Verwirkung: Wann ist ein Anspruch verwirkt?

Das Rechtsinstitut der Verwirkung wurde aus § 242 BGB entwickelt und greift, wenn die Inanspruchnahme des Schuldners gegen Treu und Glauben verstoßen würde. Sie ist die Halbschwester der Verjährung und manchmal tückischer als diese, weil sie so schwer berechenbar ist. Was muss geschehen sein, damit ein Anspruch als unzulässige Rechtsausübung verwirkt ist?    

Die Ver­wir­kung beruht auf dem Prinzip des Ver­trau­ens­schutzes zugunsten des Schuld­ners und kommt nur in Aus­nah­me­fällen in Betracht.

Verwirkung ist ein Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung

Die Verwirkung ist ein Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung wegen widersprüchlichen Verhaltens (§ 242 BGB).

Ein Recht ist ver­wirkt, wenn der Berech­tigte über einen län­geren Zeit­raum hinweg untätig geblieben ist und dadurch bei seiner Gegen­partei den Ein­druck erweckt hat, sie brauche mit der Gel­tend­ma­chung des Rechts und der Durch­set­zung des Anspruchs nicht mehr zu rechnen, die Gegen­seite sich deshalb darauf ein­ge­richtet hat und ihr die ver­spä­tete Inan­spruch­nahme nicht zuge­mutet werden kann.

Wenn Anspruchser­fül­lung unzu­mutbar wird

Der bloße Zeit­ab­lauf reicht niemals aus. Stets müssen darüber hinaus beson­dere Umstände vor­liegen, die die ver­spä­tete Inan­spruch­nahme des Schuld­ners als gegen Treu und Glauben ver­sto­ßend erscheinen lassen. Die Ver­wir­kung setzt also ein Umstands­mo­ment und ein Zeit­mo­ment voraus (BGH, Urteil v. 14.11.2002, VII ZR 23/02). Als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung wegen der illoyal verspäteten Geltendmachung von Rechten setzt die Verwirkung darüber hinaus voraus, dass dem Verpflichteten durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstünde (BGH, Urteil v. 29.1.2013, EnZR 16/12).

Wechselwirkung zwischen Zeit- und Umstandsmoment

Nach der Rechtsprechung des BGH können Zeit_ und Umstandsmoment allerdings nicht unabhängig voneinander betrachtet werden, vielmehr stehen sie in Wechselwirkung. Je länger der Inhaber des Rechts und untätig bleibt, desto mehr wird der Gegner in seinem Vertrauen schutzwürdig, das Recht werde nicht mehr ausgeübt werden (BGH, Urteil v. 10.10.2017, XI ZR 393/16). Ob eine Verwirkung tatsächlich vorliegt, richtet sich nach den vom Tatrichter festzustellenden Umständen des Einzelfalls (BGH, Urteil v. 12.7.2016, XI ZR 501/15).

Ver­wir­kung kommt etwa

  • im Unter­halts­recht (wegen illoyal verspäteter Geltendmachung: BGH, Beschluss v. 16.6.1999, XII ZA 3/99),
  • im Miet- und WEG-Recht
  • oder beim Mar­ken­schutz häu­figer zum Tragen.

Bei­spiel: 

Wenn der Ver­mieter die von dem Mieter gezahlten Neben­kos­ten­vor­schüsse über eine längere Zeit (hier: 13 Jahre) so behan­delt, als seien es feste Pau­schalen, über die nicht abge­rechnet werde, sondern die den Neben­kos­ten­an­spruch voll abgelten würden, hat der Ver­mieter auf­grund seines Ver­hal­tens das Recht ver­wirkt, unan­ge­kün­digt für bereits abge­lau­fene Zeit­räume Neben­kos­ten­nach­for­de­rungen geltend zu machen.

Verwirkung beim Widerrufsrecht

Häufig diskutiert wird die Verwirkung auch in Zusammenhang mit einem viele Jahre nach einem Vertragsabschluss ausgeübten Widerrufsrecht wegen fehlerhafter oder fehlender Widerrufsbelehrung im Zusammenhang mit Verbraucherdarlehensverträgen. Hier kommt es für die Verwirkung auf die Würdigung der Gesamtumstände des Einzelfalls an, wobei die Nichtkenntnis des Darlehensnehmers vom Widerrufsrecht eine Verwirkung nicht ausschließt (BGH, Urteil v. 10.10.2017, XI ZR 443/16). Vor diesem Hintergrund hat das bayerische OLG das Recht zum Widerruf eines Verbraucherdarlehensvertrages (Kfz-Finanzierung) 6 Jahre nach Abschluss des Vertrages und 3 Jahre nach der kompletten Abwicklung des Darlehensvertrages durch Zahlung der Schlussrate als verwirkt angesehen (OLG München, Beschluss v. 18.12.2020, 5 U 4290/20).

Verwirkung vor Ablauf der Verjährung nur ausnahmsweise

In der Praxis stellt der BGH strenge Anforderungen an das Umstandsmoment. So hat der BGH im Falle der Geltendmachung von Rückzahlungsansprüchen von Architektenhonorar den Einwand des Architekten, er habe die Zahlungen bereits für anderweitige Projekte eingesetzt, nicht für ausreichend erachtet, um das für den Verwirkungstatbestand erforderliche Umstandsmoment zu begründen. Im konkreten Fall hatte der Auftraggeber mehrere Rechnungen des Architekten auf Stundenhonorarbasis anstandslos beglichen. Ca. 2 Jahre nach der letzten Zahlung hat er dann moniert, die Abrechnung auf Stundenlohnbasis sei nicht gerechtfertigt. Die Vorinstanz hatte die vor Ablauf der Verjährung eingereichte Klage des Auftraggebers auf teilweise Rückzahlung mit dem Argument der Verwirkung abgewiesen. Der BGH stellte klar, dass die Verkürzung der gesetzlich geregelten Verjährung eines Rückforderungsanspruchs, der der regelmäßigen Verjährung von 3 Jahren gemäß § 195 BGB unterliegt, durch das Rechtsinstitut der Verwirkung nur ausnahmsweise und unter ganz besonderen Umständen angenommen werden könne, die hier nicht erkennbar waren (BGH, Urteil v. 22.1.2014, VII ZR 177/13; ähnlich: BGH, Urteil v. 11.10.2012, VII ZR 10/11). Solche besonderen Umstände kommen nach der Rechtsprechung des BGH für eine Verwirkung schon vor Eintritt der Verjährung insbesondere im Unterhaltsrecht in Betracht (BGH, Beschluss v. 31.1.2018, XII ZB 133/17).

Ver­wir­kung ist von Amts wegen zu berück­sich­tigen

Im Gegen­satz zur Ver­jäh­rung, auf die sich der in Anspruch Genom­mene aus­drück­lich berufen muss, ist die Ver­wir­kung von Amts wegen zu berück­sich­tigen (BGH, Urteil v. 10.11.1965, Ib ZR 101/63, NJW 1966 S. 343, 345).

Hin­ter­grund:

Ver­wir­kung hat Umstands- und Zeit­mo­ment

Ein Anspruch oder ein Gestal­tungs­recht ist ver­wirkt, wenn seit der Mög­lich­keit der Gel­tend­ma­chung längere Zeit ver­gangen ist und beson­dere Umstände hin­zu­kommen, auf­grund derer der zur Leis­tung Ver­pflich­tete nicht mehr mit der ver­spä­teten Inan­spruch­nahme zu rechnen braucht und die Inanspruchnahme für ihn zu einem unzumutbaren Nachteil führen würde. Die Ver­wir­kung setzt also ein Umstands- und ein Zeit­mo­ment voraus (BGH, Urteil v. 14.11.2002, VII ZR 23/02, NJW 2003 S. 824).


Schlagworte zum Thema:  Verwirkung, Rechtsmissbrauch, Recht