Menschen mit Behinderung

Erste Weichen für mehr Inklusion stellen


Mehr Inklusion im Unternehmen: 5 konkrete Maßnahmen

Fachkräfte sind knapp, dennoch werden Menschen mit Behinderung oft übersehen. Viele Unternehmen wollen inklusiver werden, wissen aber nicht, wo sie anfangen sollen. Fünf konkrete Maßnahmen zeigen, wie Arbeitgeber Barrieren abbauen und Vielfalt fördern können.

Laut Statistischem Bundesamt lebten in Deutschland zum Jahresende 2023 rund 7,9 Millionen Menschen mit Schwerbehinderung – das sind etwa 9,3 Prozent der Gesamtbevölkerung. Etwa 40 Prozent von ihnen sind laut der Auswertung "Arbeitsmarktsituation schwerbehinderter Menschen 2024" der Bundesagentur für Arbeit zwischen 15 und 64 Jahre alt und damit im erwerbsfähigen Alter. Die Auswertung zeigt allerdings auch, dass die Arbeitslosenquote in dieser Personengruppe überdurchschnittlich hoch ist: Lag die Arbeitslosenquote für alle in Deutschland im Jahr 2024 insgesamt bei 7,3 Prozent und damit um 0,4 Prozentpunkte höher als im Vorjahr, so war sie im gleichen Jahr bei Personen mit Schwerbehinderung um 0,6 Prozentpunkte auf 11,6 Prozent gestiegen.

Gleichzeitig bleibt der Fachkräftemangel für viele Organisationen eine zentrale Herausforderung: In der Fachkräfteengpassanalyse der Bundesagentur für Arbeit  wurden 2024 in etwa 163 der rund 1.200 bewerteten Berufe Engpässe festgestellt – in jedem achten Beruf fällt es also schwer, qualifiziertes Personal zu finden. Obwohl das neunte Sozialgesetzbuch Arbeitgeber ab 20 Mitarbeitenden verpflichtet, mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit Menschen mit Schwerbehinderung zu besetzen, bleibt die Quote oft unbeachtet. Viele Unternehmen zahlen lieber die Abgabe, statt den Recruiting-Prozess und den Arbeitsplatz inklusiver zu gestalten. Doch die Frage ist, wie lange es sich Arbeitgeber noch leisten können, dieses Potenzial ungenutzt zu lassen. Hinzu kommt, dass vielfältige Perspektiven eine Bereicherung für jede Organisation sind und eine inklusive Kultur ihr Image als Arbeitgeber und Unternehmen verbessern kann.

Was bedeutet Behinderung?

Laut Sozialgesetzbuch versteht man in Deutschland unter Menschen mit Behinderungen diejenigen, deren körperliche Funktionen, geistige Fähigkeiten oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem typischen Zustand für ihr Lebensalter abweichen und deren Teilhabe am Leben in der Gesellschaft dadurch beeinträchtigt ist. Dabei wird häufig nicht die Abweichung selbst zur Herausforderung, sondern die Wechselwirkungen mit Umweltfaktoren – etwa Stigmatisierung, fehlende Barrierefreiheit oder Vorurteile. Behinderung entsteht also vielmehr dadurch, wie die Gesellschaft darauf reagiert.

So haben unter anderem die Aktion Mensch und andere aktivistische Bewegungen den Satz etabliert "Man ist nicht behindert, man wird behindert." Beispielsweise könnte sich eine Person, die einen Rollstuhl nutzt, problemlos in einem Gebäude mit Fahrstuhl und niedrigen Türschwellen bewegen – fehlen diese Voraussetzungen, dann wird die Person durch die Treppenstufen oder andere Barrieren behindert. Ähnliches gilt, wenn eine IT-Infrastruktur nicht mit Screenreadern oder Spracherkennung kompatibel ist. Behinderung ist demnach kein medizinisches, sondern ein soziales Modell. Aktivistinnen und Aktivisten bezeichnen häufig auch nicht-behinderte Menschen als "temporary able-bodied" (deutsch: "zeitweise nicht-behindert"), da spätestens im Alter so gut wie jede Person in gewisser Weise eine Behinderung erleben wird.

Maßnahme 1: Haltung zeigen und Bewusstsein schaffen

Laut dem Verein Sozialhelden erleben Menschen mit Behinderung häufig Vorurteile und mangelndes Wissen oder Bewusstsein als belastende Stigmatisierung oder Diskriminierung. Das zeigt: Inklusion beginnt in den Köpfen. Die Einstellung auf Führungsebene prägt die Kultur eines Unternehmens stark. Nur wenn Arbeitgeber Inklusion als Chance und Wert erkennen, anstatt sie als Pflicht oder Notwendigkeit zu sehen, können sie die Diversität im Unternehmen nachhaltig steigern.

Führungskräfte müssen klar kommunizieren, dass Vielfalt erwünscht ist. Für ihre Teams sind Schulungen empfehlenswert, die für das Thema sensibilisieren, Vorurteile abbauen und zeigen, wie Barrierefreiheit aussehen kann.

Maßnahme 2: Strukturen prüfen und anpassen

Damit Inklusion gelingt, reicht eine positive Haltung allein aber nicht aus. Entscheidend ist, dass Unternehmen ihre Strukturen und Prozesse systematisch prüfen. Denn oft sind es Kleinigkeiten, die – meist unbewusst – große Barrieren schaffen. Dafür sollten sich Unternehmen verschiedene Aspekte ansehen.

  • Recruiting: Unternehmen sollten in ihrer Darstellung zunächst auf ihre Sprache achten: Stellenanzeigen enthalten häufig unnötige Ausschlusskriterien wie "körperlich belastbar" oder "Führerschein zwingend erforderlich", auch wenn sie nicht jobrelevant sind. Solche Formulierungen schrecken viele Jobinteressierte mit Behinderung ab. Digitale Bewerbungsplattformen sollten so gestaltet sein, dass Screenreader funktionieren und Formulare ohne Maus navigierbar sind. Auch Offenheit ist hilfreich: Schon ein einfacher Zusatz wie "Bewerbungen von Menschen mit Behinderung sind ausdrücklich erwünscht" signalisiert Wertschätzung und senkt Hemmschwellen. 
  • Arbeitsplatzumgebung und Technik: Zu den Grundlagen eines inklusiven Arbeitsplatzes gehört es, physische Barrieren abzubauen, etwa durch Rampen, Aufzüge, breite Türen oder höhenverstellbare Tische. Aber auch Kleinigkeiten wie kontrastreiche Beschilderung oder induktive Höranlagen in Besprechungsräumen sind wichtig. Digitale Barrierefreiheit sollte auch in internen Tools, Lernplattformen oder Meeting-Software gegeben sein. Die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) gibt hier Standards vor und bietet Checklisten.
  • Feedbackkultur und Bestandsaufnahme: Ein Barrieren-Check im Unternehmen, zum Beispiel mithilfe von Checklisten der Aktion Mensch oder der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen, schafft Klarheit und kann erste, unkomplizierte Maßnahmen sichtbar machen. Am wirksamsten ist es aber, Betroffene selbst einzubeziehen: Mitarbeitende mit Behinderung können am besten einschätzen, wo Barrieren im Alltag bestehen und wie sie beseitigt werden können. Zudem sind die Bedürfnisse individuell. Deshalb sollten Führungskräfte von sich aus auf neueingestellte Personen zugehen und fragen, was sie brauchen.

Wer seine Strukturen auf Barrieren prüft, sendet ein klares Signal: Wir wollen wirklich offen sein – und nicht nur auf dem Papier. Unternehmen profitieren doppelt: Sie vermeiden Diskriminierung und eröffnen sich zugleich den Zugang zu qualifizierten Personen, die sich sonst gar nicht beworben hätten.

Maßnahme 3: Auf (Bild)Sprache achten

Egal ob auf der Karriereseite, in Stellenanzeigen, im Intranet oder im persönlichen Gespräch – Sprache und Bildwelt transportieren Vorstellungen, wie Behinderung gesehen und wahrgenommen wird. Leidmedien, ein Projekt des Vereins Sozialhelden, bietet beispielsweise einen klaren Leitfaden , wie Begriffe über Behinderung sensibel und korrekt verwendet werden können.

Zu inklusiver Sprache gehört unter anderem:

  • Personen-zuerst Formulierungen verwenden: zum Beispiel "Menschen mit Behinderung" statt "behinderte Menschen" oder "der Behinderte".
  • Begriffe prüfen, die oft unüberlegt genutzt werden, zum Beispiel "Handicap", "taubstumm", "invalide", "Pflegefall". 
  • Metaphern bewusst einsetzen oder vermeiden: Formulierungen wie "trotz seiner Behinderung" oder "das Leben meistern" können suggerieren, Behinderung sei eine außerordentliche Belastung. Besser: neutral benennen. 
  • Bildauswahl reflektieren: Wird auf Bildern eine Vielfalt gezeigt, zum Beispiel sichtbare und unsichtbare Behinderungen und verschiedene Lebensrealitäten? Werden Betroffene möglichst in selbstbestimmten Rollen dargestellt – nicht als Objekte der Fürsorge oder des Mitleids?
  • Betroffene einbeziehen: Wenn möglich, Menschen mit Behinderung oder Selbstvertretungsorganisationen fragen, wie sie abgebildet werden möchten oder wie Begriffe wirken. Das erhöht Authentizität und vermeidet unbeabsichtigte Fehler.

Maßnahme 4: Unterstützung nutzen

Unternehmen sind dabei nicht auf sich allein gestellt: Es gibt zahlreiche Beratungs- und Förderangebote, die Arbeitgeber bei den beschriebenen Maßnahmen entlasten können. Beispielsweise können Unternehmen von der Agentur für Arbeit oder dem Jobcenter Eingliederungszuschüsse  beantragen, wenn sie Menschen mit Behinderungen eine betriebliche Aus- oder Weiterbildung ermöglichen. Integrationsämter übernehmen teilweise auch Kosten für Hilfsmittel wie Screenreader, höhenverstellbare Tische oder Gebärdensprachdolmetscher.

Der Integrationsfachdienst (IFD)  berät Arbeitgeber zu allen Fragen rund um die Beschäftigung von Menschen mit Schwerbehinderung, etwa welche Anpassungen nötig sind und wie man geeignete Arbeits- beziehungsweise Ausbildungsplätze erschließen kann. Gemeinnützige Vereine wie Aktion Mensch, Charta der Vielfalt oder Sozialhelden bieten praxisnahe Leitfäden, Checklisten und Netzwerke.

Maßnahme 5: Inklusion leben und kommunizieren

Wichtig ist jeoch: Inklusion ist kein Projekt, das irgendwann erfolgreich beendet ist, sondern ein Prozess. Wichtig ist, dass Unternehmen Mitarbeitende mit Behinderung von Anfang an einbeziehen und sich regelmäßig von ihnen Feedback einholen: Was läuft gut, wo braucht es Anpassungen?

Nach außen können Unternehmen Best Practices in Social Media, im Karriereportal oder im Unternehmensblog zeigen, dass sie Inklusion leben – etwa, indem sie Erfolgsgeschichten teilen. Das zahlt auch auf das Employer Branding ein, vor allem, wenn es darum geht, Nachwuchstalente zu gewinnen: Laut der Studie "Diversity und Inklusion – das erwarten Fachkräfte von zukünftigen Arbeitgeber:innen"  der IU Internationalen Hochschule legen 75,1 Prozent der Auszubildenden und Studierenden großen Wert darauf, dass Unternehmen Maßnahmen zur Förderung von Diversity und Inklusion umsetzen. Eine Mitgliedschaft in Initiativen wie der Charta der Vielfalt und anderen Netzwerken oder die Teilnahme an Wettbewerben wie zum Beispiel dem Inklusionspreis für die Wirtschaft schaffen zusätzliche Sichtbarkeit. Wichtig ist dabei Authentizität: Jobsuchende merken meist schnell, ob ein Unternehmen Inklusion wirklich ernst meint oder nur zur Außendarstellung nutzt.

Natürlich muss nicht von Anfang an alles perfekt sein. Es ist völlig normal, dass Arbeitgeber nicht gleich alle Aspekte auf einmal berücksichtigen können. Wichtig ist, überhaupt anzufangen, Haltung zu zeigen und die Strukturen – eventuell mit Unterstützung – nach und nach anzupassen. Vor allem aber sollten sie im Dialog bleiben und sich lernbereit zeigen – und auch für Fehler und Versäumnisse Verantwortung übernehmen und sie bei der nächsten Gelegenheit ausbessern.


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Schlagworte zum Thema:  Inklusion , Recruiting
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