Beispielsfall

Verfahrensrechtliche Möglichkeiten bei einem verfristeten Einspruch


Verfahrensrechtliche Möglichkeiten bei verfristetem Einspruch

Es kommt immer wieder vor, dass versäumt wird, gegen einen rechtswidrigen Steuerbescheid fristgerecht Einspruch einzulegen. Wer dann vom Finanzamt die Aufforderung erhält, den Einspruch zurückzunehmen, sollte jedoch nicht vorschnell aufgeben.

Auch bei einem verfristeten Einspruch gibt es ggf. noch die eine oder andere verfahrensrechtliche Möglichkeit, die unzutreffend festgesetzte Steuerlast zu mindern. Diese Möglichkeiten sollen anhand des nachfolgenden Beispiels dargestellt werden. 

Beispiel: Aufgabe eines kleinen Lebensmittelwarengeschäfts

A ist Inhaber eines kleinen Lebensmittelwarengeschäfts, das er mit 65 Jahren zum 31.12 2018 aufgibt. Im Rahmen seiner im Jahr 2019 abgegebenen Einkommensteuererklärung für 2018 erklärt er einen laufenden Gewinn für 2018 und einen Aufgabegewinn aus der Veräußerung des Inventars, der jedoch unter dem Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG liegt.

Das Finanzamt veranlagt erklärungsgemäß. Bei Erlass des Einkommensteuerbescheides für 2018 hat der Bearbeiter jedoch übersehen, dass A das Lebensmittelgeschäft im Erdgeschoss eines ihm gehörenden und vom ihm im Obergeschoss bewohnten Zweifamilienhauses betrieben hat. A, der seine Steuererklärungen bislang immer selbst erstellt hat, war als steuerlicher Laie nicht bewusst, dass hinsichtlich des Erdgeschosses stille Reserven aufzudecken waren. Die Räumlichkeiten hat er ab dem 1.1.2019 an seinen Sohn B vermietet, der dort ein Versicherungsbüro betreibt. In den nachfolgenden Steuererklärungen hat er neben seiner Rente entsprechende Vermietungseinkünfte erklärt.

Im Rahmen einer im Jahr 2025 durchgeführten Betriebsprüfung bei B fällt dem Finanzamt auf, dass die Ermittlung des Aufgabegewinns des A für 2018 ohne Aufdeckung der das Erdgeschoss betreffenden stillen Reserven erfolgte, wodurch sich ein erheblich über dem Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG liegender Aufgabegewinn ergeben würde.

Der für A zuständige Veranlagungsbezirk erlässt daher am 3.3.2025 einen auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO gestützten Änderungsbescheid für 2018 unter Ansatz eines entsprechenden Aufgabegewinns. A legt gegen diesen Bescheid am 14.4.2025 ohne Begründung Einspruch ein und kontaktiert am 15.4.2025 einen Steuerberater, der den von A eingelegten Einspruch dahingehend begründet, dass er nach Ablauf der Festsetzungsfrist ergangen und daher ersatzlos aufzuheben sei.

Das Einspruchsschreiben des A geht am 16.4.2025 beim Finanzamt ein. Das Finanzamt weist den Steuerberater in einem nachfolgenden Erörterungsschreiben darauf hin, dass der Einspruch nach Ablauf der einmonatigen Einspruchsfrist und damit verspätet eingegangen sei und bittet um Einspruchsrücknahme.

Verfahrensrechtlicher Sachstand

Derartige oder vergleichbare Fälle kommen in der Besteuerungspraxis immer wieder vor. Hier liegt zunächst ein Fehlverhalten beider beteiligter Parteien vor:

  • A hätte bei Erstellung seiner Einkommensteuererklärung 2018 beachten müssen, dass es sich bei den Räumlichkeiten im Erdgeschoss (sowie dem hierzu gehörenden anteiligen Grund und Boden) um notwendiges Betriebsvermögen handelt und entsprechend bei Ermittlung des Aufgabegewinns die stillen Reserven aufdecken müssen.
  • Dem Finanzamt hätte bei der Bearbeitung der Einkommensteuererklärung 2018 auffallen müssen, dass das Gewerbe in eigenen Räumen betrieben worden ist und der erklärte Aufgabegewinn insoweit fehlerhaft ohne Aufdeckung der stillen Reserven ermittelt worden ist.

Der auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO gestützte Änderungsbescheid für 2018 hätte schon deshalb nicht mehr ergehen dürfen, weil im Jahr 2025 die Festsetzungsfrist für 2018 bereits abgelaufen war. Sie begann mit Ablauf des 31.12.2019 (Abgabe der Einkommensteuererklärung 2018 im Jahr 2019, § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO) und endete mit Ablauf des 31.12.2023 (§ 169 Abs. 2 Nr. 2 AO).

Selbst wenn man das Verhalten des A als leichtfertige Steuerverkürzung werten würde, wäre die Festsetzungsfrist mit Ablauf des 31.12.2024 abgelaufen (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO). Die Annahme von Steuerhinterziehung ist hier ausgeschlossen, da A hinsichtlich der Ermittlung des Aufgabegewinns nicht bewusst und gewollt in Kenntnis des Erfolgs gehandelt hat, so dass die 10-jährige Festsetzungsfrist (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO) keine Anwendung findet. Der Änderungsbescheid 2019 ist somit rechtswidrig, aber aufgrund des verfristet eingelegten Einspruchs zunächst einmal rechtskräftig. 

Im Übrigen lagen auch die Voraussetzungen für eine Bescheidänderung nach § 173 Abs.1 Nr. 1 AO nicht vor (siehe hierzu weiter unten).

Mögliche verfahrensrechtliche Reaktionen

Wie kann nun der von A beauftragte Steuerberater hierauf reagieren, um vielleicht doch noch zu erreichen, dass der rechtswidrig erlassene Schätzungsbescheid wieder aufgehoben oder zumindest nicht vollzogen wird? In einem solchen Fall solltenzumindest folgende Punkte geprüft werden:

1. Prüfung der Nichtigkeit

Zunächst sollte geprüft werden, ob der in Rede stehende Bescheid ggf. nichtig (§ 125 AO) und damit unwirksam ist (§ 124 Abs. 3 AO). Leider hilft dieser Einwand hier nicht weiter, denn Nichtigkeit eines Steuerbescheides erfordert, dass der Steuerbescheid an einem schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist.

Ein besonders schwerwiegender Fehler liegt dann vor, wenn der Verwaltungsakt die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen in einem so erheblichen Maße verletzt, dass von niemandem erwartet werden kann, ihn als verbindlich anzuerkennen. Er ist jedoch nicht schon allein deshalb nichtig, weil er ohne bzw. aufgrund veralteter gesetzlicher Grundlagen ergangen ist oder weil die infrage kommenden Rechtsvorschriften unrichtig angewandt worden sind (BFH, Urteil v. 31.5.2017, I B 102/16, BFH/NV 2017 S. 1189). 

Im Beispielsfall ist ein Einkommensteuerbescheid ergangen, der zwar aufgrund der bereits eingetretenen Verjährung nicht mehr hätte ergehen dürfen, der jedoch ansonsten keine schwerwiegenden Mängel aufweist. Der geänderte Einkommensteuerbescheid 2018 ist somit zwar rechtswidrig, aber nicht nichtig, so dass ein Antrag auf Feststellung der Nichtigkeit hier nicht weiterhelfen würde.

2. Prüfung einer möglichen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO)

Da der Steuerpflichtige die Einspruchsfrist versäumt hat, sollte geprüft werden, ob ggf. ein Antrag auf Wiedereinsetzung (§ 110 AO) erfolgversprechend sein könnte. Hierzu muss der Steuerpflichtige nachweisen oder zumindest glaubhaft machen, dass er die Frist ohne Verschulden versäumt hat.

Bei einer während der gesamten Einspruchsfrist andauernden Abwesenheit durch Urlaub oder Krankheit ist bei einem Unternehmer zu beachten, dass er stets schuldhaft handelt, wenn er bei längerer Abwesenheit versäumt, einen Bevollmächtigten zu bestellen oder einen Postnachsendeantrag zu stellen (BFH, Urteil v. 11.7.2017, IX R 41/15, BFH/NV 2018 S. 185).

Dagegen braucht der "Normalbürger" bei vorübergehender urlaubsbedingter Abwesenheit grundsätzlich keine besonderen Vorkehrungen hinsichtlich möglicher Zustellungen zu treffen, wenn er nicht konkret mit dem Eingang der Entscheidung rechnen muss. Dies würde auf A zutreffen, wenn er abwesend gewsen wäre, weil er nach Aufgabe seines Betriebes im Jahr 2018 nicht mehr damit rechnen muss, dass er vom Finanzamt für das bereits veranlagte Jahr der Betriebsaufgabe 2018 noch einen Steuerbescheid erhält.

3. Vortrag "Steuerbescheid nicht erhalten"?

Der in der Besteuerungspraxis nicht selten anzutreffende Vortrag des Steuerpflichtigen, er habe den Steuerbescheid nicht erhalten, würde in diesem Fall einen "Bumerangeffekt" bewirken. Zwar trägt die Finanzverwaltung in dem Fall, in dem der Steuerpflichtige bestreitet, den Bescheid erhalten zu haben, die Feststellungslast, d.h. sie muss anhand von Indizien nachweisen, dass der Steuerpflichtige den Bescheid gleichwohl erhalten hat. Gelingt dies nicht, ist eine ordnungsgemäße Bekanntgabe nicht erfolgt, was hier zur Folge hätte, dass aufgrund der bereits abgelaufenen Festsetzungsfrist keiner neuer Änderungsbescheide mehr erlassen werden dürfte. 

Im Beispielsfall hat A jedoch gegen den Steuerbescheid – verspätet – Einspruch eingelegt und damit dokumentiert, dass er den Bescheid tatsächlich erhalten hat. Ein nunmehriges Bestreiten des Zugangs würde das Finanzamt daher als versuchte Steuerhinterziehung (§ 370 AO) werten.

4. Prüfung von Änderungsvorschriften

Ist der Einspruch verfristet und kommt eine Wiedereinsetzung nicht in Betracht, sollte im nächsten Schritt geprüft werden, ob man das Finanzamt nicht aufgrund eventuell greifender Änderungsvorschriften zur Bescheidänderung verpflichten kann. 

Dies führt in diesem Fall jedoch nicht weiter, da hier keine Änderungsnorm greifen würde, um den (materiell in Ergebnis zutreffenden) Einkommensteuerbescheid 2018 zu ändern. Vielmehr hätte das Finanzmat die auf § 173 Abs. 1 Nr.1 AO gestützte Bescheidänderung überhaupt nicht durchführen dürfen, da die Voraussetzungen der Vorschrift nicht vorlagen. Denn dem Finanzamt war nach Aktenlage bei Erlass des Erstbescheides für 2018 bekannt, dass A sein Gewerbe in eigenen Räumlichkeiten ausgeübt hat, so dass es für eine entsprechende Aufdeckung der stillen Reserven hätte Sorge tragen müssen.

Durch den Hinweis des Betriebsprüfers anlässlich der Prüfung bei Sohn B ist dem Veranlagungsbezirk der Vorgang nicht erstmals und nachträglich nach Erlass des Erstbescheids bekannt geworden, so dass die Voraussetzungen für eine Bescheidänderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht vorlagen.

5. Antrag auf Billigkeitserlass

Ist bereits Festsetzungsverjährung eingetreten, sind Billigkeitsmaßnahmen nur bei gravierenden Rechtsverstößen der Finanzverwaltung möglich (Hessisches FG, Urteil v. 12.12.1997, 12 K 2063/95, EFG 1998 S. 708).

Im Beispielsfall könnte der Steuerpflichtige jedoch geltend machen, dass er mit dem Erhalt des Einkommensteuerbescheides 2018, mit dem der Betriebsaufgabegewinn als unter dem Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG veranlagt worden ist, darauf vertrauen konnte, dass diesbezüglich keine weiteren, die Betriebsaufgabe betreffenden Steuerforderungen auf ihn zukommen würden. Insoweit hatte er eine schutzwürdige Vertrauensposition erlangt, die die Erhebung der Steuer aus sachlichen Gründen unbillig erscheinen lässt.

Das Verhalten des Finanzamts ist aus zweierlei Hinsicht als Rechtsverstoß zu werten, denn zum einen hat es einen Änderungsbescheid erlassen, obwohl die Festsetzungsfrist bereits abgelaufen war und zum anderen hätte der Änderungsbescheid schon aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht ergehen dürfen, da es an einer entsprechenden Änderungsnorm mangelt. In der Summe liegt hier ein gravierender Rechtsverstoß vor, der m.E. einen Steuererlass aus sachlichen Gründen rechtfertigen würde.

6. Verwirkung

Ein Steueranspruch ist nicht bereits dann verwirkt, wenn die Finanzverwaltung jahrelang untätig bleibt. Verwirkung würde jedoch dann eintreten, wenn sich das Finanzamt nach außen für den Steuerpflichtigen erkennbar auf ein bestimmtes zukünftiges Verhalten festgelegt hat und dieser im Beispielsfall damit rechnen konnte, dass es zu keiner Änderung des Einkommensteuerbescheides für das Betriebsaufgabejahr 2018 mehr kommen würde, so dass er entsprechend wirtschaftlich disponieren konnte (BFH, Urteil v. 25.10.2016, X R 31/14, BStBl 2017 II S. 287). Auch hier könnte der Berater des A ansetzen und geltend machen, dass A mit dem Erhalt des Erstbescheides für 2018 darauf vertrauen konnte, dass die Besteuerung der Betriebsaufgabe mit dem endgültig erlassenen Einkommensteuer – Erstbescheid abgeschlossen war und er nicht mehr mit einer Steuernachzahlung in späteren Jahren rechnen musste, auf die er sich disponierend hätte einstellen müssen.

Fazit

Der vorstehende Fall macht deutlich, dass man auch bei einem offensichtlich verfristeten Einspruch nicht vorzeitig "die Flinte ins Korn" werfen sollte, sondern dass je nach Sachverhalt durchaus noch andere Gründe vorliegen können, mit denen erfolgreich gegen eine rechtswidrige Steuerfestsetzung vorgegangen werden kann.


Schlagworte zum Thema:  Einspruch , Abgabenordnung , Fristversäumnis
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