteilsübertragungen im Mai 2022, also vor der Antragstellung im Juni 2022.

Die zentrale Aussage des Gerichts

Das VG Gelsenkirchen stellt unmissverständlich klar: Der in den FAQ in Ziffer 5.6 genannte Stichtag zum 31.12.2021 für die Bewertung der Unternehmensstruktur ist nicht maßgeblich. Entscheidend sei vielmehr der Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung über die Hilfe, "allerfrühestens der Zeitpunkt der Bewilligungsreife".

Die Begründung des Gerichts ist prägnant: Die FAQ sind keine rechtlichen Vorschriften und können daher keine Abweichung von den vorstehenden Maßgaben des EU-Rechts begründen.

EU-beihilferechtliche Grundlagen

Das Gericht stützt seine Entscheidung auf Art. 107 Abs. 1 i.V.m. Art. 108 Abs. 3 AEUV. Die bei der EU-Kommission angemeldeten Regelungen der Bundesregelung Kleinbeihilfen erlaubten es nicht, Überbrückungshilfe an ein einzelnes Unternehmen zu leisten, wenn dieses Teil eines Unternehmensverbundes sei. Dies gelte unabhängig davon, wie die wirtschaftliche Lage nur dieses einen Teilunternehmens sei.

Nach der Rechtsprechung des EuGH bezeichnet der beihilferechtliche Unternehmensbegriff jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform. Mehrere getrennte rechtliche Einheiten können als eine wirtschaftliche Einheit angesehen werden. Diese wirtschaftliche Einheit sei dann das relevante Unternehmen.

Das Gericht betont: Die entsprechenden europarechtlichen Vorgaben binden die Mitgliedstaaten und ihre Behörden unmittelbar in ihren Beihilfeentscheidungen.

Fortsetzung des NRW-Sonderwegs

Diese Entscheidung reiht sich ein in eine zunehmend strikte Linie nordrhein-westfälischer Verwaltungsgerichte zum EU-Beihilferecht, über die wir bereits in früheren Beiträgen berichtet haben.

Das Besondere: Während andere Bundesländer die FAQ-Regelungen als verbindliche Auslegungshilfen jedenfalls bei den Stichtagen behandeln, geht NRW zunehmend eigene Wege. Die Argumentation des VG Gelsenkirchen, wonach die FAQ gegen höherrangiges EU-Recht nicht bestehen könnten, gibt dieser Praxis nun erneut eine gerichtliche Grundlage.

Mögliche Folgen für die Praxis

Die Tragweite dieser Entscheidung kann kaum überschätzt werden. Sollte sie Bestand haben, müssten zahlreiche bereits bewilligte Förderfälle neu bewertet werden. Denn in vielen Konstellationen haben sich Unternehmensstrukturen zwischen dem 1.1.2019 und der Antragstellung oder Bescheidung verändert.

Die FAQ zur Überbrückungshilfe III nennen beispielsweise den 31.10.2020 als maßgeblichen Stichtag für die Bewertung der Unternehmensstruktur. In den FAQ zur Überbrückungshilfe III Plus wird auf den 30.6.2021 abgestellt. Besonders betroffen wären Fälle, in denen

  • Gesellschaftsanteile nach dem Stichtag übertragen wurden, aber vor der Bewilligung,
  • Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge nach diesem Stichtag abgeschlossen wurden, aber vor der Bewilligung,
  • Unternehmensverbindungen erst nach dem Stichtag entstanden sind, aber vor der Bewilligung.

Bislang konnten sich Antragsteller auf die Stichtagsregelung in Ziffer 5.6 der FAQ verlassen. Diese besagt eindeutig, dass für die Beurteilung eines Unternehmensverbundes auf den dort genannten Stichtag abzustellen sei. Das VG Gelsenkirchen erklärt diese Regelung nun faktisch für bedeutungslos.

Rechtskraft noch unklar

Sollte das OVG NRW die Rechtsauffassung bestätigen, würde dies erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Förderpraxis in Nordrhein-Westfalen haben. Eine Vorlage an den EuGH erscheint in diesem Fall nicht ausgeschlossen.

Kritische Argumente gegen die Entscheidung

Die Entscheidung des VG Gelsenkirchen ist aus mehreren Gründen angreifbar:

  • Vertrauensschutz und Rechtssicherheit: Die Stichtagsregelung wurde vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (mittlerweile: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie) in den FAQ explizit vorgegeben. Bund und Länder haben diese Regelung einvernehmlich angewandt. Antragsteller und prüfende Dritte durften darauf vertrauen, dass diese Regelung Bestand hat. Das nachträgliche Infragestellen dieser Regelung verletzt fundamentale Grundsätze des Vertrauensschutzes.
  • Praktikabilität: Die vom Gericht favorisierte Lösung führt zu erheblichen Unsicher-heiten. Wenn der Zeitpunkt der Bewilligungsreife maßgeblich sein soll, stellt sich die Frage: Wann genau tritt dieser Zeitpunkt ein? Bei Antragstellung? Bei vollständiger Vorlage aller Unterlagen? Bei Abschluss der behördlichen Prüfung? Diese Unklarheit ist mit den Anforderungen an Rechtssicherheit kaum vereinbar.
  • Widerspruch zur bundesweiten Praxis: Andere Bundesländer wenden die Stichtagsregelung nach Kenntnis der Autoren bei Verfassen dieses Beitrags an. Sollte die Rechtsprechung des VG Gelsenkirchen Schule machen, entstünde ein Flickenteppich unterschiedlicher Rechtsanwendung in Deutschland. Dies widerspricht dem Gleichbe-handlungsgrundsatz.
  • EU-rechtliche Zweifel: Es ist fraglich, ob die EU-Kommission bei Genehmigung der Beihilferegelungen tatsächlich eine bestimmte Vorstellung vom maßgeblichen Zeitpunkt hatte.

Handlungsempfehlungen

Für Unternehmen und Berater ergeben sich aus dem Urteil folgende Konsequenzen:

Zunächst sollte weiter auf die FAQ-Regelungen vertraut werden. Bisher ist nicht bekannt, ob die VG Gelsenkirchen Rechtsprechung auf Ebene der Bewilligungsstellen umgesetzt wird in NRW. Wir kennen noch keine andere Bewilligungsstelle, die diese Rechtsprechung umsetzt.

Wenn es jedoch Nachfragen oder Bescheide in diese Richtung geben sollte, empfehlen wir, einen Rechtsanwalt einzuschalten. Denn dann stellen sich komplexe verwaltungsrechtliche und EU-beihilferechtliche Fragen.

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