Kolumne Talent Management: Chef als größter Karrierekiller

Eigentlich sollen Führungskräfte ein wichtiger Erfolgsfaktor im Talent Management sein. Die Praxis sieht jedoch anders aus, stellt Kolumnist Martin Claßen fest. Er warnt Talente vor einem Pattex-Chef, der die Karrierepläne killt.

Wer nicht alles hat die Bedeutung von direkten Vorgesetzten für die Karrieren nachgeordneter Talente herausgestellt: Personalberater, Professoren, Praktiker. Bei sämtlichen Empfehlungen für exzellentes Talent Management steht der unmittelbare Chef ganz weit oben, meist sogar an der Spitze – für die Gewinnung von Talenten, für die Entwicklung von Talenten, für die Begeisterung von Talenten, für die Absicherung von Talenten und für manch anderes mehr. Der direkte Vorgesetzte gilt vielen – auch mir – als das wichtigste Instrument im Talent Management.

Theorie versus Praxis in der Führung

Die Realität in den meisten Unternehmen zeigt etwas völlig anderes: Viele Chefs gelten als Karrierekiller Nummer 1. Weil sie egoistische Interessen verfolgen. Weil sie toxisches Verhalten aufweisen. Weil sie oftmals keine Ahnung von ihren Talenten haben, als Mensch, als Mitarbeiter, als Möchtegern. Dieser dritte Grund wurde unlängst in einer Studie der Personalberatung von Rundstedt zum zigsten Mal bestätigt. Da diese Analyse tendenziell positiv gefärbte Selbstbilder von Befragten erhob, wird die Realität in Unternehmen vermutlich noch deutlich schlechter aussehen.

Knapp ein Drittel der Führungskräfte kennt die Fähigkeiten ihrer Talente nicht. Ups! Rund der Hälfte sind individuelle Entwicklungswünsche des Nachwuchses unbekannt. Sogar zwei Drittel der Chefs interpretieren ihre Führungsrolle nicht als Personalentwickler ihrer Mitarbeiter. Das sei originäre Aufgabe des HR-Bereichs. Wozu hält man sich diesen internen Dienstleister sonst?

Recht auf talentierte Leibeigene

Ebenfalls zwei Drittel aller Vorgesetzten sind nicht bereit, ihre“ Talente an andere Bereiche im Unternehmen abzugeben. Da sie für sich persönlich samt ihrer Ziele erhebliche Nachteile erwarten. Führung wird also zum Recht auf talentierte Leibeigene erklärt. Dies ist das für Talent Management schrecklichste Studienergebnis. Wenn Karriere bedeutet, immer wieder einmal sein Plätzchen mitsamt dem gewohnten Umfeld zu verändern und der eigene Chef dies boykottiert, bleibt Talenten oftmals nichts anderes übrig als geheime Flucht. Was keinen der Beteiligten freut: weder den Abgeber, noch den Aufnehmer und erst recht nicht den Deserteur.

Vielleicht entwickeln sich künftig deshalb innerbetriebliche Transfermärkte – ähnlich wie im Profifußball – mit Ablösegebühren und Halteprämien. Oder Unternehmen führen ein innerbetriebliches Asylrecht bei Verletzung des Grundrechts auf freie Arbeitswahl ein, entsprechend Artikel 12 des Grundgesetzes.

Vorsicht vor dem Pattex-Chef

Nun sind solche Ergebnisse nicht wirklich überraschend. Sie machen erneut deutlich, wie der Chef zum Karrierekiller aufstrebender Talente werden kann. Vereinzelte Versuche von Unternehmen zur Milderung dieses Problems durch Aufnahme von Abgabequoten in das bonusrelevante Zielsystem ihrer Manager haben sich übrigens nicht bewährt. Da unmittelbar businessbezogene Ziele letztlich ein wesentlich höheres Gewicht beim Leadership Assessment besitzen. Allen tatsächlichen und vermeintlichen Talenten ist daher vor allem Vorsicht anzuraten und Pattex-Chefs mit hohen Klebekräften tunlichst zu meiden – mögen die bei Durchsetzung ihrer Eigeninteressen auch noch so charmant sein.


Martin Claßen hat 2010 das Beratungsunternehmen People Consulting gegründet. Talent Management gehört zu einem seiner fünf Fokusbereiche in der HR-Beratung.