Talent-Management-Kolumne: was oft verloren geht

Unter Talent Management verstehen Personaler, Berater und Talente inzwischen oft etwas unterschiedliches. Doch egal, wie man es definiert, am Ende vergessen doch alle oft die grundsätzlichsten Anforderungen an diese HR-Aufgabe. Kolumnist Martin Claßen erinnert an sie.

Unternehmen sind und bleiben hierarchisch strukturiert, mit breiter Basis und enger Spitze - selbst wenn mittelfristig die vielbeschworene demokratische Firma in 0,5 Prozent der Organisationen zur Realität wird. Talent Management hat das wesentliche Ziel, in den oberen Schichten dieser Pyramide personelle Quantität zu sichern und personelle Qualität zu steigern. Wenige Talente werden es hinauf ins Senior und noch weniger gar ins Top-Management schaffen. Dazwischen liegen zahlreiche Filter, mit denen jeweils kräftig ausgesiebt wird.

Dennoch glauben viele Mitarbeiter, dass in ihrem speziellen Fall die Mär "Bei uns bekommt jeder seine Chance" zur Wirklichkeit wird.

Zwei Herangehensweisen im Talent Management

Im Talent Management stehen sich zwei fundamentalistische Schulen gegenüber. Der differenzierende Ansatz fordert harte Selektion mit der Devise "Alle mit Potential sind ein Talent" und der Maxime "Alle mit sehr großem Potential sind ein sehr großes Talent". Dort werden lediglich ein bis höchstens zwei Prozent der Belegschaft mit dem Talentlabel versehen. Diese Unternehmen legen Wert auf eine differenzierende Talentdiagnostik sowie ein stringentes Performance Management.

Hingegen verneint der inkludierende Ansatz diese frühzeitige Selektion und verkündet seine freundlich klingenden Vorschusslorbeeren "Alle bei uns haben das Zeug zum Talent". Dort gelten sämtliche Mitarbeiter grundsätzlich als Talent, jedoch mit einem Disclaimer: Jedes "Talent" muss diesen Status Tag für Tag beweisen. Solche Unternehmen bevorzugen einen Beurteilungsprozess für das Alltagsgeschehen à la Aschenputtel: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Irgendwo wird der Talentfilter eben dann doch angelegt. Die Allermeisten kommen nicht durch.

Als Lehrmeinung hat sich im Talent Management der differenzierende Ansatz mittlerweile durchgesetzt. In den Worten von John Boudreau und Ian Ziskin: "From sameness to segmentation: individuals will be considered based on their relative value to the organization". Wenn man ehrlich bleibt, ist Talent Management ein Elitethema. Selbst wenn dies für egalitäre Gemüter und den hiesigen Betriebsrat nicht einfach zu akzeptieren ist.

Breiter Ansatz in der Umsetzung

Ganz anders verhält es sich bei den Instrumenten im Talent Management, hier ist große Vielfalt angesagt. So habe ich für die Beratung in meinem "TM-Navigator" mittlerweile deutlich über vierhundert Tools eingesammelt. Damit wird Talent Management zum Synonym für moderne Personalwirtschaft und dient, wie Kienbaum-Geschäftsführer Walter Jochmann unlängst sagte, als Markennamen für das gesamte People-Management.

Auch der Personaleinsatz ist wichtig im Talent Management

Talent Management ist mehr als nur Personalbeschaffung ("recruit"), mehr als nur Personalentwicklung ("develop"), mehr als nur Personalbindung ("retain"). Im bereits klassischen Quadrat des Talent Managements kommt zu diesen drei Eckpunkten ein vierter hinzu: Personaleinsatz ("deploy"). Denn selbst das allergrößte Talent wird nicht nur gehegt und umsorgt. Die weit überwiegende Zeit in der Firma verbringt ein Talent mit Wertschöpfung für seinen Arbeitgeber und Gehaltszahler. In diesem Alltag werden dann auch die meisten Fehler im Talent Management gemacht, mit umständlichen Geschäftsprozessen, eintönigen Aufgabenstellungen, anstrengenden Führungskräften. Solche Basisprobleme werden selbst durch schicke Personalentwicklung fünfmal im Jahr nicht kompensiert.


Martin Claßen hat 2010 das Beratungsunternehmen People Consulting gegründet. Talent Management gehört zu einem seiner fünf Fokusbereiche in der HR-Beratung.