Pauschale Gottesdienstverbote sind laut BVerfG unzulässig

Das niedersächsische Verbot, Gottesdienste zu veranstalten, wurde vom Bundesverfassungsgericht  mit sofortiger Wirkung teilweise außer Vollzug gesetzt. Ein muslimischer Glaubensverein hatte unzulässige Ungleichbehandlung vorgetragen, weil Einkaufen erlaubt, gemeinsame Gebete zum Ramadan aber verboten seien. 

Diese Lockerung der Einschränkung der Religionsfreiheit durch eine  Corona-Verordnung wurde nicht durch ein Rechtsmittel einer der christlichen Kirchen oder ein Mitglied eine der christlichen Religionsgemeinschaften durchgesetzt, sondern durch Muslime. 

Koran mit Gebetskette

Wegen Ramadan Rechtsmittel gegen Gottesdienstverbot eingelegt

Auslöser der BVerfG-Entscheidung ist der Eilantrag eines ca. 1.300 Mitglieder umfassenden Glaubensvereins, der im Fastenmonat Ramadan nicht auf das Freitagsgebet in der von ihm genutzten Moschee verzichten will. Nach Auffassung der höchsten deutschen Richter könnte das Freitagsgebet mit strengen Auflagen und unter effektiver Kontrolle ermöglicht werden.

OVG bewertete Freitagsgebetverbot wegen Pandemie noch als rechtmäßig

Das OVG Niedersachsen hatte in einem Normenkontrollverfahren zuvor den Eilantrag auf einstweilige Außervollzugsetzung des Gottesdienstverbots abgelehnt. Auch das OVG bewertete das ausnahmslose Verbot des gemeinsamen Freitagsgebets im Fastenmonat Ramadan als schwerwiegenden Eingriff in die grundrechtlich geschützte Glaubensfreiheit. Das OVG hielt das uneingeschränkte Verbot trotz der zentralen liturgischen Bedeutung des Freitagsgebets im Fastenmonat Ramadan zur Eindämmung der Pandemie aber für erforderlich.

OVG sah keine unangemessene Benachteiligung von Muslimen

Das Verbot beinhaltet nach Auffassung des OVG keine unangemessene Benachteiligung muslimischer Glaubensgemeinschaften im Hinblick auf die eingeschränkte Öffnungserlaubnis von Einzelhandelsgeschäften.

Das Freitagsgebet sei seiner Natur nach eine auf längere Dauer ausgerichtete gemeinsame Aktivität der Gläubigen, bei denen durch gemeinsame Gebete und Gesänge mit einem besonders hohen Virenausstoß zu rechnen sei.

Corona-Gottesdienstverbot: BVerfG fordert eine spezifische Beurteilung des Einzelfalls

Die Richter am BVerfG bewerteten die Rechtslage anders. Sie gaben dem OVG zwei darin recht, dass die Gefährdungslage bei Einkäufen und Gottesdiensten nicht grundsätzlich dieselbe sein.

Das OVG habe aber die Besonderheiten des konkreten Falles nicht hinreichend in Rechnung gestellt. Die Einschätzung des Risikos von Infektionen während einer Gottesdienstveranstaltung müsse auf die konkreten Umstände des Einzelfalls abstellen, so auf

  • die Größe und Struktur der jeweiligen Glaubensgemeinschaft,
  • der örtlichen Gegebenheiten in der betreffenden Moschee
  • sowie auf die jeweiligen Verhaltensweisen der Glaubensgemeinschaft beim gemeinsamen Gebet.

Konkreten Antragsmodalitäten müssen berücksichtigt werden

Nach Auffassung des BVerfG hat das OVG die spezifischen Antragsmodalitäten des Glaubensvereins nicht hinreichend bewertet. So hatte der Glaubensverein schon in seinem Antrag die Bedingungen für die abzuhaltenden Freitagsgebete vorformuliert und darauf hingewiesen, dass

  • bei den Freitagsgebeten kein gemeinsames Singen
  • und auch kein gemeinsames lautes Beten geplant sei.

Mund- und Nasenschutz, großer Abstand  und nur der Iman sollte sprechen

Lediglich der Imam werde sprechen und laut beten. Die Gläubigen sollten während des Gottesdienstes einen Mund-Nasen-Schutz tragen. In der Moschee würden die Plätze markiert, die die Gläubigen zum stillen Gebet einnehmen dürfen.Dabei werde eine Vergrößerung der Sicherheitsabstände um ein Vierfaches gegenüber den für Verkaufsstellen geltenden Vorgaben vorgenommen. 

Die dem Verein vorstehende theologische Instanz habe dem Verein darüber hinaus die Genehmigung erteilt, die die Teilnehmerzahl der einzelnen Veranstaltungen klein zu halten und entgegen den sonstigen Gepflogenheiten mehrere Freitagsgebete an einem Tag durchzuführen. Nach Auffassung der deutschen Verfassungsrichter müssen diese besonderen Modalitäten bei der Entscheidung des Antrags auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung berücksichtigt werden.

Konkrete Risikoeinschätzung durch die Behörde erforderlich

Die Verfassungsrichter sahen sich allerdings nicht imstande, selbst die erforderliche Risikoeinschätzung vorzunehmen. Das BVerfG gab der zuständigen Behörde auf, eine Risikoeinschätzung dahingehend vorzunehmen, ob konkret eine Minimierung der Ansteckungsgefahr auf ein akzeptables Niveau möglich ist.

Bei der Abwägung habe die Behörde zu berücksichtigen, dass der mit einem Verbot verbundene Eingriff in die Glaubensfreiheit bei einem Verbot des Freitagsgebets im Fastenmonat Ramadan besonders schwerwiegend ist.

Außerdem habe die Behörde ihre konkreten Kontrollmöglichkeiten aufgrund der örtlichen Gegebenheiten zu prüfen und möglicherweise auch die Einbeziehung des örtlichen Gesundheitsamtes in Erwägung zu ziehen. Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen habe die Behörde erneut zu entscheiden.

BVerfG betont Ausnahmecharakter der Entscheidung

Ausdrücklich wiesen die Verfassungsrichter darauf hin, dass Gegenstand des Beschlusses nicht die Rechtmäßigkeit des Verbots von Gottesdiensten zur Abwendung der Pandemiegefahren im allgemeinen ist, sondern ausschließlich die Frage einer vorläufigen, ausnahmsweise Zulassung von Gottesdiensten auf der Grundlage spezifischer, besonderer Umstände eines konkreten Einzelfalls.

Kurzfristige Lockerungen bei Pandemie-Gottesdienstverboten zu erwarten

Im Ergebnis hat das BVerfG mit seiner Entscheidung die deutschlandweiten Gottesdienstverbote nicht wirklich gekippt, aber doch eine sichtbare Schneise in das bisherige Totalverbot von Gottesdiensten geschlagen. Die von der Bundesregierung und den Landesregierungen in Kooperation mit den Kirchen, Moscheevereinen und jüdischen Verbänden avisierten Lockerungen der Gottesdienstverbote erscheinen damit aus verfassungsrechtlicher Sicht unter Berücksichtigung der aktuellen Infektionszahlen näher zu rücken.

(BVerfG, Beschluss v. 29.4.2020, 1 BvQ 44/20)

Hintergrund: Grundrechte wieder auf dem Vormarsch

Die Entscheidung des BVerfG reiht sich ein in eine Reihe weiterer Entscheidungen, die mit zunehmender Dauer der Coronabeschränkungen der Beachtung der verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte der Bürger wieder mehr Bedeutung beimessen und die pauschale Außerkraftsetzung von Grundrechten in der bisherigen Form nicht mehr mittragen.

Corona vs. Grundrechte: Wende im deutet sich an

Diese sich andeutende Wende in der Rechtsprechung wird auch durch einige andere Entscheidungen belegt. So hat der VerfGH des Saarlandes unter Betonung der allgemeinen bürgerlichen Freiheitsrechte Verwandtenbesuche und das Verweilen im Freien wieder gestattet (Saarländischer VGH, Beschluss v. 28.4.2020, Lv 7/20). Der BayVGH und das BVerfG haben im Hinblick auf das gewichtige Rechtsgut der Versammlungsfreiheit Demonstrationen unter Auflagen gestattet bzw. die zuständige Behörde zu einer entsprechenden Erlaubnis veranlasst (BayVGH, Beschluss v. 9.4.2020, 20 CE 20.755; BVerfG, Beschluss v. 15.4.2020, 1 BvR 828/20).

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Schlagworte zum Thema:  Religionsfreiheit, Grundgesetz, Coronavirus