Vom "richtigen" Umgang mit Menschen mit Behinderung
Ich selbst werde oft gefragt, ob man einem Menschen wie mir, der im Rollstuhl sitzt, die Tür aufhalten soll. Ist das übergriffig oder einfach nur freundlich? Ich würde da zu einer einfachen Gegenfrage raten: Wie würde man sich verhalten, wenn es um einen Menschen ohne Behinderung gehen würde? Würde man im Büro einer Kollegin die Tür aufhalten, wenn man sieht, dass sie mit Akten beladen ist? Selbstverständlich, das wäre unbestritten sehr freundlich! Würde man derselben Kollegin die Akten abnehmen, ihr sagen, die sind doch sowieso viel zu schwer für sie als Frau und sie wortlos zu ihrem Schreibtisch tragen – obwohl die Kollegin sie vielleicht zum Aktenschredder bringen wollte? Selbstverständlich nicht. Das wäre nämlich übergriffig und keineswegs hilfreich. Es gibt keine Regeln für guten Umgang mit Menschen mit Behinderung, die sich grundlegend davon unterscheiden, was guter Umgang mit allen Menschen ist.
Behinderung weniger wichtig nehmen
In einer idealen Welt wäre es so, dass es überhaupt keinen Unterschied gibt, ob jemand behindert ist oder nicht. Oder es zumindest nicht relevanter als die Frage ist, ob einer beim ersten Sonnenschein Sommersprossen bekommt oder nicht. Ich weiß aber, dass die Welt nicht so ist, wie ich sie gerne hätte. Vielleicht wird sie es eines Tages, aber bis dahin werden wir noch einige Schleifen drehen. Eine davon ginge vielleicht so: Bevor uns Behinderungen vollkommen egal werden können, dimmen wir ihre Relevanz einfach ein wenig herunter. Lasst uns die Behinderung doch mal so behandeln, als wäre sie bloß ein Thema für Small Talk.
Als ich neulich ins Schwimmbad gegangen bin, muss mich einer der Bademeister schon auf dem Parkplatz gesehen haben. Er sprach mich auf mein Auto an, war enorm interessiert an den technischen Details des Wagens und wie ich ohne Arme und Beine die Pedale bediene, lenke und einparke. Und so kamen wir darauf, dass ich nun einmal so geboren wurde, wie ich geboren wurde, und das Auto mir dabei hilft, alltägliche Dinge allein zu machen. Zum Beispiel ins Schwimmbad zu fahren. Der Bademeister hat meine Behinderung nicht als Defizit gesehen, ich war für ihn kein bemitleidenswerter Sozialfall – er war aufrichtig neugierig, wie mein Alltag aussieht, und hat dafür den Umweg über mein Auto genommen. Ich empfand das als eine Situation, die ich direkt in ein Lehrbuch für vorbildlichen Umgang aufnehmen würde. Der Janis-McDavid-Knigge.
Der Janis-McDavid-Knigge für Inklusion
Es wäre schön, wenn wir uns alle etwas mehr selbst herausfordern würden. Genau wie in der Unterhaltung mit dem Bademeister, dem es gelungen ist, über ein Small-Talk-Thema eine echte Begegnung zu ermöglichen, statt im Mitleid wegen einer Behinderung steckenzubleiben. Wir könnten es uns alle zu einer Art spielerischen Herausforderung machen, Behinderungen im Joballtag subtil zu thematisieren. Ich stelle mir vor, wie eine Führungskraft in einen Aufzug steigt, in dem schon ein Rollstuhlfahrer wartet. Die Führungskraft nimmt wahr, dass die Knöpfe nicht barrierefrei sind, dass der Rollstuhlfahrer sie nicht nutzen kann. Was kann die Führungskraft in dieser Situation sagen?
Möglichkeit 1, der Holzhammer: "Oh, das muss ja unerträglich schwer für Sie als Rollstuhlfahrer in unserem Unternehmen sein. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?"
Möglichkeit 2, die pure Eleganz: "Und, in welchen Stock darf es heute für Sie gehen? So wie ich Sie kenne, wahrscheinlich direkt nach ganz oben?"
Neben solchen Sätzen wie dem letzten, die ich sehr gern einmal hören würde, könnte ich in meinem Arbeitswelt-Knigge auch Sätze versammeln, die ich nie wieder hören möchte: "Oh, ist das toll, was Janis trotz allem schafft." Das ist Respekt unter Vorbehalt. Es ist ein vergiftetes Lob, ein echtes Negativbeispiel von Umgang. Es gibt diesen Satz in vielen Abwandlungen: "Du bist ja ganz witzig – also dafür, dass du eine Frau bist." oder "Du bist ja echt erfolgreich – also dafür, dass du so jung bist."
In den vergangenen Jahren hat sich viel in der Arbeitswelt getan. Dank der engagierten Arbeit von Gleichstellungsbeauftragten, Verbänden und Diversity-Abteilungen sind solche Sätze mittlerweile verpönt. Ich wünsche mir aber, dass solche Sätze auch in Bezug auf Menschen mit einer Behinderung geächtet werden. Sätze wie dieser: "Unser Mitarbeiter leistet hervorragende Arbeit – also dafür, dass er so behindert ist."
Für mich ist das, was ich tue, erst einmal nur das, was ich tue. Nicht mehr. Nicht weniger. Ich steige auf den Kilimandscharo, ich fahre Rennwagen und lerne schwimmen. Ich verdiene mein eigenes Geld – und zwar nicht in einer Behindertenwerkstatt, sondern in der sogenannten freien Wirtschaft. Nicht wegen oder trotz irgendeiner Behinderung. Sondern höchstens mit ihr, denn sie ist ja immer mit dabei. Für mich ist sie ein nahezu neutraler Teil von mir. Wie meine blonden Haare. Wenn andere Menschen sich vornehmen können, dass sie so etwas erreichen wollen, sehe ich keinen Grund, warum ich das nicht auch kann. So gelingt die Ent-Hinderung von Be-Hinderung.
Angenehmes Arbeitsklima für Menschen mit Behinderung schaffen
Ich finde: Egal, ob jemandem Gliedmaßen fehlen oder einer chronisch depressiv ist, ist die Behinderung nur ein Teil dieses Menschen. Nicht das Einzige, was er oder sie ist. Es gibt eine Fülle von Merkmalen, die jeden Menschen auszeichnen. Jeder und jede ist irgendwo geboren, hat einen Beruf, Hobbys und Interessen. Jede und jeder hat Träume und Ambitionen. Manches davon ist sichtbarer als anderes, aber dadurch wird es nicht automatisch wichtig. Viele Menschen, die mir begegnen, halten es für enorm relevant, dass ich keine Arme und Beine habe. Ich persönlich halte es für andere für viel relevanter, dass ich Vegetarier bin.
Das lässt sich, wie die meisten meiner Beispiele, auch auf den Job übertragen: Mitarbeitende mit einer Behinderung eignen sich in einem Unternehmen dazu, als Expertinnen und Experten Sinnvolles zur Barrierefreiheit der Konzernzentrale beizutragen. Aber eben nicht nur. Sie haben auch eine Meinung zu Gehältern, zum Jobticket oder zur Betriebsrente. Sie wollen sich genauso gern im Betriebsrat engagieren oder die Karriereleiter erklimmen. Sie wollen im Pausenraum über Privates quatschen, bevor sie wieder zur Arbeit gehen. Auch sie wollen mit anderen teilen, was sie am Wochenende vorhaben oder wohin sie im Herbst in den Urlaub fahren. Sie wollen gern auch mal über die Chefin lästern – oder den Kollegen necken, der großer Fußballfan ist, weil dessen Herzensverein am Wochenende schon wieder verloren hat. Ich glaube, so ein liebevolles Veräppeln kann zu einem gelösten und angenehmen Klima im Job beitragen.
Buchtipp: Janis McDavid, "All inclusive. Wie wir Job und Alltag barrierefrei machen", Haufe-Verlag, 2025. |
Behinderung und Humor im Arbeitskontext
Aber hat das auch Grenzen? Darf man eigentlich auch Späße mit einem Kollegen machen, der behindert ist? Darf man über chronische Erkrankungen lachen? Darüber, dass einer sehbehindert ist oder Rheuma hat? Unbedingt! Man sollte Menschen mit Behinderungen auch hier nicht ausschließen. Man kann sogar Witze über Menschen mit Behinderung machen, selbst wenn man keine hat. Aber bitte mit Respekt und klarem Blick, worüber wir lachen. Es gibt einen Unterschied zwischen Humor und Diffamierung.
Grundlegend hat Humor, vor allem die Satire, die Aufgabe, Machtverhältnisse aufs Korn zu nehmen. Gemeinsam über Menschen lachen, die mehr Geld, mehr Ruhm, mehr Einfluss haben als man selbst. Das verbindet. Das ist witzig. Darüber kann ich lachen. Ich bin ja selbst jemand, der sich gern immer wieder mal auf den Arm nimmt. Klar, mein Leben hat ja auch weder Hand noch Fuß. (Keine Sorge, wenn Sie nun gelacht haben, Sie sind kein schlechter Mensch. Sie sind nur meiner Einladung gefolgt, über etwas zu lachen, das sich nun einmal die Natur oder Gott oder einfach nur ein kosmischer Zufall ausgedacht haben.) Kann so was auch im Kontext einer Arbeitsbeziehung funktionieren?
Das wahrscheinlich beste Beispiel für so einen zugewandten, freundlichen und angenehmen Humor bezüglich behinderter Menschen ist für mich "Ziemlich beste Freunde" aus dem Jahr 2011. Der Film erzählt die Geschichte von Philippe und Driss. Philippe ist reich, aber verbittert. Driss ist arm, aber für jeden Unsinn zu haben. Philippe ist gelähmt, er sitzt im Rollstuhl, während Driss ein toller Tänzer ist. Ihre beiden Leben kreuzen sich, weil Driss sich bei Philippe als Pfleger bewirbt, die zwei sich also nicht nur als Menschen, sondern auch als Arbeitgeber und Arbeitnehmer zueinander verhalten müssen.
Bemerkenswert ist der Film deshalb, weil er ein seltenes Beispiel dafür ist, einen Menschen mit einer Behinderung in einer Machtposition zu zeigen. Philippe, der Millionär, könnte jederzeit den Stecker ziehen, wenn ihm Driss und sein Verhalten zu blöd werden. Driss weiß das, dennoch testet er Grenzen aus. Er haut derbe Sprüche raus, aber man erkennt immer den Respekt, den er für den alten Mann hat. Als Driss etwa die Sportwagensammlung entdeckt, überredet er Philippe zu einer Spritzfahrt. Driss hat kein Mitleid für die Behinderung. Er möchte, dass Philippe, der Mensch dahinter, seine Lebensfreude wiederentdeckt.
Drei Gründe, warum Mitleid kein guter Umgang ist
Das ist auch genau das, was mir an dem ganzen Film, der auf einer wahren Geschichte beruht, am besten gefällt: Driss hat kein Mitleid und Philippe schätzt ihn deshalb so sehr. Ich sehe es genauso: Manchmal kommen Menschen auf mich zu und sprechen mir, völlig ungefragt, ihr Mitleid aus. Ganz davon abgesehen, dass für Mitleid ja überhaupt erst einmal jemand leiden müsste, was bei mir selten der Fall ist – schon gar nicht in der Disco –, habe ich mit dem Mitleid drei Probleme:
Erstens verstärkt Mitleid das Leid und hilft nicht. Angenommen, jemand leidet unter einem Schicksalsschlag, dann ist ihm mit Mitleid nicht geholfen – eher mit Mitgefühl und der ernst gemeinten Frage: Wie kann ich dir helfen?
Zweitens bewertet ungefragtes Mitleid: Wenn ich auf einer Party ungefragt bemitleidet werde, wird meine Situation von außen bewertet – und zwar, ohne zu fragen, wie ich sie selbst bewerte.
Drittens: Mitleid schafft Hierarchien. Eine Person, die das Mitleid ausspricht, stellt sich automatisch über die andere Person. Und zwar, ohne dass diese etwas dagegen tun kann, wie ich durch viele Erfahrungen weiß. Ein mit Mitleid begonnenes Gespräch lässt sich vom Bemitleideten so gut wie nie in eine konstruktive Begegnung auf Augenhöhe umlenken.
Schlechte Leistung ansprechen - auch bei Menschen mit Behinderung
Mitleid ist also kein guter Umgang – egal ob mit oder ohne Behinderung. "Ziemlich beste Freunde" ist ein Vorbild für jede Arbeitsbeziehung zwischen Menschen mit Behinderung und ohne. Nun ist der Film aber keine Dokumentation über die Arbeitswelt, in der es natürlich mehr rumpelt als in einer freundlichen Komödie. Etwa wenn jemand tatsächlich und objektiv gesehen schlechte Arbeit leistet. Angenommen, eine Geschäftsführerin hat einen Mitarbeiter mit einer Behinderung eingestellt. Eigentlich funktioniert alles super. Bloß gibt es da eine bestimmte Aufgabe: Wenn die Geschäftsführerin sie einem anderen Mitarbeitenden gibt, hat der sie in einer halben Stunde erledigt. Der Mitarbeiter mit Behinderung dagegen braucht einen halben Tag dafür. Die Geschäftsführerin nimmt dieses Missverhältnis wahr, sie will ihm richtig und respektvoll begegnen.
Wie gelingt ihr das? Wie sieht ein guter Umgang aus, wenn es schlecht läuft? So zu tun, als wäre nichts, nur um nichts falsch zu machen, ist die schlechteste Lösung. Das hat nichts damit zu tun, dass der Mitarbeiter eine Behinderung hat. Bei den anderen Mitarbeitenden würde die Geschäftsführerin das ja auch nicht ignorieren. Am besten wäre es also, wenn sie den Mitarbeiter genauso auf das Problem anspricht wie jeden anderen auch. Vielleicht so: "Ich schätze es sehr, wie Sie sich in unser Unternehmen einbringen. Es ist nur so, dass es eine Aufgabe gibt, bei der Sie länger brauchen als andere. Gibt es irgendetwas, das ich als Führungskraft beachten darf, damit wir das ändern? Kann ich Sie unterstützen, wäre es sinnvoll, wenn ich Ihnen jemanden an die Hand geben würde? Wäre es vielleicht sogar besser, wenn ich Sie von der Aufgabe befreie? Was ist Ihre Idee?".
Klingt nach etwas, was die Geschäftsführerin auch zu jedem und jeder anderen Mitarbeitenden hätte sagen können, oder? Genau darum geht es. Ich würde sagen, ein guter Umgang besteht darin, dass man mit allen die gleichen Gespräche führt. Die schlechte Leistung ansprechen – aber niemals in direkten Bezug zur Behinderung setzen. Schließlich würde man das ja auch bei keinem anderen Merkmal wie Geschlecht oder Herkunft tun.
Die Frage nach der richtigen oder falschen Sprache
Zur richtigen Kommunikation gehört eine sensible Sprache, die den Menschen grundsätzlich zugewandt ist, keine Frage. Aber lasst uns das alle ein bisschen entspannter angehen. Solange es keine Wörter sind, die absichtlich verletzen, sehe ich, wenn ihr es versucht, und weiß das zu schätzen. Keine Sorge: Für den Sprachgebrauch im Alltag muss niemand auf dem neuesten Stand des Diskurses in der Community sein.
Ich glaube, dass wir uns verrennen, wenn wir zu viel Energie in eine richtige oder falsche Sprache stecken. Diese Energie können wir besser nutzen. Wir können sie etwa dafür nutzen, uns darauf zu einigen, dass Menschen mit Behinderungen in erster Linie Menschen sind. Ein guter Umgang mit ihnen ist der gleiche wie mit allen anderen Menschen. Im Alltag wie im Job. Wie begegne ich jemandem mit Behinderung, ohne etwas falsch zu machen? Die Frage ist doch absurd. Fragen wir doch lieber: Wie begegne ich grundsätzlich Menschen, und zwar zugewandt und empathisch? Und schon sind wir im Geschäft.
Dieser Text ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch "All inclusive. Wie wir Job und Alltag barrierefrei machen" von Janis McDavid, das 2025 im Haufe-Verlag erschienen ist.
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