"Leadership Fatigue" ist heilbar


Kolumne Leadership: Wie Führungskräfte entlastet werden können

Führen und Folgen sind die Grundlage gelingender Zusammenarbeit. Doch ihre Voraussetzungen unterliegen dem Wandel. Unser Kolumnist Randolf Jessl beleuchtet diesmal die Frage: Wie können Führungskräfte entlastet werden?

Führung steht unter Druck. Die Zeiten sind kompliziert. Der Job ist fordernd, oft sogar zermürbend. Kein Wunder, dass es das Phänomen "Leadership Fatigue" gibt. Diese Ermattung in Führungsfragen zeigt sich auf zwei Arten. Zum einen sind Führungskräfte selbst erschöpft. Studien zeigen, dass das für gut jede zweite Führungskraft gilt. Zum anderen wollen viele junge Menschen gar nicht mehr führen. Das zeigen Erhebungen der Boston Consulting Group. Expertenlaufbahnen erscheinen ihnen attraktiver.

Vor diesem Hintergrund drängen sich die Fragen auf: Wie können Führungskräfte entlastet werden? Wie lässt sich Führung von Ballast befreien? Darauf gibt es zwei Antworten: indem man die Ansprüche an Führung herunterschraubt – und auch den Workload.

Zwischen Arbeitslast und Erwartungsdruck

So berichten in einer Umfrage von Gartner 53 Prozent der Befragten, dass ihre Aufgaben und Verantwortlichkeiten seit Corona stark zugenommen haben. Das Hamsterrad der Führung umfasst in der Regel so unterschiedliche Kompetenzfelder wie fachliche Führung, Businesssteuerung, Menschenführung und Repräsentation in Gremien und Veranstaltungen. 49 Prozent der Befragten beklagen zudem, dass ihre Aufgaben immer komplexer werden. Und 41 Prozent ächzen unter der Zahl an Entscheidungen, die sie laufend treffen müssen. Zeit also auszumisten und überzogene Ansprüche an Führungskräfte als eierlegende Wollmilchsäue herunterzuschrauben.

Und wer kann das tun? Natürlich all jene, die Führungskräfte einsetzen: Firmenchefinnen, Personalleiter, Aufsichtsgremien. Aber auch alle jene, die gerne über die Führung maulen, jedoch selbst nicht gerne führen. Sie sind dringend dazu angehalten, erwachsen zu werden. Mitarbeitende können Führungsbedarfe reduzieren, indem sie mitdenken, Verantwortung übernehmen und, soweit erlaubt und möglich, selbst entscheiden.

Wie sich Führungskräfte Luft verschaffen

Vor allem aber hat es die Führungskraft selbst in der Hand, wie sehr sie ihr Job erschöpft – indem sie sich von einer Lebenslüge befreit. Denn ob ihre Führung erfolgreich ist, hängt nicht nur von ihrer Person allein ab. Es hängt auch davon ab, wie Führung organisiert ist. Wer sich das klarmacht, senkt den Erwartungsdruck und erweitert seine Handlungsmöglichkeiten. Sich bei Leadership-Fragen auf die Führungsperson zu fixieren und zu erwarten, dass diese alles können, lösen, schlichten, voranbringen und entscheiden muss, führt ziemlich sicher in den Burnout. Das entspricht auch nicht der ganzen Wahrheit über Führung.

Schon lange zeigt die Führungsforschung: Führung wird direkt und indirekt geleistet. Persönliche Interventionen der Führungskräfte sind genauso bedeutsam für den Führungserfolg wie die Regeln, Rollen und Räume, die Mitarbeitende dazu ermächtigen, Eigeninitiative und Verantwortung zu übernehmen. Darauf haben nun auch mit Nachdruck die Organisationssoziologen Stefan Kühl und Judith Muster in ihrem brandneuen Büchlein "Führung managen" hingewiesen. "Wer über Führung reden will, sollte über Organisation nicht schweigen", lautet das Fazit ihres starken Plädoyers dafür, mehr Augenmerk auf die organisatorischen Rahmenbedingungen von Führung zu richten.

Was Führungssubstitute sind und leisten

Und wie lässt sich das bewerkstelligen? Muster und Kühl listen mehrere Führungssubstitute auf, die es Führungskräften ersparen, direkt ins Handeln von Personen oder Gruppen einzugreifen. So erzeugen Regeln, Routinen, Pläne oder Zielvorgaben Sicherheit darüber, was erwartet wird. Das macht Führung in vielen Situationen überflüssig. Wenn klar definiert ist, wie ein Antrag zu bearbeiten ist, braucht es keine Führungskraft, die den Ablauf erklärt oder Entscheidungen trifft.

Organisierte Kommunikationsstrukturen, wie etwa Berichtswege, Gremien oder Feedbackschleifen, schaffen Orientierung darüber, wer mit wem worüber spricht. Das verringert den Bedarf an direkter Führung. So reduzieren regelmäßige Jour Fixes oder Eskalationswege den situativen Führungsbedarf. Schließlich beeinflusst auch die Art, wie Organisationen aufgebaut sind – beispielsweise in Bezug auf Zentralisierung, Matrixstrukturen oder Rollenprofile –, wie viel Führung nötig ist. Eine eingeschliffene Ablauforganisation mit klaren Verantwortlichkeiten und Prozessen reduziert den Bedarf an situativer Führung.

Auch künstliche Intelligenz taugt als Entlastungswerkzeug

Hinzu kommt neuerdings noch die Entlastung durch KI-Tools. Auch hier eröffnen sich rasant neue Möglichkeiten - sei es, dass künstliche Intelligenz dabei unterstützt, Entscheidungen zu treffen, Führungsgespräche zu simulieren, Teamansprachen zu optimieren, den eigenen Workload zu strukturieren oder Stimmungen im Team nachzuverfolgen. Selbst als Coach in Führungsfragen kann generative KI heute schon dienen – zur Not auch über Spracheingabe während der Autofahrt.

Wer Führung teilt, reduziert seine Führungsaufgaben

Zu guter Letzt wäre noch auf die Möglichkeit hinzuweisen, Führung auf mehrere Schultern zu verteilen. Das kann über Rollen und Verantwortlichkeiten geschehen (Lesetipp: "Führung abgeben: Wer wagt, gewinnt"). Wer einen People Lead oder Scrum Master in seinem Team hat, muss sich als Führungskraft um Teamdynamiken kaum mehr kümmern. Wer nach dem Beispiel soziokratischer Organisationsmodelle einen "Facilitator" oder "Operating Officer" im Team ernennt, hat alle lästigen Pflichten um das Absprechen und Nachhalten von Themen, Terminen und Tätigkeiten vom Hals. Forschung zu "Shared Leadership" hat die Erfolgsfaktoren und positiven Effekte hiervon umfassend beleuchtet.

Deshalb: Leadership Fatigue ist ein Problem, das sich lösen lässt. Dann nämlich, wenn alle in Sachen Führung umdenken, die Erwartungen an Führungskräfte auf das Leistbare zurückschrauben, Mitarbeitende zu Co-Leadership befähigen und entlastende Führungssubstitute zum Einsatz kommen.


Randolf Jessl ist Inhaber der  Kommunikations- und Leadershipberatung Auctority. Er berät, trainiert und coacht Menschen und Organisationen an der Schnittstelle von Führung, Kommunikation und Veränderungsanliegen. Zusammen mit Prof. Dr. Thomas Wilhelm hat er bei Haufe das Buch " Shared Leadership" veröffentlicht.