Talentmanagement Kolumne: Lohntüte als Motivationswunder

Talente finden, fördern, binden – dieser Dreiklang birgt viele Zwischentöne und sorgt auch für Missklänge in Unternehmen. Talent-Management-Experte Martin Claßen gibt in seiner Kolumne Ein- und Ausblicke in die Talentwelt. Heute: Warum Talente wieder Lohntüten bekommen sollten.

Es gibt sie nur noch im Manufactum-Katalog: Die guten alten Dinge. Und selbst dort kann man eines nicht mehr bestellen: die Lohntüte. Vermutlich haben nur 0,001 Prozent der heutigen Unternehmensbewohner jemals ein solches Ding selbst in der Hand gehalten. Was, wie zu beweisen sein wird, einen immensen Verlust an Lebensqualität, Motivation und Flow bedeutet.

Zuerst aber für die 99,999 Prozent Lohntüten-"Rookies" unter meinen Lesern: Was ist überhaupt eine Lohntüte? In der Farbe bräunlich, fast elegant hautfarben hat sie etwa die Größe eines Din-A5-Umschlags und ist aus stabilem, ziemlich reißfestem Papier. Auf der Vorderseite wird der enthaltene Betrag handschriftlich erläutert. Entscheidend ist die letzte Zeile: "einliegend bar ...". Draußen steht die Summe. Drinnen sind die verdienten Moneten. Übrigens: Vermutlich haben einige traditionsreiche Unternehmen in ihren Kellern noch Lohntüten stapelweise gelagert. Gegen ihre Wiederverwendung spricht wenig, außer dass D-Mark oder Reichsmark gestrichen und durch Euro ersetzt werden muss.

Ein Verlust für das Talent Management

Es geht die Sage, dass viele Hausfrauen ihren arbeitenden Ehemännern am Zahltag die Lohntüte bereits am Werkstor abnahmen. Damit sich nicht gleich ein Teil der eingetüteten Beträge in der nächsten Kneipe verflüssigte. Heute würden vermutlich einige Hausmänner ihren arbeitenden Partnerinnen ebenfalls an der Drehtür auflauern. Damit der Verdienst nicht schon wieder im Shop um die Ecke mit einem weiteren Paar Schuhe vergeudet wird. Aber es gibt sie ja nicht mehr, die Lohntüte. Ein großer Fehler - gerade mit Blick auf Talent Management.

Wie schnöde wird heute das Talentgehalt auf ein Konto überweisen, lediglich schriftlich dokumentiert als Zeile eines Kontoauszugs oder auf dem Datev-Infoblatt. Die meisten Talente nutzen mittlerweile ohnehin Online-Banking. Bei dem die Gehaltssumme noch weniger greifbar wird. Das Geld ist dann weniger wert, wirkt fast steril. Große Summen schrumpfen zum kleinen Gefühl.

Impression-Management gehört auch zur Motivation

Eigentlich sollte im Talent Management wieder der haptische Reiz einer Lohntüte eingeführt werden, am besten sogar wöchentlich. Was muss es für ein Gefühl sein, jeden Freitag den vom Chef persönlich überreichten Umschlag zu öffnen, die vielen Geldscheine zu streicheln, diese dann in die eigene Geldbörse zu stecken und schließlich beschwingt ins Wochenende zu düsen? Selbstverständlich weiterhin verfügbar und zu vielen Extrameilen bereit, beruflichen versteht sich. Lohntüten adeln das Tun und verpflichten zu mehr. Bankauszüge mit ihrer bloßen Zahl nicht.

Gibt es überhaupt eine bessere Idee für Engagement, Bindung, Loyalität, den magischen Zielen im Talent Management? Vermutlich würden einige Talente – zur persönlichen Selbstdarstellung – sogar ihre Lohntüte mit vorbereiteten Papierschnipseln aufdicken. Damit sich das Ding für einen selbst noch besser anfühlt und für neidische Dritte von außen gut aussieht. Wenn es ganz zufällig kurz auf dem Tisch liegt.

Nachtrag für alle Pedanten

Ja, bei jeder Gehaltszahlung gibt es ganz hinten nach dem Komma auch Cent-Werte. Ja, die Gründe dafür versteht keiner so richtig. Ja, auf diese Kleinstbeträge würden vermutlich die meisten ohne Murren verzichten. Ja, sie müssen diese Münzen nicht einzeln in jede Lohntüte stecken. Meinetwegen, sie können dieses "restliche Einkommen", also die Cents, weiterhin aufs Konto überweisen. Hauptsache die Scheine in der Lohntüte fühlen sich an jedem Zahltag gut an.

Martin Claßen hat 2010 das Beratungsunternehmen People Consulting gegründet. Talent Management gehört zu einem seiner fünf Fokusbereiche in der HR-Beratung.