Entscheidungsstichwort (Thema)

"Heilung" von Bekanntgabemängeln durch Einspruchsentscheidung; Zur Wirksamkeit einer Ersatzzustellung

 

Leitsatz (NV)

1. Ist ein Steuerbescheid mangels Bekanntgabe unwirksam, so liegt in der in der Einspruchsentscheidung enthaltenen Berichtigungsveranlagung eine wirksame (erstmalige) Steuerfestsetzung.

2. Ein Schriftstück ist auch dann im Zeitpunkt der Niederlegung bei der Postanstalt wirksam zugestellt, wenn die Schalter für den Publikumsverkehr bereits geschlossen sind.

3. Die Kurzbezeichnung des zuzustellenden Schriftstückes im Kopfteil der Postzustellungsurkunde ist kein Bestandteil der Geschäftsnummer.

 

Normenkette

AO 1977 §§ 122, 125, 365 Abs. 1; VwZG § 3 Abs. 3; ZPO §§ 180-186, 195 Abs. 2; FGO § 56

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war in den Streitjahren zunächst als Verwaltungsleiter bei einer Anlagenberatungsgesellschaft tätig, von der er neben einem Grundgehalt eine umsatzabhängige Provision (Overhead) bezog. Seit Oktober 1978 betätigte er sich gewerblich als Sachverständiger für den Warenterminhandel.

Nach einer Steuerfahndungsprüfung beim Kläger veranlagte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) den Kläger zusammen mit seiner Ehefrau zur Einkommensteuer. Die an die Ehegatten adressierten Bescheide wurden in einer Ausfertigung mit einfachem Brief durch die Post zugesandt.

Den hiergegen lediglich vom Kläger erhobenen Einsprüchen gab das FA mit Einspruchsentscheidung vom 24. April 1981 zwar teilweise statt, berichtigte jedoch gleichzeitig die Veranlagungen nach § 129 der Abgabenordnung (AO 1977).

Die nur an den Kläger gerichtete Einspruchsentscheidung wurde durch die Post mit Zustellungsurkunde zugestellt. Auf der Postzustellungsurkunde (PZU) und dem zuzustellenden Schriftstück war als Geschäftsnummer die Rechtsbehelfslistennummer für das Einspruchsverfahren eingetragen. Die im Kopf der PZU vorgesehene Spalte für eine Kurzbezeichnung des zuzustellenden Schriftstückes war nicht ausgefüllt. Der Postbedienstete führte die Zustellung ausweislich der Eintragungen in der Zustellungsurkunde im Wege der Ersatzzustellung durch Niederlegung bei der Postanstalt am 25. April 1981 (Samstag) durch.

Die Klage ging am 27. Mai 1981 beim Finanzgericht (FG) ein. Das FA wies in seiner Klageerwiderung vom 7. Juli 1981 auf die verspätete Klageerhebung hin. Der Kläger stellte erstmals am 8. Februar 1982 unter Vorlage eines ärztlichen Attestes einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Das FG wies die Klage wegen Fristversäumung als unzulässig ab.

Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Sie war deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Das FG hat die Klage zu Recht wegen Versäumung der einmonatigen Klagefrist des § 47 FGO als unzulässig abgewiesen und hierbei rechtsfehlerfrei die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 56 FGO verneint.

1. Es kann dahinstehen, ob die ursprünglichen Bescheide, wie der Kläger behauptet, mangels Bekanntgabe unwirksam sind. Denn eine wirksame Steuerfestsetzung für die Streitjahre ergibt sich jedenfalls aus den in der ordnungsgemäß zugestellten Einspruchsentscheidung enthaltenen Berichtigungsveranlagungen.

Die Rechtsbehelfsentscheidung entfaltet die Wirkungen wie ein gleichgearteter Verwaltungsakt (vgl. Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Rdnr. 3805). Der Regelungsinhalt der Einspruchsentscheidung erschöpft sich im Streitfall nicht in der Prüfung der angefochtenen Bescheide im Rahmen des außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens, sondern umfaßt darüber hinaus auf § 129 AO 1977 beruhende Berichtigungsveranlagungen, die anders als die übliche Einspruchsentscheidung an die Stelle der ursprünglichen Bescheide treten und im Falle deren Unwirksamkeit als erstmalige Veranlagungen zu qualifizieren sind. Ob durch eine Einspruchsentscheidung ein unwirksamer Bescheid geheilt werden kann, kann somit offenbleiben.

Es braucht im Streitfall auch nicht entschieden zu werden, ob und inwieweit Änderungsveranlagungen außerhalb des Rechtsbehelfsverfahrens mit der Einspruchsentscheidung verbunden werden können. Denn einer derartigen Entscheidung haftet jedenfalls kein zur Nichtigkeit führender besonders schwerwiegender Mangel i. S. des § 125 Abs. 1 AO 1977 an.

Die Einspruchsentscheidung ist lediglich dem einspruchsführenden Kläger zugestellt und ihm damit gesondert bekanntgegeben worden. Unerheblich ist, daß die Ehefrau keine Ausfertigung der Einspruchsentscheidung erhalten hat. Denn auch die Neufassung des § 26b des Einkommensteuergesetzes (EStG) hat nichts daran geändert, daß jeder Ehegatte Steuerschuldner bleibt, und es dem FA deshalb freisteht, gegen jeden Ehegatten gesondert einen Bescheid zu erlassen (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 24. Mai 1985 VI R 204/82, BFHE 144, 121, BStBl II 1985, 583).

2. Der Kläger hat die einmonatige Klagefrist des § 47 Abs. 1 FGO versäumt. Das FG hat insoweit zutreffend festgestellt, daß die Frist mit der Niederlegung des zuzustellenden Schriftstückes am 25. April 1981 begonnen und mit Ablauf des 25. Mai 1981 geendet hat (§ 54 Abs. 2 FGO, § 222 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung - ZPO -, § 188 Abs. 2, § 187 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -). Die Klageschrift ist jedoch erst am 27. Mai 1981 beim FG eingegangen.

Die mit der Bekanntgabe der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf beginnende Klagefrist wird nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. Urteile des BFH vom 14. November 1968 I R 9/68, BFHE 94, 202, BStBl II 1969, 151, und vom 9. September 1970 I R 113/69, BFHE 100, 179, BStBl II 1971, 9; Beschluß vom 10. November 1971 I B 32/71, BFHE 103, 454, BStBl II 1972, 127; Urteil vom 8. Februar 1972 VIII R 14/68, BFHE 105, 85 BStBl II 1972, 506; Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 9. November 1976 GmS-OGB 2/75, BFHE 121, 1) in Lauf gesetzt, wenn die Bekanntgabe den gesetzlichen Vorschriften entspricht. Im Streitfall entspricht die Zustellung der Einspruchsentscheidung diesen Vorschriften.

Die Zustellung der Einspruchsentscheidung vollzieht sich nach den Bestimmungen des Verwaltungszustellungsgesetzes - VwZG - (§ 365 Abs. 1, § 122 Abs. 5 AO 1977). Das FA hat sich gemäß § 3 VwZG für die Zustellung durch die Post entschieden. Der Postbedienstete hat die Zustellung im Wege der Ersatzzustellung vorgenommen (§ 3 Abs. 3 VwZG, § 182 ZPO). Ausweislich der Zustellungsurkunde wurde die Einspruchsentscheidung am 25. April 1981 niedergelegt; die Zustellung war mit diesem Zeitpunkt bewirkt.

a) Der Zeitpunkt der Niederlegung ergibt sich aus der Beurkundung in der Zustellungsurkunde.

Als öffentliche Urkunde i. S. des § 418 Abs. 1 ZPO erbringt die PZU den vollen Beweis der in ihr bezeugten Tatsachen (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 3 VwZG Tz. 3). Zwar kann der Inhalt der Urkunde durch Gegenbeweis widerlegt werden (BFH-Urteil vom 10. Oktober 1978 VIII R 197/74, BFHE 126, 359, BStBl II 1979, 209). Hierzu bedarf es jedoch der Darlegung konkreter Umstände, die ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der beurkundeten Tatsachen zu begründen vermögen. Die bloße Vermutung, der Postbedienstete sei wegen der eingeschränkten Öffnungszeiten, die im übrigen lediglich den allgemeinen Publikumsverkehr betreffen, nicht zur Postanstalt zurückgekehrt, gibt noch keine Veranlassung, den beurkundeten Niederlegungszeitpunkt in Frage zu stellen.

b) Der Umstand, daß die Einspruchsentscheidung an einem Samstag zugestellt worden ist und der Kläger sie wegen vorzeitiger Schließung des Postamtes erst am darauffolgenden Montag abholen konnte, läßt die Wirksamkeit der Zustellung im Zeitpunkt der Niederlegung unberührt (vgl. auch Urteil des Bundesarbeitsgerichts - BAG - vom 27. Juli 1970 5 AZR 166/70, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1970, 1894; Beschluß des Oberverwaltungsgerichts - OVG - Münster vom 8. September 1981 16 B 796/81, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1982, 564; Wieczorek, Zivilprozeßordnung und Nebengesetze, 2. Aufl., § 182 ZPO Anm. B I; Zöller, Zivilprozeßordnung, 14. Aufl., § 182 Anm. 4). Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 182 ZPO, der lediglich die Niederlegung bei der Postanstalt und die Abgabe einer schriftlichen Mitteilung hierüber in der bei gewöhnlichen Briefen üblichen Weise verlangt, darüber hinaus jedoch nicht voraussetzt, daß das Schriftstück vom Zeitpunkt der Niederlegung an vom Zustellungsempfänger auch abgeholt werden kann. Zeitliche Verzögerungen zwischen Niederlegung und Abholung liegen bei der Ersatzzustellung nach § 182 ZPO in der Natur der Sache. Sie sind weniger die Folge der eingeschränkten - örtlich unterschiedlichen - Öffnungszeiten der Postanstalten, sondern ergeben sich zwangsläufig aus der nachträglichen Kenntnis des Zustellungsadressaten von der durchgeführten Ersatzzustellung.

Schließlich kann auch aus Gründen der Rechtssicherheit bei der Bestimmung des Tages der Zustellung nicht zusätzlich darauf abgestellt werden, ob im Zeitpunkt der Niederlegung bei der Postanstalt diese für den allgemeinen Publikumsverkehr noch geöffnet ist. Die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des Prozeßgeschehens erfordert eine eindeutige Fristberechnung, die sich an den Feststellungen in der Zustellungsurkunde zu orientieren hat. Da der Postbedienstete gemäß § 195 Abs. 2 ZPO lediglich den Tag der Zustellung zu beurkunden hat, läßt sich anhand der Akten nicht aufklären, ob ein Schriftstück noch während der Schalteröffnungszeiten niedergelegt worden ist.

Soweit Hartmann in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann (Zivilprozeßordnung, 43. Aufl., § 182 Anm. 3A) unter Hinweis auf die Bestimmung des § 222 Abs. 2 ZPO eine abweichende Meinung vertritt, verkennt er, daß die nur für die Berechnung des Fristablaufs anwendbare Vorschrift keine Aussage zu den Voraussetzungen einer wirksamen Zustellung zuläßt.

c) Eine Verletzung der bei der Zustellung durch die Post nach § 3 VwZG i. V. m. §§ 180, 186 und 195 Abs. 2 ZPO zu beachtenden Formvorschriften liegt ebenfalls nicht vor; das zuzustellende Schriftstück enthielt insbesondere eine den gesetzlichen Bestimmungen genügende Geschäftsnummer.

aa) Die Kurzbezeichnung des zuzustellenden Schriftstückes, für die im Kopf der PZU eine Spalte vorgesehen ist, ist kein Bestandteil der Geschäftsnummer. Auf dem Briefumschlag selbst ist keine entsprechende Eintragung vorzunehmen. Es handelt sich insoweit um einen bloßen behördeninternen Vermerk, der der besseren Übersichtlichkeit des Akteninhalts dient. Die fehlende Eintragung berührt die Ordnungsmäßigkeit des Zustellungsverfahrens folglich nicht.

bb) Die als Geschäftsnummer verwendete Rechtsbehelfslistennummer genügt den Anforderungen des § 195 Abs. 2 ZPO. Nach dieser Vorschrift muß der die Zustellung ausführende Postbedienstete die von der Behörde vorbereitete Zustellungsurkunde anfertigen, die die Übergabe der ihrer Anschrift und ihrer Geschäftsnummer nach bezeichneten Sendung bezeugen muß. Da die PZU nicht die Übergabe des Schriftstückes selbst bezeugt, sondern nur die Übergabe einer mit einer Geschäftsnummer bezeichneten Sendung (§ 3 Abs. 3 VwZG i. V. m. § 195 Abs. 2 ZPO), stellt die Angabe der Geschäftsnummer auf der Sendung und der Zustellungsurkunde die einzige urkundliche Beziehung zwischen dieser und dem zuzustellenden Schriftstück dar (BFH-Beschluß vom 10. November 1971 I B 32/71, BFHE 103, 454, BStBl II 1972, 127). Wegen der gebotenen Gewähr für die Nämlichkeit und den unveränderten Inhalt der Postsendung muß die Geschäftsnummer die Identifizierung der zugestellten Sendung ermöglichen.

Im Urteil vom 17. Oktober 1984 I R 167/81 (BFHE 142, 108, BStBl II 1985, 74) hat der Senat für den Fall der Zustellung einer Einspruchsentscheidung die aus der Steuernummer mit dem Zusatz ,,RbSt" gebildete Geschäftsnummer für ausreichend erachtet, um mit der erforderlichen Sicherheit entnehmen zu können, daß es sich hierbei um die von der Rechtsbehelfsstelle des FA ausgefertigte Einspruchsentscheidung wegen der Einkommensteuer der Streitjahre gehandelt habe. Findet als Geschäftsnummer die Rechtsbehelfslistennummer Verwendung, so wird die Identifizierung gegenüber dem allgemeinen Zusatz ,,RbSt" noch dadurch erleichtert, daß jeder einzelne Rechtsbehelf unter einer eigenen Listennummer geführt wird.

3. Das FG hat zu Recht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Klagefrist abgelehnt. Wiedereinsetzung kann nach § 56 FGO nur gewährt werden, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Nach § 56 Abs. 2 FGO ist der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die den Antrag auf Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen sind ebenfalls innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist anzugeben (BFH-Urteil vom 24. Juli 1973 IV R 204/69, BFHE 110, 232, BStBl II 1973, 823; Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. September 1975 VI C 113/ 74, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1976, 180).

Der Kläger hat die Wiedereinsetzungsgründe nicht innerhalb der Zwei-Wochen-Frist des § 56 Abs. 2 FGO vorgetragen. Das Hindernis war spätestens mit Erhalt der Klageerwiderung des FA im Juli 1981, in der auf die Fristversäumnis hingewiesen worden war, weggefallen. Maßgebend für den Fristbeginn ist der Zeitpunkt, in dem einem Steuerpflichtigen begründete Zweifel über die rechtzeitige Einlegung des Rechtsmittels hätten kommen müssen (so schon Urteil des Reichsfinanzhofs vom 20. Juni 1941 V 264/40, RStBl 1941, 478) und nicht erst der Augenblick, in dem völlige Klarheit über die Versäumung der Frist besteht.

Seit Juli 1981 konnte sich der Kläger nicht mehr darauf verlassen, daß die Klageschrift rechtzeitig beim FG eingegangen war. Soweit er dies gleichwohl weiterhin angenommen hat, war er nicht ohne Verschulden daran gehindert, die Wiedereinsetzungsfrist einzuhalten. Wiedereinsetzung für den erst am 8. Februar 1982 und damit verspätet gestellten Wiedereinsetzungsantrag, die grundsätzlich möglich wäre (vgl. Tipke/Kruse, a. a. O., § 56 FGO Tz. 3), scheidet damit im Streitfall ebenfalls aus.

Ob es im Streitfall auch an den materiell-rechtlichen Voraussetzungen des § 56 Abs. 1 FGO mangelt, wie das FG angenommen hat, kann nach alledem dahinstehen.

 

Fundstellen

BFH/NV 1986, 644

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