Arbeitszeiterfassung: Muss es Ausnahmen geben?

Der Referentenentwurf zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes liegt vor. Unser Kolumnist Alexander R. Zumkeller beleuchtet die ersten Reaktionen darauf und nimmt einige Ungereimtheiten des Entwurfs genauer unter die Lupe.

Ich möchte das Thema Arbeitszeit heute einmal von einer anderen Seite beleuchten. Ja, das Arbeitszeitrecht stammt noch aus Kaisers Zeiten. Ja, das Arbeitszeitrecht bevormundet uns mehr als nötig. Ja, das Arbeitszeitrecht nutzt die Möglichkeiten der europäischen Richtlinie längst nicht aus. Und ja, selbst eine europäische Richtlinie kann (und muss) geändert werden, sie ist nicht Gott gegeben –für Atheisten wie mich sowieso nicht. Stattdessen müsste man mit der Einstellung "sei neugierig" und "vergesse alles, was du weißt" an die Sache herangehen, um auch ein modernes Arbeitszeitrecht zu gestalten. Nun, ich fürchte, ich werde das nicht mehr erleben (und dabei sagt meine Kollegin immer zu mir, ich sei so "old fashioned" …).

Gesetzentwurf zur Arbeitszeiterfassung weist die üblichen Schwächen auf

Nein, schauen wir uns das Thema also aus einem anderen Blickwinkel an. Der Referentenentwurf zur Arbeitszeiterfassung (und damit zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes) liegt nun (endlich) vor. Mit den üblichen Schwächen (keine Praxistauglichkeit, zehnfach untertriebene Einschätzung der wirtschaftlichen Belastung der Unternehmen, keine One-in-one-out-Regel gewahrt). Soweit also nichts Aufregendes (wobei die Lektüre meinen Blutdruck wieder in medizinisch kaum verantwortbare Höhen getrieben hatte).

Nicht alle wollen mitmachen bei der Arbeitszeiterfassung

Sehen wir uns die (zeitlich vorgegriffenen) Reaktionen an. Kein Wunder, die einen meinen beseelt "es geht noch mehr", die anderen, ohne besonders kreativ zu sein "das geht alles zu weit" (ich glaube nicht, sagen zu müssen, von welchen Antipoden ich da spreche). Aber lassen Sie uns doch zwei "besondere" Meinungen ansehen:

Ende September 2022 (also bereits deutlich vor dem Entwurf) lässt die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts wissen, "Richterinnen und Richter sind nach Art. 97 Abs. 1 Grundgesetz unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen". Korrekt. Und weiter: "Ein Aspekt dieser Unabhängigkeit ist, dass sich der von einer Richterin/einem Richter zu leistende Arbeitseinsatz nach dem ihr/ihm in der richterlichen Geschäftsverteilung zugewiesenen Aufgaben und ihrem/seinem konkreten Richteramt richtet. Dies bestimmt den Umfang des geschuldeten richterlichen Einsatzes, nicht eine festgelegte Arbeitszeit" ( Stellungnahme im Wortlaut). Hm, wäre zumindest zu überlegen. Ich weiß, dass Richter die "richterliche Unabhängigkeit" weit auslegen, aber dass europäisches zwingendes Arbeitsschutzrecht nicht gelten solle, ist auf den ersten Blick nicht mit der richterlichen Unabhängigkeit in Verbindung zu bringen. Historisch gesehen ist diese immens wichtige Norm nicht in die Verfassung aufgenommen worden, um Sonntagsarbeit zu ermöglichen (ein charmanter Gedanke – Sitzungen Sonntags …), sondern vor dem Hintergrund einer absoluten, durchgriffigen Staatsmacht. Es sollte gewährleistet sein, eine wirkliche dritte Gewalt zu etablieren und Weisungsabhängigkeit inhaltlicher Art zu vermeiden, aber nicht, Richter dem Arbeitsschutz zu entziehen. Ist es so einfach, knapp 25.000 Beschäftigte dem Arbeitszeitgesetz zu entziehen?

Auch die Anwälte können keine Zeiterfassung brauchen

Was den einen billig ist, ist den anderen recht. Gibt es doch rund 170.000 Rechtsanwälte. Mit Pressemitteilung vom 3. März 2023 ( Pressemitteilung im Wortlaut) konstatiert der Deutsche Anwaltsverein (DAV), dass "Arbeitszeitgesetz und anwaltliches Berufsrecht miteinander im Konflikt stehen". Er argumentiert, die berufsrechtliche Pflicht, dem Mandanten immer und jederzeit zu helfen, mache eine Arbeitszeitgesetz-Compliance unmöglich. Verbunden wird das mit der Forderung, angestellte Rechtsanwälte müssten vom Anwendungsbereich des Arbeitszeitgesetzes ausgenommen werden. Vielleicht verstehe ich das nicht ganz – gerne lasse ich mir aber helfen: Freischaffende Rechtsanwälte sind vom Arbeitszeitgesetz nicht erfasst. Es sind keine Arbeitnehmer. Klar. Diese können ja auch jederzeit ihren Mandanten zur Verfügung stehen, 24/7 sozusagen. Aber angestellte Rechtsanwälte? Wieso? Abgesehen davon, dass die europäische Richtlinie hier knüppelhart ist, wo ist der Bedarf? Ja, die Partner selbst müssten 24/7 zur Verfügung stehen statt der Angestellten. Oder die Angestellten werden zu Partnern gemacht – nichts leichter als das.

Ich warte schon auf andere Berufsgruppen. Ärzte etwa, die wegen ihres hippokratischen Eides auch 24/7 einsatzbereit sein müssen. Oder Priester – ohne im liturgischen Dienst zu stehen.

Und warum schütten diese Gruppen das Kind gleich mit dem Bade aus? Die eine Frage ist, ob Arbeitszeitrecht im Grundsatz gelten soll. Höchstarbeitszeit, Pausen, Ruhezeit. Vielleicht nicht, wenn man deren Argumentation folgen mag. Aber weshalb sollten diese Gruppen aus der Erfassung der Arbeitszeit ausgenommen werden? Gerade bei Anwälten scheint dies ein wenig widersprüchlich, schreiben sie zu Abrechnungszwecken gegenüber ihrer Mandantschaft die Arbeitszeiten doch ohnedies auf. Und selbst für Beamte, "immer im Dienst", gibt es klare Arbeitszeitregelungen und sogar Erfassungsregelungen – so heißt es etwa in der Arbeitszeitverordnung NRW "Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit einschließlich Ruhepausen sind … durch ein geeignetes objektives System zu erfassen und zu dokumentieren".

Schonzeit aus Kostengründen?

Damit sind wir nun also bei der Arbeitszeiterfassung angelangt. Gemäß dem Regierungsentwurf hat sie (letztlich ausschließlich) elektronisch zu erfolgen (auch so ein Punkt …). Wirklich? Nein. Kleinstunternehmen bis zu 10 Beschäftigte sollen ausgenommen werden, kleinere und mittlere Unternehmen eine Übergangsfrist erhalten. Aber (ich weiß, dass ich mich mit dieser Frage reichlich unbeliebt mache) weshalb eigentlich?

Die Bundesregierung behauptet, mit einem Aufwand von 450 Euro sei es getan. Weiß die Bundesregierung um die Unwahrheit dieser Behauptung? Ein Rechenbeispiel: ein Unternehmen mit 50 Beschäftigten kann sich wegen der hohen Belastung (sic!) fünf Jahre Zeit lassen. Unterstellen wir einmal, dass diese 50 Beschäftigten nur zehn Stunden in der Woche arbeiten. Das sind im Monat 2.175 Stunden, im Jahr (Urlaub abgezogen) rund 25.000 Stunden. Bei 12,50 Euro Mindestlohn ist das eine Bruttolohnsumme in Höhe von rund 325.000 Euro. 450 Euro sind hieraus 0,001 Prozent. Das können sich diese Unternehmen also nicht leisten. Gleichzeitig kein Wimpernzucken, wenn der Mindestlohn von 12,50 Euro auf 13,00 Euro angehoben wird – das sind 0,04 Prozent. Mit Verlaub, glaubwürdige Begründungen sehen anders aus.

Europäische Arbeitszeit-Richtlinie muss hinterfragt werden

Bitte nicht falsch verstehen: mein Anliegen ist nicht, Kleinstbetriebe zu elektronischer Zeiterfassung zu zwingen, Anwälte und Richter in Arbeitszeiterfassung zu verdonnern. Es ist die europäische Richtlinie – nicht ich!

Aber eine ehrliche Diskussion in der Arbeitsrechts-Gesellschaft hätten wir alle verdient. Ja, es gibt Berufsgruppen, die mehr Flexibilität benötigen als andere – mögen Anwälte und Richter dazu gehören, es gehören auch Außendienstler, Beschäftigte in Research and Development sowie in der IT dazu und vermutlich noch eine ganze Reihe weiterer. Auch die, die aus privaten Gründen mehr Flexibilität wollen, um ihr Privat- und Berufsleben besser in Einklang zu bringen. Qualifizierte Beschäftigte, die lieber am Sonntag mal eine Stunde Mails lesen als sich am Montagfrüh gleich überfluten zu lassen, oder spät abends vor dem Zubettgehen einen Zweizeiler schreiben statt hastig am nächsten Morgen.

Ja, wir müssen an die europäische Richtlinie heran. Ja, da wird es massive Widerstände geben. Aber deswegen etwas unversucht lassen? Ich hielte das für wenig redlich.


Unser Kolumnist Alexander R. Zumkeller, Präsident des Bundesverbands der Arbeitsrechtler in Unternehmen (BVAU), sowie Vorstand und Arbeitsdirektor bei ABB, blickt in seiner Kolumne aus der Unternehmenspraxis auf arbeitsrechtliche Themen und Trends.