Serie: Schlussabrechnungen der Coronahilfen

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Rückforderung von Überbrückungshilfen


Verhältnismäßigkeit bei der Rückforderung von Überbrückungshilfen

Die Rückforderung von Corona-Überbrückungshilfen wirft die Frage auf, inwieweit der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Anwendung findet. Besonders im Schlussabrechnungsverfahren gewinnt er an Bedeutung.

Die aktuelle Herausforderung

Mit der Einreichung der Schlussabrechnungen für die Corona-Überbrückungshilfen hat eine neue Phase begonnen. Bewilligungsstellen prüfen nun die tatsächliche Förderberechtigung auf Basis der realen Geschäftszahlen. Dabei stehen häufig erhebliche Rückforderungen im Raum, die existenzielle Fragen für betroffene Unternehmen aufwerfen.

Die Überbrückungshilfen stellten in ihrer Dimension ein beispielloses Förderprogramm dar. Noch nie hat der deutsche Staat so umfangreiche Hilfen an so viele Unternehmen ausgezahlt – und noch nie gab es anschließend so viele Streitigkeiten im Fördermittelrecht.

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Verwaltungsrecht

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehört zu den zentralen Prinzipien des deutschen Verwaltungsrechts. Er wird unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleitet und hat als Verfassungsgewohnheitsrecht Verfassungsrang. Auch wenn er nicht ausdrücklich im Grundgesetz normiert ist, gilt er als wichtigste Anforderung an staatliches Handeln.

Verhältnismäßigkeit bedeutet, dass das staatlich eingesetzte Mittel in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Zweck stehen muss. Der Grundsatz wird auch als Übermaßverbot bezeichnet und soll eine vernünftige Relation zwischen Zweck und Mittel gewährleisten.

Die drei Elemente der Verhältnismäßigkeitsprüfung

Die Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgt in drei Schritten, die kumulativ erfüllt sein müssen:

  1. Geeignetheit: Das gewählte Mittel muss zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet sein. Eine Maßnahme ist geeignet, wenn sie überhaupt Wirkung im Hinblick auf das Ziel entfalten kann.
  2. Erforderlichkeit: Es muss das Mildeste zur Verfügung stehende Mittel gewählt werden. Eine Maßnahme ist nur erforderlich, wenn kein milderes, aber gleich wirksames Mittel existiert.
  3. Angemessenheit: Die Maßnahme muss in einem vernünftigen Verhältnis zum angestrebten Ziel stehen. Bei der Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der rechtfertigenden Gründe muss die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleiben.

Einschränkungen in der Leistungsverwaltung

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz findet zwar sowohl in der Eingriffs- als auch in der sog. Leistungsverwaltung – hierunter fallen die Überbrückungshilfen – Anwendung. Seine Bedeutung ist in der Leistungsverwaltung jedoch deutlich eingeschränkt. Der Grund liegt in der Entstehungsgeschichte: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wurde ursprünglich als Schutzprinzip vor staatlichen Eingriffen entwickelt.

In der Leistungsverwaltung steht dem Staat typischerweise ein weiter Ermessensspielraum zu. Die gerichtliche Kontrolldichte ist reduziert, da die Verhältnismäßigkeit hier weniger als Abwehrrecht wirkt, sondern vielmehr als Grundsatz ordnungsgemäßer Verwaltung. Bei Ermessensentscheidungen fungiert der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Ermessensgrenze – eine Überschreitung liegt vor, wenn die Behörde ihn verkennt.

Überbrückungshilfen als Billigkeitsleistung

Die Corona-Überbrückungshilfen werden als Billigkeitsleistungen ohne Rechtsanspruch gewährt. Dies stellen die einschlägigen Richtlinien ausdrücklich klar. Die Zuwendungen erfolgen als freiwillige Leistung im Rahmen verfügbarer Haushaltsmittel nach pflichtgemäßem Ermessen der Behörden.

Als Billigkeitsleistung begründen die Überbrückungshilfen keinen unmittelbaren Rechtsanspruch. Die konkrete Ausgestaltung der Förderbedingungen wird durch die Verwaltung vorgegeben. Dennoch ist die Verwaltung nicht völlig frei: Sie muss den Gleichbehandlungsgrundsatz beachten, sich an ihre eigene Verwaltungspraxis binden und die allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätze einhalten.

Die entscheidende Differenzierung: Antrags- versus Schlussabrechnungsverfahren

Bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf Überbrückungshilfen ist eine fundamentale Unterscheidung zwischen dem Antragsverfahren und dem Schlussabrechnungsverfahren vorzunehmen.

Im Antragsverfahren geht es um die ursprüngliche Gewährung der Hilfen auf Basis von Prognosen und Schätzungen. Hier handelt es sich um eine originäre Leistungsentscheidung, bei der der Verwaltung ein weiter Ermessensspielraum zusteht.

Das Schlussabrechnungsverfahren dient hingegen der nachträglichen Überprüfung der tatsächlichen Förderberechtigung auf Basis realer Geschäftszahlen. Hier geht es um die Anpassung oder Rückforderung bereits gewährter Leistungen – eine völlig andere Ausgangslage.

Besonderheiten der Rückforderung im Schlussabrechnungsverfahren

Das Schlussabrechnungsverfahren weist eine entscheidende Besonderheit auf: Hier geht es häufig um die Rückforderung bereits gewährter und häufig verbrauchter Hilfen. Zwar standen die ursprünglichen Bewilligungsbescheide unter dem Vorbehalt einer endgültigen Überprüfung, dennoch begründeten sie eine rechtliche Position für die Empfänger.

Die Bewilligungsstellen verstehen die Schlussabrechnungen oft als "Totalvorbehalt", bei dem selbst die grundsätzliche Antragsberechtigung erneut überprüft werden kann. Dies führt zu Situationen, in denen bereits bewilligte und ausgezahlte Hilfen vollständig zurückgefordert werden – ein gravierender Eingriff.

Die subjektive Rechtsposition der Empfänger

Durch die Bewilligung der Überbrückungshilfen entstand für die Empfänger eine subjektive Rechtsposition. Auch wenn die Bescheide unter Vorbehalt standen, begründeten sie eine rechtliche Beziehung zwischen Staat und Empfängern. Die Unternehmen durften auf die Bestandskraft der Bewilligungen vertrauen, solange sich die zugrundeliegenden Sachverhalte nicht änderten.

Diese subjektive Rechtsposition unterscheidet die Situation grundlegend vom ursprünglichen Antragsverfahren. Während dort die Verwaltung frei über die Gewährung entscheiden konnte, muss sie bei der Rückforderung die bereits entstandenen Rechtspositionen berücksichtigen.

Verstärkter Vertrauensschutz im Rückforderungsverfahren

Der Vertrauensschutz, abgeleitet aus dem Rechtsstaatsprinzip, spielt bei den Überbrückungshilfen eine wichtige Rolle. Bürger dürfen grundsätzlich auf behördliche Entscheidungen vertrauen, und der Staat darf positive Bescheide nicht ohne Weiteres widerrufen.

Bei den Überbrückungshilfen entsteht Vertrauensschutz durch mehrere Faktoren: Die ursprünglichen Bewilligungsbescheide selbst, die FAQ der Bundesregierung als ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften und die ständige Verwaltungspraxis der Bewilligungsstellen. Alle diese Elemente können anspruchsbegründende Außenwirkung entfalten.

Der Vertrauensschutz hat jedoch Grenzen: Er entfällt bei arglistiger Täuschung, Drohung, Bestechung, unrichtigen oder unvollständigen Angaben sowie bei Kenntnis der Rechtswidrigkeit.

Erhöhte Bedeutung der Verhältnismäßigkeit bei Rückforderungen

Im Schlussabrechnungsverfahren gewinnt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erheblich an Bedeutung. Der Grund: Es geht nicht mehr um die originäre Gewährung von Leistungen, sondern um die Rückforderung bereits gewährter und oft verbrauchter Hilfen. Diese Rückforderung stellt einen Eingriff in die erworbene Rechtsposition dar und unterliegt daher einer strengeren Verhältnismäßigkeitsprüfung.

Bei der Prüfung sind verschiedene Faktoren zu berücksichtigen: Die Schwere des Eingriffs (vollständige Rückforderung wiegt schwer), die Berechtigung des Vertrauens auf den Bestand der Hilfen, der seit der Bewilligung verstrichene Zeitraum, die bereits erfolgte Verwendung der Mittel und die wirtschaftlichen Auswirkungen der Rückforderung auf das Unternehmen.

Noch ungeklärte Rechtslage

Die Rechtsprechung zu den Schlussabrechnungen der Überbrückungshilfen ist noch nicht final geklärt. Zu zahlreichen Rechtsfragen fehlt höchstrichterliche Rechtsprechung. Die Verwaltungsgerichte stehen erst am Anfang ihrer Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex.

Die Bewilligungsstellen sind oft der Ansicht, dass es gar keinen Vertrauensschutz geben kann und die Überbrückungshilfen als öffentliche Mittel stets in voller Höhe zurückgefordert werden müssen, selbst bei kleinsten Zweifeln an der Antragsberechtigung. Doch ist dies verhältnismäßig im Hinblick auf die wirtschaftlichen Auswirkungen auch dort, wo der Förderzweck – Erhalt des Unternehmens und von Arbeitsplätzen, Verwendung der gewährten Mittel im Unternehmen – erreicht worden ist? Dies wird in vielen Fällen nur die Rechtsprechung klären können. 

Empfehlung: Rechtsschutz suchen

Angesichts der ungeklärten Rechtslage und der erheblichen Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kann es sinnvoll sein, gegen Rückforderungsbescheide Rechtsschutz zu suchen. Widerspruch und Klage haben aufschiebende Wirkung nach § 80 Abs. 1 VwGO – für die Dauer des Verfahrens muss keine Rückzahlung geleistet werden.

Die Erfolgsaussichten hängen vom Einzelfall ab. Grundsätzlich bestehen aber gute Argumente gegen die rückwirkende Anwendung verschärfter Prüfmaßstäbe und gegen unverhältnismäßige Totalrückforderungen. Die Gerichte werden klären müssen, inwieweit der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und der Vertrauensschutz den betroffenen Unternehmen Schutz bieten.

Die Überbrückungshilfen mögen als Billigkeitsleistungen konzipiert sein – bei ihrer Rückforderung gelten jedoch die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewinnt hier eine Bedeutung, die von den Bewilligungsstellen bisher möglicherweise unterschätzt wird.

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