Wie ein inklusiver Berufseinstieg gelingt
Boris Dinev arbeitet als Trassenmanager bei den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB). Er kümmert sich unter anderem um Fahrplanänderungen aufgrund von Bauarbeiten oder außergewöhnlichen Ereignissen. Da er den Job im Sitzen verrichten kann, spielt seine Gehbehinderung keine Rolle – wohl aber, dass sein Arbeitgeber Vielfalt ernst nimmt. Voraussetzung für seinen Job ist nämlich eine Ausbildung zum Fahrdienstleiter, die traditionell nur für "gleistaugliche" Bewerberinnen und Bewerber offenstand. Doch Dinev fand gemeinsam mit den ÖBB eine Lösung. "Nun arbeite ich seit fast vier Jahren im Trassen- und Kapazitätsmanagement", berichtet er auf der Website des Unternehmens. Das sei ein abwechslungsreiches und interessantes Aufgabengebiet.
Dinev ist einer von vielen Mitarbeitenden, die zeigen: Inklusion ist keine Sondermaßnahme, sondern Teil des Alltags – wenn Strukturen stimmen und Arbeitgeber offen sind. Immer mehr Unternehmen erkennen das und machen Vielfalt zu einem festen Bestandteil ihrer Personalstrategie.
ÖBB: Inklusion als strategische Aufgabe
Bei den ÖBB ist Inklusion längst strategisch verankert. Das Unternehmen hat eine eigene Charta der Inklusion und einen Aktionsplan, der alle Bereiche abdeckt – von Recruiting über Aus- und Weiterbildung bis zur barrierefreien Infrastruktur. Ziel ist es, den Anteil an Mitarbeitenden mit Behinderungen deutlich zu erhöhen. Laut Angabe des Unternehmens haben derzeit drei Prozent der Mitarbeitenden eine begünstigte Behinderung; das heißt, dass sie einen Behinderungsgrad von 50 Prozent und darüber haben. Der Anteil steigt kontinuierlich. "Wir sind noch nicht dort, wo wir sein wollen", erklärt das Bahnunternehmen in einer schriftlichen Stellungnahme gegenüber der Haufe-Redaktion. Die in Österreich gesetzlich vorgeschriebene Beschäftigungsquote von vier Prozent an Mitarbeitenden mit begünstigter Behinderung versteht es demnach nicht nur als rechtliche Vorgabe, sondern als klare Verpflichtung und Chance. Deshalb setze sich die ÖBB dafür ein, Menschen mit Behinderung eine langfristige Perspektive zu bieten und ein inklusives Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem sich alle willkommen fühlen. "Die Erfahrung, dass Vielfalt in der Belegschaft sowohl unsere Kultur der Zusammenarbeit als auch unsere Mobilitätsangebote und Performance besser macht, bestärkt uns in unserem Weg", berichtet das Unternehmen.
Dafür haben die ÖBB eine Reihe von Maßnahmen etabliert, die bereits beim Einstellungsprozess ansetzen. Es gibt keine gesonderten Stellenanzeigen, sondern einen einheitlichen barrierefreien Zugang für alle Bewerberinnen und Bewerber. Alle Ausschreibungen in der Jobbörse sind grundsätzlich für alle Menschen offen, unabhängig davon, ob eine Behinderung vorhanden ist oder nicht. Das Recruiting-Personal und die Führungskräfte erhalten regelmäßige Diversity-Schulungen, die sie gezielt für inklusive Auswahlprozesse sensibilisieren. Laut den ÖBB bestehen die größten Hürden beim Berufseinstieg nämlich weniger in der Barrierefreiheit als in Vorurteilen und fehlendem Wissen über Behinderung. Auch die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft von Personen mit Behinderung werde häufig unterschätzt. Zudem gibt es bei den ÖBB eine inklusive Lehrlingsausbildung und ein Programm speziell für Frauen mit Behinderung, die oft zusätzliche Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt erfahren.
Am ersten Arbeitstag erhalten neue Mitarbeitende umfassende Informationen dazu, was der Konzern an Möglichkeiten, Unterstützung und Benefits anbietet: Dazu gehören Mentoring-Programme, Karrierelandkarten mit entsprechendem Weiterbildungsangebot, inklusive Kinderbetreuung und andere Angebote für die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, die möglichst barrierefrei für alle gleichermaßen zugänglich sind. Konzernweite Netzwerke und Initiativen ermöglichen es neuen Mitarbeitenden, sich von Beginn an über die eigene Abteilung hinweg austauschen zu können und die Unternehmenskultur mitzugestalten. Auch individuelle Anpassungen der Arbeitsplätze und Produkte stehen bei den ÖBB auf der Tagesordnung. Dazu arbeitet das Unternehmen auch mit externen Kompetenzteams wie dem Netzwerk Berufliche Assistenz zusammen. "Damit Maßnahmen im Unternehmen Wirkung erzeugen können, sind Unternehmenswerte, Leitlinien und strategische Einbettung Voraussetzung", heißt es in dem Statement. "Durch gezielte Arbeit können wir Barrieren erfolgreich abbauen und ein inklusives Umfeld schaffen, das Vielfalt als Stärke begreift."
Aesculap: Mit Vielfalt das Miteinander fördern
Auch beim Medizintechnologieunternehmen B. Braun ist Vielfalt ein wichtiger Wert. "Inklusion ist für uns Ausdruck gesellschaftlicher Verantwortung. Es geht darum, Chancengleichheit zu schaffen und gemeinsam daran zu arbeiten, dass alle Menschen unabhängig von individuellen Voraussetzungen ihre Potenziale einbringen können", sagt Ines Lützen, Personal-Bereichsleiterin von Aesculap, der Chirurgie-Sparte von B. Braun. Eine positive Haltung zu Vielfalt würde nicht nur das Unternehmen bereichern, sondern das Miteinander in der gesamten Region. Um Barrieren im Bewerbungsprozess abzubauen, passt das Unternehmen deshalb organisatorische Abläufe individuell an und bietet technische Hilfsmittel oder gezielte Beratung. Barrierefreiheit sieht Ines Lützen als kontinuierliche Aufgabe – insbesondere auf einem großen Werksgelände mit historischen Gebäuden. "Wir investieren laufend in bauliche Anpassungen, schaffen barrierefreie Zugänge und investieren in technische Hilfsmittel." Dabei müssten auch stets die hohen Ansprüche an Sicherheit und Qualität beachtet werden, die ein hochreguliertes Umfeld wie Medizintechnik mit sich bringt.
Wie bei den ÖBB sind auch bei B. Braun in Tuttlingen Schulungen für alle Mitarbeitenden wichtiger Teil der Inklusionsstrategie: "Sie fördern Sensibilität und Wissen und helfen, regulatorischen Anforderungen zu genügen." Die hauseigene Schwerbehindertenvertretung unterstützt sowohl Menschen mit Behinderung als auch Führungskräfte bei individuellen Lösungen und Fragen. Lützen betont: "Die Perspektive der betroffenen Personen ist dabei unersetzlich. Erfolgreiche Integration braucht Offenheit, Kommunikation und Einsatz. Sie ist herausfordernd und verlangt das Engagement aller Beteiligten, kommt aber letztlich allen zugute." Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für gelungene Inklusion ist laut Lützen die langjährige Zusammenarbeit mit der Lebenshilfe Tuttlingen: "Gemeinsam konnten wir mehrere Menschen mit Behinderung erfolgreich in den Arbeitsalltag integrieren." Das stärke nicht nur das Selbstbewusstsein dieser Personen, sondern auch das Team, da Inklusion das Miteinander bereichere und neue Perspektiven eröffne.
Zudem setzt sich B. Braun dafür ein, Jugendlichen mit Behinderung den Zugang zu Ausbildung und Beruf zu ermöglichen. Dazu pflegt das Unternehmen einen engen Austausch mit Schulen und Institutionen in der Region. Gleichzeitig gibt es Initiativen, die dazu beitragen sollen, gegenseitige Berührungsängste abzubauen und soziale Kompetenzen zu stärken. Deshalb absolvieren alle Auszubildenden am Standort in Tuttlingen im dritten Ausbildungsjahr ein Sozialpraktikum – beispielsweise in Einrichtungen wie der Lebenshilfe Tuttlingen. "So schaffen wir praxisnahe Möglichkeiten und fördern ein inklusives Miteinander von Anfang an", sagt Ines Lützen.
Ein weiteres Anliegen von B. Braun und weiteren Unternehmen aus der Region ist es, Vielfalt sichtbar zu machen. Im Rahmen der jährlichen Tuttlinger Sportveranstaltung "run&fun" fand 2025 bereits zum zweiten Mal der Inklusionslauf statt – mit einem neuen Teilnahmerekord von 265 Personen. "Ziel des Laufs ist es, das Bewusstsein für die Vielfalt und die Bedürfnisse von Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen zu schärfen", erzählt Lützen. Das Teilnehmerfeld sei bunt gemischt gewesen; Menschen mit Rollator, Rollstuhl, Walking-Stöcken, Kinderwagen und Begleithunden gingen gemeinsam an den Start und unterstützten sich gegenseitig auf der Strecke. "Diese gelebte Vielfalt stärkt unsere Unternehmenskultur, weil sie Werte konkret erfahrbar macht." Gleichzeitig wirke sie sich positiv auf das Employer Branding aus: Sie zeige Jobinteressierten, dass B. Braun ein inklusives Arbeitsumfeld bietet, in dem Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen willkommen sind und wertgeschätzt werden.
Gemeinsam Türen öffnen und bürokratische Hürden abbauen
Die Beispiele zeigen: Inklusion ist kein einmaliges Projekt, sondern ein Prozess, der mit Haltung beginnt und von Unternehmen vor allem erfordert, flexibel zu sein und mit Beschäftigten mit Behinderung im Dialog zu bleiben. Dazu gehört es, mit Bildungsträgern und Integrationsfachdiensten zu kooperieren, Führungskräfte und Teams zu sensibilisieren sowie klar zu kommunizieren, dass Vielfalt erwünscht ist.
Auch Entscheidungstragende aus Politik und Verwaltung können einen Beitrag leisten. Ines Lützen von B. Braun wünscht sich vor allem Lösungen, die den betrieblichen Alltag mehr berücksichtigen. Viele Unterstützungsleistungen seien wenig bekannt und in der Praxis schwer zugänglich. "Wir wünschen uns ein einfacheres und pragmatischeres Vorgehen, um bürokratische Hürden abzubauen." Darüber hinaus könnte es laut Lützen hilfreich sein, zentrale Koordinierungsstellen einzurichten, die sowohl Menschen mit Behinderung als auch Arbeitgeber unterstützen. So würden sich Informationen bündeln, Anträge vereinfachen und Abläufe beschleunigen lassen. "Wenn Politik, Verwaltung, Unternehmen und Gesellschaft gemeinsam an einem Strang ziehen, können noch mehr Menschen im ersten Arbeitsmarkt ihren Beitrag leisten", findet Lützen. "Das ist kein Selbstzweck, sondern ein Gewinn für alle: Wer Barrieren abbaut, schafft Chancen, stärkt Vielfalt und profitiert langfristig von einer inklusiven Arbeitswelt."
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