Wie man Mitarbeitende mit ADHS unterstützen kann

Mitarbeitende mit ADHS sind unter bestimmten Umständen hoch motiviert und erleben intensive Leistungsschübe. Doch weil zugleich die Fähigkeit zur Selbstregulation beeinträchtigt ist, folgen auf diese Hochphasen nicht selten Erschöpfung, Depression und Burnout. Wie Unternehmen Mitarbeitende dabei unterstützen können, die verhängnisvolle Spirale zu durchbrechen. 

Neurodiversität beschreibt die natürliche Vielfalt neurologischer Funktionsweisen des menschlichen Gehirns. Rund 15 bis 20 Prozent aller Menschen gelten dabei als neurodivergent – sie verarbeiten Informationen anders als neurotypische Menschen. Eine häufige Form ist ADHS, die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, die nicht nur Kinder betrifft: Etwa fünf Prozent aller Erwachsenen zeigen ADHS-Symptome – Tendenz steigend. Viele Erwachsene, insbesondere Frauen und ältere Mitarbeitende, wurden häufig nicht diagnostiziert, sodass die Dunkelziffer möglicherweise noch einmal höher liegt 

Warum ADHS ein Thema für HR-Verantwortliche ist

Lange galt ADHS in der Arbeitswelt als Schwäche und war mit Vorurteilen über Unzuverlässigkeit, Impulsivität und mangelnde Konzentration verbunden. Doch dieser Blick hat sich verändert – nicht nur gesellschaftlich, sondern auch medizinisch. Während früher eine defizitorientierte Sichtweise im Vordergrund stand und ADHS als "Störung" betrachtet wurde, die mit Fehlfunktionen im Gehirn verbunden ist, erkennt die moderne Neurowissenschaft heute die Vielzahl funktionaler neuronaler Muster an. Studien zeigen, dass Unterschiede in der Dopaminverarbeitung und exekutiven Steuerung zwar Herausforderungen im Alltag erzeugen können, gleichzeitig aber auch besondere kognitive Stärken begünstigen – etwa schnelles Denken, hohe Reaktionsfähigkeit, Kreativität und ausgeprägte Problemlösungskompetenz.

Dieser Perspektivenwechsel hat eine große Bedeutung für Unternehmen: Hier steht nicht länger die Anpassung eines Mitarbeitenden mit ADHS an das etablierte System im Fokus, sondern die Gestaltung von Systemen, in denen neurodivergente Mitarbeitende ihre Potenziale entfalten können. Prominente Persönlichkeiten wie Simone Biles oder Michael Phelps, die offen über ADHS sprechen, haben dazu beigetragen, Vorurteile abzubauen und ein neues, ressourcenorientiertes Bild von Mitarbeitenden mit ADHS zu prägen.

Motivation bei ADHS: ein zweischneidiges Schwert

Ein weit verbreitetes Vorurteil gegenüber Menschen mit ADHS lautet: "Die machen nur, was sie wollen." Tatsächlich zeigt unsere Forschung: Mitarbeitende mit ADHS sind unter bestimmten Bedingungen hoch motiviert. Wenn Aufgaben neu, sinnstiftend und abwechslungsreich sind und das Umfeld Wertschätzung bietet, entsteht ein Zustand des sogenannten "Thriving", welcher sich durch hohe Vitalität, Lernbereitschaft und persönliches Wachstum auszeichnet. Viele Mitarbeitende mit ADHS erleben dann einen regelrechten Leistungsschub, getrieben durch Begeisterung, Hyperfokus und den Wunsch, gebraucht zu werden.

Doch hier liegt die Schattenseite: ADHS geht mit einer beeinträchtigten Fähigkeit zur Selbstregulation einher. Das bedeutet, dass Mitarbeitende mit ADHS sich schwertun, rechtzeitig Pausen einzulegen und ihre Energie richtig zu dosieren. Stattdessen arbeiten sie oft exzessiv – über viele Stunden hinweg, ohne Schlaf, ohne Erholung, in einem Zustand dauerhafter Überaktivierung.

Was mit Leidenschaft beginnt, endet nicht selten im Erschöpfungszustand. Viele Mitarbeitende mit ADHS berichten in unserem Forschungsprojekt von starken gesundheitlichen Beeinträchtigungen, Depressionen, Burnout und daraus resultierenden negativen Implikationen für sich selbst und für ihr familiäres Umfeld. Dies ist ein paradoxes Phänomen: Motivation und hohe Leistungsfähigkeit werden mit der Zeit zu einer gesundheitlichen Belastung.

Auch wenn die Leistung stimmt, bringen diese Hochphasen selten nachhaltige Karriereschritte mit sich. Viele Mitarbeitende mit ADHS trauen sich nicht, nach Anerkennung zu fragen oder Verantwortung einzufordern. Die Folge: Nach der Hochphase folgen häufig monotone Aufgaben, die sie unterfordern – und schnell zu Motivationsverlust, innerem Rückzug und Unzufriedenheit führen. Anstatt ein Gespräch mit ihrer Führungskraft zu initiieren, suchen Mitarbeitende mit ADHS neue Herausforderungen häufig in anderen Unternehmen – und kündigen ihre Arbeitsverträge. Ohne gezielte und proaktive Unterstützung durch die Personalabteilung und Führungskräfte wiederholen sich diese Zyklen immer wieder.

Wie Unternehmen gegensteuern können

Unser Forschungsprojekt verdeutlicht, dass es nur einem sehr geringen Teil der Mitarbeitenden mit ADHS gelingt, die beschriebene Spirale aus übersteigerter Motivation, Selbstüberforderung und Erschöpfung eigenständig zu durchbrechen. In den wenigen Fällen, in denen dies gelungen ist, berichten Mitarbeitende übereinstimmend von einschneidenden Lebensereignissen wie einem vollständigen Burnout, einer schweren depressiven Episode oder dem Zerbrechen familiärer Strukturen, die den Wendepunkt markierten. Erst durch die Inanspruchnahme externer psychologischer Unterstützung – etwa in Form von Verhaltenstherapie, Coaching oder strukturierter Selbsthilfeangebote – wurden die Mitarbeitenden in die Lage versetzt, die eigenen Verhaltensmuster zu reflektieren und nachhaltig zu verändern.

Eine wesentliche Erschwernis besteht darin, dass die intensiven Leistungsschübe, die viele Menschen mit ADHS in bestimmten Phasen erleben, zunächst nicht als problematisch wahrgenommen werden. Vielmehr werden sie häufig mit einem gesteigerten Selbstwertgefühl, hoher Produktivität und starker sozialer Anerkennung verbunden. Diese Phasen werden daher sowohl von den Mitarbeitenden selbst als auch von Führungskräften wie Kolleginnen und Kollegen häufig als besonders positiv bewertet – was die Einsicht in eine potenzielle Überlastung zusätzlich erschwert. In der Folge bleiben notwendige Regenerationsphasen aus, Frühwarnzeichen psychischer oder körperlicher Erschöpfung werden ignoriert und eine nachhaltige Selbstfürsorge fehlt.

Mitarbeitende mit ADHS unterstützen: Praxisbeispiele

Umso wichtiger ist es daher, dass Unternehmen geeignete Rahmenbedingungen schaffen, um Mitarbeitende mit ADHS bestmöglich zu unterstützen.

1. Aufklärung und Enttabuisierung im Unternehmen

Der erste Schritt ist Wissen. In vielen Organisationen herrscht noch immer Unkenntnis über ADHS. Viele Mitarbeitende sind unsicher. Sensibilisierung im Rahmen von Diversity-Initiativen, Lunch&Learn-Sessions oder internen Kampagnen kann helfen, Vorurteile abzubauen. Besonders wichtig: ADHS sollte nicht als Schwäche, sondern als Teil menschlicher Vielfalt verstanden werden. Wenn Mitarbeitende mit ADHS spüren, dass sie mit ihren Bedürfnissen ernst genommen werden, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich öffnen und gemeinsam mit der HR-Abteilung an passenden Lösungen arbeiten. 

Ein gutes Beispiel für eine gelungene Aufklärungspraxis bietet ein IT-Dienstleister, der Neurodiversität aktiv in seine interne Kommunikation eingebunden hat. Neben Infoveranstaltungen und Podcast-Folgen mit Mitarbeitenden gibt es eine interne Kampagne, die Mythen über ADHS aufgreift und aufklärt. Dadurch entstand eine Kultur, in der Offenheit gefördert wird und sich erste Mitarbeitende mit ihrer Diagnose sichtbar gemacht haben – was wiederum andere ermutigte, sich Unterstützung zu holen oder über eigene Herausforderungen zu sprechen.

2. Führungskräfte gezielt einbinden und schulen

Führungskräfte spielen eine zentrale Rolle. Denn sie sind es, die Motivationsschübe beobachten, Arbeitsbelastung steuern und Wertschätzung ausdrücken können. Gerade in Hochphasen – wenn alles "läuft" – neigen viele Führungskräfte dazu, sich zurückzuhalten. Doch genau dann ist Aufmerksamkeit gefragt: Mitarbeitende mit ADHS brauchen in diesen Phasen Rückmeldung, Unterstützung und manchmal auch Schutz vor sich selbst. Ein kurzes Gespräch, eine gezielte Lobkultur oder das Einfordern von Pausen können einen wichtigen Unterschied machen und Mitarbeitenden mit ADHS ermöglichen, langfristig auf sehr gutem Niveau leistungsfähig zu sein. Zudem müssen Führungskräfte erkennen: Das Verhalten von Mitarbeitenden mit ADHS ist oft nicht absichtlich "grenzüberschreitend", sondern neurologisch bedingt. Impulsivität oder Reizüberflutung sind Symptome – keine Charakterfehler. 

Ein wohlwollender, strukturgebender Führungsstil kann helfen, Klarheit und Sicherheit zu schaffen. In einem Pharma-Unternehmen beispielsweise wurden Führungskräfte speziell zum Thema ADHS sensibilisiert. Eine Schulung beinhaltete Rollenspiele mit realistischen Szenarien: Wie reagiere ich als Führungskraft, wenn ein Mitarbeitender zwar konstant Spitzenleistungen bringt, aber kaum Pausen macht oder deutlich erschöpft wirkt? Das Ergebnis: Führungskräfte entwickelten eine neue Sensibilität für Warnsignale und lernten, in Hochphasen nicht nur Leistung zu würdigen, sondern gezielt Erholung zu ermöglichen, zum Beispiel durch das Blocken von Pausen im Kalender oder durch temporäre Arbeitsentlastung.

3. Individuelle Entwicklungsmöglichkeiten schaffen

Mitarbeitende mit ADHS brauchen nicht nur spannende Aufgaben, sondern auch Perspektiven. Unsere Forschung zeigt: Viele scheuen sich, nach dem Abschluss eines Projekts den nächsten Karriereschritt anzugehen – aus Angst, Erwartungen nicht zu erfüllen oder zu scheitern. Hier braucht es gezielte Entwicklungsgespräche, aktives Zugehen seitens der Personalabteilung oder der Führungskraft und niedrigschwellige Angebote zur Weiterbildung oder internen Projektrotation. Nur so lassen sich die Potenziale langfristig binden und Überlastung durch Unterforderung vermeiden. 

Ein Beispiel aus der Praxis: In einem Startup wurde nach einem Burnout eines Teammitglieds mit ADHS ein "Entwicklungspfad-Check-in" eingeführt. Dabei fragt die Führungskraft alle acht Wochen aktiv nach Interessenverlagerungen, Überforderung oder Unterforderung. Ergebnis: Das Unternehmen konnte Projektwechsel frühzeitig organisieren, bevor es zu Frustration kam. Gleichzeitig fühlten sich Mitarbeitende ernst genommen. Dies nicht nur als Leistungserbringer, sondern als Individuen mit dynamischen Bedürfnissen.

4. Flexibilität in der Arbeitsgestaltung ermöglichen

Auch die Arbeitsorganisation spielt eine wichtige Rolle. Viele Mitarbeitende mit ADHS profitieren von kurzen Feedbackzyklen, flexiblen Arbeitszeiten, bewegungsfreundlichen Arbeitsplätzen oder ruhigen Rückzugsorten. Die Option, im Wechsel zwischen Büro und Homeoffice zu arbeiten oder sich zwischen unterschiedlichen Projekten zu bewegen, kann helfen, den Reiz des Neuen zu erhalten und Monotonie zu vermeiden. 

Ein mittelständisches Unternehmen im Bereich Design hat Arbeitsplätze eingeführt, die sich flexibel anpassen lassen – ruhige Zonen für Konzentration, Stehschreibtische für Bewegungsbedarf, Rückzugsräume für sensorische Reizüberflutung. Zusätzlich gibt es keine festen Arbeitszeiten. Die Projektverantwortung bleibt zwar, aber wann die Arbeit erledigt wird, können die Mitarbeitenden selbst mitbestimmen. Gerade Mitarbeitende mit ADHS profitieren stark von diesen Freiheiten, weil sie ihre Leistung an ihre Energiephasen anpassen können.

5. Frühzeitige Unterstützung aktiv anbieten

Zuletzt ist es entscheidend, dass Personalabteilungen nicht erst dann eingreifen, wenn die Erschöpfung sichtbar wird. Angebote wie interne Coachings, Zugang zu externen Beratungsstellen oder klare Ansprechpartner für neurodivergente Mitarbeitende sollten sichtbar, erreichbar und freiwillig sein. Wer frühzeitig Unterstützung erfährt, kann Strategien entwickeln, um mit der eigenen Energie besser hauszuhalten – und langfristig gesund zu bleiben. 

Ein Beispiel hierfür ist ein großes Finanzunternehmen, das interne Anlaufstellen geschaffen hat, bei denen sich Mitarbeitende mit psychischen Belastungen (inklusive ADHS) diskret melden können. Dort erhalten sie schnell Zugang zu Kurzzeit-Coachings, individueller Arbeitsplatzgestaltung oder auch Peer-Support-Gruppen. Seitdem hat sich die durchschnittliche Krankheitsdauer aufgrund psychischer Erschöpfung in den betroffenen Teams deutlich reduziert.

Mitarbeitende mit ADHS: Vom Tabuthema zur Gestaltungschance

ADHS muss kein Risiko sein – wenn Organisationen bereit sind, die Rahmenbedingungen anzupassen. Was heute noch als "Herausforderung" gilt, kann morgen zur Stärke werden. Denn Mitarbeitende mit ADHS bringen oft genau die Fähigkeiten mit, die moderne Unternehmen dringend brauchen: Kreativität, Agilität, Energie und Veränderungsfreude. Doch diese Potenziale lassen sich nur entfalten, wenn Führung, HR und die Organisation gemeinsam daran arbeiten, neurodivergente Talente nicht ausbrennen, sondern aufblühen zu lassen.

Dieser Beitrag ist erschienen in Personalmagazin 6/2025. Als Abonnent haben Sie Zugang zu diesem Beitrag und allen Artikeln dieser Ausgabe in unserem Digitalmagazin als Desktop-Applikation oder in der Personalmagazin-App.


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