Serie: Schlussabrechnungen der Coronahilfen

EU-Beihilferecht als Rückforderungsgrund bei Corona-Wirtschaftshilfen


EU-Beihilferecht als Rückforderungsgrund bei Coronahilfen

Das OVG Münster hat entschieden, dass die Gewährung von November- und Dezemberhilfen gegen EU-Beihilferecht verstoßen kann, wenn die bewilligte Summe deutlich über dem zur Liquiditätssicherung Erforderlichen liegt.

Die Entscheidung ( OVG Münster, Urteil v 25.8.2025, 4 A 1555/23) hat weitreichende Folgen für etliche Unternehmen und andere Überbrückungshilfeprogramme. Es drohen tausende neue Rückforderungen.

Der Ausgangsfall

Ein selbstständiger Gewerbetreibender hatte seit 2013 ein Gewerbe in der Eventorganisation betrieben. Seine Tätigkeit bestand im Vertrieb von Eintrittskarten für Konzerte, Sportveranstaltungen und Kulturveranstaltungen. Er kaufte diese Tickets im eigenen Namen und auf eigene Rechnung ein und verkaufte sie an Endkunden weiter.

Als im Herbst 2020 Bund und Länder im Beschluss vom 28.10.2020 weitreichende Schließungen beschlossen, beantragte der Kläger November- und Dezemberhilfe. Er gab an, indirekt betroffen zu sein, also mindestens 80 Prozent seiner Umsätze mit direkt von Betriebsschließungen betroffenen Unternehmen zu erzielen. Später erklärte er, er sei sogar direkt betroffen, weil er seinen Betrieb habe einstellen müssen.

Die Bezirksregierung bewilligte daraufhin Abschlagszahlungen. Allein für November 2020 wurde dem Kläger wegen außerordentlich hoher Umsätze im Vorjahresmonat eine Novemberhilfe von über 200.000 EUR bewilligt – bei tatsächlichen Gesamtkosten im November 2020 von nur gut 2.700 EUR.

Nach einer Überprüfung nahm die Behörde die Bewilligungsbescheide zurück. Das VG Gelsenkirchen gab dem Kläger mit Urteil v. 25.7.2023 (19 K 1492/22) zunächst recht. Das OVG Münster hob dieses Urteil nun auf und wies die Klage ab.

Die Kernaussagen des OVG Münster

Das Gericht stützt die Rechtmäßigkeit der Rückforderung auf zwei Säulen: Zum einen waren die Angaben des Klägers in wesentlicher Beziehung unrichtig. Zum anderen – und das ist die eigentlich brisante Begründung – verstieß die Bewilligung gegen EU-Beihilferecht.

Unrichtige Angaben im Antragsverfahren

Der Kläger war weder direkt noch indirekt im Sinne der Förderrichtlinien betroffen. Der Verkauf von Veranstaltungstickets über das Internet musste nicht wegen des Beschlusses vom 28.10.2020 eingestellt werden. Tickets für langfristig geplante Veranstaltungen durften auch während des Lockdowns verkauft werden. Der Kläger hat auch tatsächlich im Dezember 2020 noch Umsätze erzielt.

Auch die indirekte Betroffenheit lag nicht vor: Der Kläger erzielte seine Umsätze nicht mit direkt betroffenen Unternehmen, sondern mit Endkunden, die von den Schließungsanordnungen nicht unmittelbar betroffen waren.

Verstoß gegen EU-Beihilferecht

Das Gericht führt detailliert aus, welche Beihilfen die EU-Kommission auf Grundlage des Befristeten Rahmens genehmigt hatte. Die Bundesregelung Kleinbeihilfen 2020 beruhte auf Art. 107 Abs. 3 lit. b AEUV und den Nr. 3.1 und 4 des Befristeten Rahmens.

Diese Regelung gestattete als eng auszulegende Ausnahmeregelung nur Beihilfen mit einer bestimmten Zielrichtung: Behebung von Liquiditätsengpässen und Sicherstellung der Existenzfähigkeit von Unternehmen, die von wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie betroffen waren.

Das OVG betont: Nur Beihilfen mit dieser Zielrichtung standen im Einklang mit der Bundesregelung Kleinbeihilfen 2020 und verfügten über die erforderliche Genehmigung der Kommission. Soweit die Behörden darüber hinausgingen, überstieg dies ihre Beurteilungskompetenz. Anders geartete Beihilfen hätten einer gesonderten Genehmigung bedurft.

Die konkrete Anwendung auf den Fall

Das Gericht formuliert es deutlich: Bei Gesamtkosten im November 2020 von nur gut 2.700 EUR lässt sich die Frage, ob der Betrieb zur Sicherung seiner Liquidität und Existenzfähigkeit Coronahilfen im Umfang von über 200.000 EUR benötigte, nicht pauschaliert bejahen – auch nicht mit dem Argument, dass die betragsmäßigen Obergrenzen der Beihilferegelungen noch nicht ausgeschöpft waren.

Art. 107 Abs. 3 lit. b AEUV gestattet keine nationale Beihilferegelung ohne eine von der Kommission vorgenommene Prüfung, ob sie zur Verfolgung der legitimen Zielrichtung erforderlich, angemessen und verhältnismäßig ist. Nur der Kommission, nicht den nationalen Stellen, ist für diese Beurteilung ein weites Ermessen eingeräumt.

Die Kommission hatte in ihrem Befristeten Rahmen lediglich die Absicht zum Ausdruck gebracht, Unternehmen zu unterstützen, die aufgrund der Pandemie mit geringerer Nachfrage zu kämpfen hatten – entweder durch einen Beitrag zur Deckung ihrer Fixkosten oder mit dem Ziel, ihr Fortbestehen sicherzustellen. Eine pauschale Entschädigung von 75 Prozent des Vorjahresumsatzes ohne Bedarfsprüfung war davon nicht gedeckt.

Abgrenzung zum Schadensausgleich

Das OVG geht auch auf die Alternative eines Schadensausgleichs nach Art. 107 Abs. 2 lit. b AEUV ein. Eine Entschädigung für Einbußen, die unmittelbar auf den COVID-19-Ausbruch zurückzuführen waren, hatte die Kommission auf dieser Grundlage für zulässig gehalten. Allerdings forderte sie dabei zur Vermeidung einer Überkompensation eine strenge Quantifizierung der jeweiligen Einbußen.

Die Kommission hatte ausdrücklich klargestellt, dass wirtschaftliche Auswirkungen von Nachfragerückgängen, die durch eine allgemein geringere Nachfrage oder geringere Bereitschaft der Kunden bedingt waren, bei der Berechnung der Einbußen nicht berücksichtigt werden können. 

Der Kläger war auch nach der Bundesregelung Novemberhilfe/Dezemberhilfe Schadensausgleich nicht antragsberechtigt, weil sein Geschäftsbetrieb nicht aufgrund der Lockdown-Beschlüsse eingestellt werden musste.

Weitreichende Konsequenzen für die Praxis

Die Entscheidung hat Auswirkungen, die weit über den Einzelfall hinausgehen.

  • EU-Beihilferecht als eigenständiger Rückforderungsgrund: Das Gericht etabliert das EU-Beihilferecht als eigenständige Grundlage für Rückforderungen. Selbst wenn die formalen Antragsvoraussetzungen nach deutschem Recht erfüllt waren, kann eine Bewilligung EU-beihilferechtswidrig sein, wenn die gewährte Summe über das zur Liquiditätssicherung Erforderliche hinausgeht.
  • Pauschale Umsatzentschädigung nicht gedeckt: Die pauschale Gewährung von 75 Prozent des Vorjahresumsatzes ohne Prüfung des tatsächlichen Bedarfs war nach der Logik des OVG Münster nicht von der Kommissionsgenehmigung gedeckt. Die November- und Dezemberhilfen waren als pauschale Umsatzentschädigung konzipiert. Diese Konzeption war möglicherweise von Anfang an EU-beihilferechtswidrig.
  • Vertrauensschutz praktisch ausgeschlossen: Das Gericht verweist auf die EuGH-Rechtsprechung, nach der sich Beihilfeempfänger selbst vergewissern müssen, dass die Beihilfe im Einklang mit dem EU-Recht steht. Dies stellt sehr hohe Anforderungen an Antragsteller und prüfende Dritte.
  • Pflicht zur Rückforderung: Die nationalen Behörden sind nach der Rechtsprechung des EuGH verpflichtet, rechtswidrig gewährte Beihilfen aus eigener Initiative zurückzufordern.

Kritische Würdigung

Die Entscheidung ist wirft erhebliche Fragen auf.

  • Verantwortung des Staates: Bund und Länder haben die November- und Dezemberhilfen bewusst als pauschale Umsatzentschädigung konzipiert. Die 75-Prozent-Formel war politisch gewollt, um schnell und unbürokratisch zu helfen. Wenn diese Konzeption von Anfang an EU-beihilferechtswidrig war, trifft die Verantwortung den Staat, nicht die Antragsteller.
  • Überspannte Sorgfaltsanforderungen: Kann man von einem Ticketverkäufer oder dessen Steuerberater wirklich erwarten, dass sie die komplexe Systematik des Befristeten Rahmens der Kommission durchdringen und erkennen, dass die deutsche Umsetzung möglicherweise über das Genehmigte hinausgeht? Die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht erscheinen sehr hoch.
  • Fehlende Abstufung: Das Gericht nimmt keine Abstufung vor. Wäre eine teilweise Rückforderung, beschränkt auf den über den tatsächlichen Bedarf hinausgehenden Teil, nicht angemessener gewesen?

Praktische Hinweise für Betroffene

Wenn Sie als prüfender Dritter oder als Unternehmen von einem Rückforderungsbescheid betroffen sind, der auf EU-Beihilferecht gestützt wird, sollten Sie folgende Punkte beachten:

Die Widerspruchs- bzw. Klagefrist ist unbedingt einzuhalten. Widerspruch und Klage haben nach § 80 VwGO aufschiebende Wirkung, sodass bis zur Beendigung des Verfahrens keine Rückzahlung erfolgen muss.

Es sollte geprüft werden, ob die Argumentation des Bescheids auf den konkreten Fall übertragbar ist. Nicht jeder Fall mit hoher Bewilligungssumme ist automatisch EU-beihilferechtswidrig. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an.

Die Schnittstelle zwischen deutschem Verwaltungsrecht und EU-Beihilferecht ist komplex. Anwaltliche Beratung ist in diesen Fällen dringend zu empfehlen.

Ausblick

Die Entscheidung reiht sich ein in eine Serie von Urteilen des OVG Münster, die eine strenge beihilferechtliche Prüfung der Corona-Wirtschaftshilfen vornehmen. 

Ob diese Rechtsprechung Bestand haben wird, ist noch offen. Am Ende werden Verfahren zu den deutschen Corona-Wirtschaftshilfen vom EuGH zu klären sein.

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