Mein heutiges Thema klingt wie eine Scherzfrage, ist aber eine ziemlich ernste Angelegenheit: Dürfen Vorgesetzte unterstellte Manager übergehen? Gemeint ist die Abwägung, wann Führungskräfte höherer Hierarchiestufen sinnvollerweise direkt mit Mitarbeitenden an der Basis in den Austausch gehen – und dabei deren direkte Vorgesetzte außen vor lassen.
In klassischen Organisationen ist solches Vorgehen heikel. Denn wenn der "Chef-Chef" ohne Ankündigung anklopft, kann das Irritationen auslösen. Die direkte Führungskraft fragt sich: "Traut mein Chef mir nicht? Umgeht er mich bewusst?" Die Mitarbeitenden mutmaßen: "Ist etwas passiert? Warum meldet sich die Chef-Chefin persönlich?"
Um dieses Feld zu sortieren, lohnt sich ein Blick auf die Forschung zu "Skip-Level Leadership". Der brandaktuelle Überblicksartikel von Schilpzand und Kollegen im Leadership Quarterly bringt etwas Ordnung ins fragmentierte Bild ("Leadership in layers: An integrative review on skip-level leadership and an agenda for future research"). Er identifiziert drei zentrale Wechselwirkungen:
- Die direkte Beziehung zwischen Skip-Level-Leader und Mitarbeitenden (die meist erst durch Skip-Level Leadership entsteht),
- Die Beziehung zwischen Skip-Level-Leader und der Führungskraft dazwischen (die durch Skip-Level Leadership herausgefordert wird),
- Der organisationale Kontext (der beide Beziehungen prägt). Ist er von Vertrauen, Kollegialität und wenig hierarchischer Attitüde bestimmt, wirkt er förderlich auf Skip-Level Leadership; ist das Gegenteil der Fall, ist Skip-Level Leadership eine heikle Sache.
Nun folgen meine Schlussfolgerungen, wann sich solche Interventionen der oberen Führungskader anbieten und wann eher nicht.
Wann Skip-Level Leadership eine Option ist
- In Phasen des Wandels: Bei Wachstum, Reorganisationen oder Kulturveränderungen wirkt Skip-Level Leadership vertrauens- und engagementfördernd: Es schafft Nähe zu "denen da oben", gibt Orientierung und generiert Vertrauen.
- Um Frühwarnindikatoren zu erfassen: Ob Teamklima, Konflikte, ethische Spannungen oder Innovationshemmnisse - Skip-Level-Leader erkennen gerade dank ihrer Distanz und ihres Überblicks verdeckte Muster, die auf Linienebene oft nicht sichtbar werden.
- Wenn die direkte Führungskraft eingebunden ist: Skip-Level wirkt dann positiv, wenn die Ebene dazwischen nicht übergangen, sondern informiert, einbezogen und als Partner behandelt wird. Das verhindert Verunsicherung auf allen Seiten.
- Wenn Skip-Level-Leader als legitim und vertrauenswürdig gelten: Je stärker sie für die Organisation stehen und je integrer sie wahrgenommen werden, desto wirkungsvoller ist ihre Intervention.
- In teamorientierten Kulturen: Wo Austausch auf Augenhöhe das ganze Unternehmen prägt, wird Skip-Level Leadership positiv bewertet.
- Als Routine, nicht als Ausnahme: Regelmäßige Skip-Level-Formate (z. B. quartalsweise) normalisieren den Austausch über Hierarchiestufen hinweg und verhindern Stigmatisierung der übergangenen Führungskraft.
Und wann sollten Führungskräfte lieber Abstand davon nehmen, ihnen unterstellte Führungskräfte zu übergehen und sich direkt an deren Mitarbeitende zu wenden?
Wann Skip-Level Leadership kontraproduktiv ist
- In kleinen Belegschaften oder bei flachen Hierarchien: Dort entsteht schnell der Eindruck von Mikromanagement oder Kontrollbedürfnis – es sei denn, die Chef-Chefin ist ohnehin dauerhaft präsent an der Basis.
- Wenn die Absicht unklar ist: Wird Skip-Level als Kontrolle, Kritik oder Profilierung erlebt, verwandelt sich der positive Effekt ins Gegenteil.
- In Ad-hoc- oder Kriseneinsätzen: Skip-Level als Feuerwehrmaßnahme ("Ich gehe da jetzt mal rein") stigmatisiert Teams und beschädigt die Linienführung.
- In Kulturen mit starkem Machtabstand oder Wettbewerb: Hier werden Skip-Level-Interventionen eher als Eingriff "von oben" denn als Dialog verstanden.
- Bei destruktivem Führungsverhalten: Autoritäre und narzisstische Skip-Level-Leader verstärken Angst, Rückzug und Antichambrieren bei den heimgesuchten Mitarbeitenden.
- Wenn keine Anschlusskommunikation erfolgt: Ohne Zusammenfassung, Anonymisierung und gemeinsame Ableitung von Maßnahmen bleibt Misstrauen zurück.
Halten wir daher fest, was aus all dem folgt.
Wenn schon Skip-Level – dann bewusst, transparent, partnerschaftlich
Skip-Level Leadership ist ein Präzisionsinstrument. Es entfaltet seinen Wert, wenn seine Ziele offengelegt werden, es transparent ins Führungshandeln aller Ebenen eingebettet und gemeinsam mit der Linienführung gestaltet wird. Es schadet, wenn es impulsiv, verdeckt oder aus Kontrollimpulsen heraus erfolgt. Wer immer erwägt, als Chef-Chefin ihr unterstellte Führungskräfte zu übergehen, sollte dringend die hier aufgeführten Punkte noch einmal durchlesen.
Randolf Jessl ist Inhaber der Kommunikations- und Leadershipberatung Auctority. Er berät, trainiert und coacht Menschen und Organisationen an der Schnittstelle von Führung, Kommunikation und Veränderungsanliegen. Zusammen mit Prof. Dr. Thomas Wilhelm hat er bei Haufe das Buch " Shared Leadership" veröffentlicht.