Warum zu viel Harmonie die Produktivität zerstört
Ein international tätiger Maschinen- und Anlagenbauer mit mehreren Tausend Mitarbeitenden stand vor einer tiefgehenden Krise. Zwei zentrale Führungskräfte – der Leiter Entwicklung und der Leiter Marketing – hatten sich über Jahre als leistungsstarke Gegenpole etabliert. Ihre Konkurrenz belebte das Geschäft, bis sie in offenen Widerstand umschlug. Meetings endeten in gegenseitigen Blockaden, Projektentscheidungen kamen nicht mehr zustande. Schließlich schwappte das Klima auf ihre Abteilungen über. Dieser Konflikt wirkte sich unmittelbar auf den Arbeitsalltag aus: Beispielsweise verzögerte sich die Markteinführung eines innovativen Maschinenteils um mehrere Monate, da Abstimmungen zwischen Entwicklung und Marketing dauerhaft blockiert wurden. Projektteams berichteten von Frustration und erhöhter Fehlerquote, da Entscheidungen ungeklärt blieben und wichtige Ressourcen fehlgeleitet wurden. Die Auswirkungen waren also nicht abstrakt, sondern konkret greifbar und beeinträchtigten Produktivität und Innovationskraft deutlich.
Wenn Konflikte verboten werden
Die Unternehmensleitung interpretierte die Auseinandersetzung zunächst als "Persönlichkeitsproblem" und reagierte mit klassischen Harmoniemaßnahmen: Teambuilding, Moderationsworkshops und Appelle an "gemeinsame Werte". Als dies keine Wirkung zeigte, erhöhte das Management den Druck – Konfliktvermeidung wurde angeordnet, Kritik sanktioniert. Das Ergebnis: formeller Frieden bis hin zur inneren Kündigung und eine sinkende Innovationskraft.
Die Teambuilding-Maßnahmen fanden unter Leitung externer Moderatoren statt und enthielten Workshops zur Förderung gemeinsamer Werte und Kommunikationsregeln. Inhalte wie aktives Zuhören, konstruktive Rückmeldungen und gewaltfreie Kommunikation standen im Mittelpunkt. Bei den Moderationsworkshops wurde zudem der Umgang mit schwierigen Gesprächen und die Konfliktklärung in Meetings trainiert. Die Erhöhung des Drucks manifestierte sich in verbindlichen Vorgaben, Konflikte zu vermeiden, und in Einzelgesprächen, in denen Führungskräfte auf Einhaltung dieser Regeln verpflichtet wurden. Sanktionen umfassten Verwarnungen bis zu negativen Einflussnahmen auf Leistungsbeurteilungen. So entstand ein Klima der Angst und Zurückhaltung, das die Probleme nur verdeckte, statt sie zu lösen.
Intervention bei Konflikten: Struktur statt Konsenszwang
In Zusammenarbeit mit der Personalabteilung begleitete das beratende Team den Prozess und entwickelte ein dreistufiges Vorgehen, um den Konflikt nicht zu unterdrücken, sondern zu strukturieren.
1. Diagnose mittels Konfliktlandkarte
Gemeinsam mit HR wurden in Einzelinterviews mit zwanzig Schlüsselpersonen Konfliktlinien, Loyalitäten und Eskalationsmuster erfasst und visualisiert. Dabei zeigte sich schnell: Der Streit diente als Stellvertreter für tiefere Themen wie Machtverteilung, Anerkennung und unterschiedliche Werteverständnisse (beispielsweise Technologie- versus Marktlogik).
Die Auswahl der zwanzig Schlüsselpersonen erfolgte repräsentativ und schloss neben den beiden Konfliktparteien sowohl weitere Führungskräfte als auch Mitarbeitende aus betroffenen und angrenzenden Abteilungen ein. Die Konfliktlandkarte wurde mittels qualitativer Interviews erstellt und mithilfe digitaler Analysetools visualisiert. Dabei wurden Beziehungen, Loyalitäten und Eskalationsmuster abgebildet, um verborgene Macht- und Wertekonflikte hinter den oberflächlichen Spannungen sichtbar zu machen.
2. Einrichtung eines Streitforums
HR und die Beraterinstitution initiierten ein strukturiertes Format, moderiert von internen Coaches und begleitet durch zwei externe Konfliktexperten und führten monatliche Streitgespräche mit fester Agenda durch. Die internen Coaches wurden aufgrund ihrer sozialen Kompetenz und Erfahrung in Konfliktmoderation ausgewählt und speziell in Methoden wie gewaltfreier Kommunikation geschult. Ihre Aufgabe war es, die Streitgespräche zu strukturieren, auf das Einhalten von Gesprächsregeln zu achten und neutral zu moderieren. Die feste Agenda beinhaltete die Eröffnung mit Zielklärung, Darstellung der Konfliktthemen durch die Streitparteien, vertiefte Ursachenanalyse, gemeinsame Lösungsfindung und abschließende Vereinbarung der nächsten Schritte. Themen kamen sowohl von den direkten Beteiligten als auch von Beobachtern oder HR, um auch verdeckte Konflikte sichtbar zu machen. Die Protokollierung der Streitpunkte diente dazu, emotionale Konflikte zu entpersonalisieren und die Diskussion auf die Sachebene zu lenken. Dieses Format förderte das Verständnis für die Gegenseite und etablierte nachhaltig eine konstruktive Streitkultur.
Es wurden klar definierte Rollen verteilt, die sich auf Streitparteien, Beobachter und Moderatoren erstreckten. Die Protokollierung der Streitpunkte und Ableitung gemeinsamer Handlungsfelder fand jeweils im Anschluss statt und wurde allen Teilnehmenden zur Verfügung gestellt. Beispielsweise dokumentierte das Protokoll, wenn eine Streitpartei einen Prozessschritt als unklar kritisierte, was dann gemeinsam analysiert wurde, ohne dass persönliche Schuldzuweisungen stattfanden. Dies führte dazu, dass Auseinandersetzungen zunehmend weniger emotional und mehr sachlich geführt wurden. Das Projektteam konnte so konkrete Maßnahmen ableiten, wie beispielsweise eine klarere Aufgabenverteilung, die dann unter regelmäßiger Beobachtung weiter optimiert wurde. Das Entpersonalisieren der Konflikte trug maßgeblich dazu bei, dass Auseinandersetzungen produktiv blieben.
3. Konflikttraining in der Führungskultur verankern
Auf Initiative von HR und der Beratung entstand ein dreitägiges Training "Konfliktführerschein für Führungskräfte". Inhalte: Konfliktdiagnose, Eskalationsstufen und Haltungsarbeit in strittigen Situationen. Ergänzend wurde ein internes Kommunikationsprinzip eingeführt: "Widerspruch ist erlaubt, solange er begründet ist."
Das Training umfasste praxisnahe Übungen wie Rollenspiele zum Erkennen von Eskalationsstufen, die Anwendung der Harvard-Verhandlungsmethode und Reflexionsübungen zur eigenen Kommunikationshaltung. Führungskräfte brachten echte Konfliktsituationen ein, die im geschützten Rahmen bearbeitet wurden. Anfangs gab es auch Widerstände gegen die konfrontative Herangehensweise, die jedoch durch vertrauensbildende Einzelgespräche abgebaut wurden. Das Trainingsprogramm stärkte nachhaltig die Konfliktkompetenz und förderte eine offene Fehler- und Konfliktkultur.
Streitkultur: Reibungsverluste reduzieren, ohne Konflikte zu unterdrücken
Nach sechs Monaten zeigte die Evaluation deutliche Effekte und einen erheblichen Rückgang der Reibungsverluste: Entscheidungsprozesse zwischen Entwicklung und Marketing verkürzten sich um 30 Prozent. Diese Verkürzung wurde durch eine Analyse der Projektzeitpläne und Meetingprotokolle gemessen. Vergleichszeiträume vor und nach der Intervention zeigten eine signifikante Beschleunigung der Abstimmungsprozesse. Gleichzeitig stieg die Zufriedenheit der Beschäftigten mit der Unternehmensführung; in der Mitarbeiterbefragung stieg der Wert "Konflikte können offen angesprochen werden" von 42 Prozent auf 68 Prozent.
Und schließlich lieferte die gründliche Auseinandersetzung mit den Konfliktgründen neue Impulse für Innovationen. Es wurden zwei bereichsübergreifende Teams gegründet, die Themen aus den Streitgesprächen weiterentwickelten. Die Teams setzten sich aus Mitarbeitenden beider Abteilungen zusammen und förderten die Umsetzung neuer Produktideen und Prozessverbesserungen, die aus den Streitgesprächen hervorgingen. Dies trug zu einer erhöhten Innovationsquote und verbesserten Zusammenarbeit bei.
Was dagegen nicht funktionierte, waren groß angelegte "Townhall-Dialoge", die vierteljährlich mit großer Teilnehmerzahl stattfinden sollten. Doch statt des erhofften Austauschs führten sie zur Überforderung der Teilnehmenden und zu taktischem Schweigen. Deshalb wurden sie nach drei Durchläufen aufgrund fehlender Ergebnisorientierung durch kleinere, themenspezifische Gruppenformate ersetzt, die monatlich oder zweiwöchentlich mit zehn bis 15 Personen stattfanden. Erst diese kleineren, regelmäßig institutionalisierten Formate ermöglichten eine offene und fokussierte Kommunikation und schufen letztendlich Vertrauen und Verbindlichkeit.
Überblick: Umgang mit Konflikten
Die Evaluation im Praxisfall erfolgte über sechs Monate mittels standardisierter Mitarbeiterbefragungen zur psychologischen Sicherheit sowie der Analyse von Innovationsprojekten und Fluktuationsraten. Die gestiegene Offenheit und schnellere Innovationsprozesse belegen, dass eine gelebte Streitkultur maßgeblich zum nachhaltigen Unternehmenserfolg beiträgt. Aus diesem Fall lassen sich folgende Lehren ziehen:
- Streit braucht Strukturen: Streitkultur entsteht nicht aus spontaner Offenheit, sondern aus sicheren Räumen mit methodischer Rahmung.
- HR als Prozessarchitekt – mit externer Reflexion: Konfliktmoderation ist Führungsarbeit, aber HR sollte sie nicht allein tragen. Die Kooperation mit externen Partnern ermöglicht Distanz, methodische Vielfalt und Verbindlichkeit.
- Falsche Harmonie ist gefährlicher als offener Dissens: Wo Einigkeit erzwungen wird, entstehen Schattenkommunikation und Machtspiele, die Organisationen lähmen.
- Evaluation als Kulturindikator: Konfliktfähigkeit ist messbar. HR-Kennzahlen zu "psychological safety", Innovationsquote und Fluktuation helfen, Streitkultur als Erfolgsfaktor zu belegen.
Der Maschinenbauer hat gelernt: Streit ist kein Organisationsdefekt, sondern ein Entwicklungsinstrument. In dem Moment, in dem HR und externe Beratung gemeinsam den Mut hatten, Auseinandersetzungen sichtbar zu machen, statt sie zu befrieden, kam Bewegung in festgefahrene Strukturen.
Das Streitforum wurde inzwischen als festes Format institutionalisiert und ist Teil der Führungsroutinen. Es gibt regelmäßige Evaluationsgespräche, und Führungskräfte werden kontinuierlich in Konfliktkompetenz geschult, um die Kultur der offenen Auseinandersetzung nachhaltig zu schützen und auszubauen.
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