Bewerbermanagement: Nähe-Distanz-Dilemma

Talente finden, fördern, binden – dieser Dreiklang birgt viele Zwischentöne und sorgt auch für Missklänge in Unternehmen. Talentmanagement-Experte Martin Claßen gibt in seiner Kolumne Ein- und Ausblicke in die Talentwelt. Heute: Die entscheidenden Minuten vor dem Vorstellungstermin.

Jeder hat diese Situation schon mehr als einmal erlebt. Doch noch niemals sind solche Augenblicke beschrieben, geschweige denn wissenschaftlich untersucht worden. Mit der heutigen Kolumne betreten wir Talentmanagement-Neuland. Es geht um erfolgskritische Momente vor dem eigentlichen Vorstellungstermin.

Zerlegen wir diese Minuten im Leben eines Kandidaten zunächst in sieben typische Phasen.

Phase 1 – Durchschreiten Türe Eins (Unternehmensgebäude)

Phase 2 – Anmeldung an Rezeption

Phase 3 – erstes Warten (auf Abholung)

Phase 4 – Wanderung zum Besprechungsraum

Phase 5 – Durchschreiten Türe Zwei (Besprechungsraum)

Phase 6 – zweites Warten (auf Gesprächsbeginn)

Phase 7 – Gesprächsbeginn

Ab hier hat die akademische Welt den Vorstellungstermin akribisch untersucht. Was aber passiert zuvor? Lassen Sie uns den Blick besonders auf eine folgenreiche Phase richten – die Phase 4.

Phase 4 entscheidet über das Unwohlsein

Der Kandidat ist gerade – nach anfänglich nervösem Herumtigern in der Empfangshalle (Phase 3) – zur eigenen Beruhigung auf die mehr oder weniger bequemen Sitzmöbel gesunken. Der zigste Blick auf die Uhr verrät: Gleich geht es los. Zielsicher steuert der Abholer oder die Abholerin auf den Kandidaten zu. Nach dem vom Bandscheibenzustand abhängigen Herausschälen aus den Designersesseln und der Begrüßung folgt mit 99-prozentiger Sicherheit die erste Smalltalk-Frage: "Hatten Sie eine gute Anreise?" Mit noch höherer Wahrscheinlichkeit wird die Antwort "Ja!" lauten. Fliegerchaos, Autobahnstaus, Zugverspätungen haben in Phase 4 nichts zu suchen.

Dann beginnt die Wanderung zum Besprechungsraum: Flure, Treppen, Aufzüge. Meine längste Tour ging über einen geschätzten Kilometer und einhundert Höhenmeter. Man wollte mir dort wohl die Größe der Organisation in Relation zum kleinen Menschen deutlich machen.

Komfortzonen zum Bewerber bewahren

Nun weiß ich nicht welche Distanz zwischen Menschen für Sie unangenehm ist und räumliche Nähe in Unwohlsein umschlägt. Die entsprechende Wissenschaft der Proxemik unterscheidet vier Zonen. Bei neuen Geschäftspartnern wird in unserer eher distanzierten mitteleuropäischen Kontaktkultur die vom Anthropologen Edward Hall als „soziale Zone“ bezeichnete Entfernung von 1,2 bis 3,6 Meter als angenehm empfunden.

Die meisten Aufzüge lassen eine solche zonale Behaglichkeit nicht zu. Oft gerät man dort sogar in die intime Zone (unter 45 Zentimetern). Besonders häufig geschieht ein Übertreten der individuellen Bannmeile bei Vorstellungsterminen um die Mittagszeit. Wenn das ganze Unternehmen zwischen Schreibtisch und Kantine pendelt und sich beim Hin und Her auf die Pelle rückt.

Treppen können helfen – meistens

Auf die Frage "Oder sollen wir die Treppe nehmen?" antworte ich deshalb selbst bei 25 Etagen stets mit einem "Ja!". Dies ist ein positives Wort und spricht zudem für meine physische Kondition – was im Job immer günstig kommt. Zudem finde ich oben angekommen für gewöhnlich genügend Zeit, wieder zu Luft kommen.

Es sei denn, in Phase 5 zeigt sich, dass Phase 6 entfällt und Phase 7 atemlos beginnt. 

Martin Claßen hat 2010 das Beratungsunternehmen People Consulting gegründet. Talentmanagement gehört zu einem seiner fünf Fokusbereiche in der HR-Beratung.