Leitsatz (amtlich)

1. ...

2. Eine aufgrund Verstoßes gegen zwingende Formvorschriften unwirksame Zustellung nach § 3 VwZG kann nicht in eine Bekanntgabe nach § 17 VwZG umgedeutet werden, wenn durch die Zustellung eine Klagefrist in Lauf gesetzt wird.

 

Normenkette

VwZG §§ 3, 17; FGO § 118 Abs. 1

 

Tatbestand

Das FG hat die Klage des Revisionsklägers (Steuerpflichtiger) gegen die Einkommensteuerbescheide 1957 bis 1962 und gegen die Umsatzsteuerbescheide 1957 bis 1960, jeweils in der Form der Einspruchsentscheidungen vom 25. Juli 1966 des Revisionsbeklagten (FA), wegen Versäumung der Klagefrist als unzulässig verworfen. Der Entscheidung liegt im wesentlichen die eingehend begründete Überlegung zugrunde, daß die Klageschrift beim FA laut dessen Eingangsstempel etwa drei Wochen nach Ablauf der Klagefrist eingegangen und es dem Steuerpflichtigen auch nach Vernehmung der von ihm benannten Zeugen nicht gelungen sei, das Gericht von der Unrichtigkeit des Eingangsstempel-Aufdrucks des FA zu überzeugen.

Mit der Revision beantragt der Steuerpflichtige, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.

Er rügt unzureichende Sachverhaltsaufklärung, mangelnde Erfüllung der Hinweispflicht sowie unzutreffende Beweiswürdigung durch das FG. Insbesondere trägt er vor, auf dem Umschlag, in welchem sich die ihm durch Postzustellungsurkunde (PZU) zugestellten Einspruchsentscheidungen befunden hätten, sei entgegen § 3 Abs. 1 Satz 2 VwZG keine Geschäftsnummer angegeben. Der Umschlag wurde der Revisionsbegründungsschrift beigefügt.

Das FA hält die Revision für unbegründet. Es verweist darauf, daß das FG die Beweiswürdigung sorgfältig vorgenommen habe und die Rüge der fehlerhaften Zustellung der Einspruchsentscheidung ein verspätetes tatsächliches Vorbringen darstelle, das in der Revisionsinstanz keine Berücksichtigung mehr finden könne.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

Die Vorinstanz hat zu Unrecht die Klage als unzulässig abgewiesen. Die Steuerpflichtige hat die Klagefrist des § 47 FGO nicht versäumt. Denn diese Frist begann mangels wirksamer Zustellung der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf nicht am 6. August 1966 zu laufen. Die Frist zur Erhebung der Anfechtungsklage beginnt nach § 47 FGO mit der Bekanntgabe der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf. Der Ausdruck "Bekanntgabe" bedeutet hier, wie sich aus § 53 FGO ergibt, die wirksame Zustellung nach den Vorschriften des VwZG. Daran fehlt es im Streitfall. Das FA hat den Weg der Zustellung durch die Post mit PZU gewählt (§ 3 VwZG). Dafür ist vorgeschrieben, daß die Sendung mit der Anschrift des Empfängers und mit der Bezeichnung der absendenden Dienststelle, einer Geschäftsnummer und einem Vordruck für die Zustellungsurkunde zu versehen ist (§ 3 Abs. 1 Satz 2 VwZG). Im Streitfall trug der Briefumschlag, der die Einspruchsentscheidung enthielt, keine Geschäftsnummer.

Das Fehlen der Geschäftsnummer auf dem Umschlag, der die Einspruchsentscheidungen enthielt, macht die Zustellung unwirksam (Urteil des BFH I R 9/68 vom 14. November 1968, BFH 94, 202, BStBl II 1969, 151). Das muß auch in der Revisionsinstanz noch beachtet werden, obgleich es sich um neues tatsächliches Vorbringen handelt. Denn die ordnungsgemäße Zustellung der Einspruchsentscheidungen muß im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung der Klage festgestellt werden. Die Zulässigkeit einer Klage ist Sachurteilsvoraussetzung; denn sie gehört zum Kreis jener Umstände, von denen es abhängt, ob das auf sachliche Entscheidung gerichtete Verfahren als solches und im ganzen zulässig ist (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 9. Aufl., § 89 Anm. I, 2; Redecker-von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, Katalog der Sachurteilsvoraussetzungen bei § 109 der Verwaltungsgerichtsordnung, Anm. 3). Das Vorliegen der Sachurteilsvoraussetzungen ist von Amts wegen in jeder Verfahrenslage - auch unter Berücksichtigung neuen tatsächlichen Vorbringens - zu überprüfen (so auch Entscheidungen des BGH III ZR 369/51 vom 6. Oktober 1952, BGHZ 7, 280 [284] zur Frage der Einhaltung der Berufungsfrist, sowie V ZR 197/58 vom 14. Dezember 1959, NJW 1960, 523 zur Frage der Prozeßführungsbefugnis).

Eine Umdeutung der Zustellung nach § 3 VwZG in eine Bekanntgabe nach § 17 VwZG ist nicht zulässig.

Das VwZG unterscheidet zwischen verschiedenen Zustellungsarten, die jeweils unterschiedlich ausgestaltet sind. Die besondere Abgrenzung zwischen den Zustellungen gemäß §§ 2 bis 6 VwZG einerseits und den Sonderarten der Zustellungen nach §§ 14 bis 17 VwZG andererseits läßt bereits der Gesetzesaufbau erkennen. Die Verschiedenheit der Zustellung nach § 3 VwZG und der Bekanntgabe nach § 17 VwZG wird zudem deutlich durch den unterschiedlichen Beginn des Laufs der Rechtsbehelfsfristen und als Folge dessen durch das Erfordernis verschiedenartiger Rechtsbehelfsbelehrungen. Schon diese, zwar mehr zu den Äußerlichkeiten zählenden Umstände sprechen gegen eine Umdeutung einer unwirksamen Zustellung nach § 3 VwZG in eine Bekanntgabe nach § 17 VwZG. Hinzu kommt, daß nach § 9 VwZG grundsätzlich Verstöße gegen zwingende Zustellungsvorschriften unbeachtlich sind, wenn der Zeitpunkt, in dem der Empfangsberechtigte das Schriftstück erhalten hat, nachgewiesen wird, dieser Grundsatz jedoch dann nicht angewendet werden darf, wenn mit der Zustellung die Frist zur Einlegung eines Rechtsbehelfs an das Gericht beginnt. Diese Bestimmung läßt erkennen, daß der Gesetzgeber in den zuletzt genannten Fällen im Interesse der Rechtssicherheit eine besondere Formstrenge gewahrt wissen will. Die Vorschrift gebietet nach Auffassung des Senats, die für das einzelne gewählte Zustellungsverfahren vorgeschriebenen Erfordernisse genau zu beachten und schließt eine Umdeutung der bewußt gewählten Zustellung nach § 3 VwZG in eine Bekanntgabe nach § 17 VwZG aus (vgl. auch Mattern-Meßmer, Reichsabgabenordnung, Tz. 3163 = Anm. 3 zu § 9 VwZG).

Der VI. Senat des BFH hat zwar eine Umdeutung grundsätzlich für zulässig erachtet (vgl. Urteil VI 135/55 U vom 12. April 1957, BFH 65, 23, BStBl III 1957, 241). Der erkennende Senat vermag dieser Auffassung jedoch unter dem Eindruck der seit dem Inkrafttreten der FGO allgemein strenger gewordenen Verfahrensregeln nicht zu folgen. Der Anrufung des Großen Senats bedarf es weder gemäß § 11 Abs. 3 FGO, da das Urteil VI 135/55 U (a. a. O.) nicht gemäß § 64 AO a. F. als sogenanntes S-Urteil veröffentlicht wurde (§ 184 Abs. 2 Nr. 5 FGO), noch nach § 11 Abs. 4 FGO, da nach Auffassung des Senats die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Großen Senats zu dieser Frage nicht fordern.

Die Unwirksamkeit der Zustellung nach § 3 VwZG hat nicht zur Folge, daß die Einspruchsentscheidung selbst rechtsunwirksam ist. Sie führt nur dazu, daß der Lauf der Klagefrist nicht beginnt (BFH-Urteile IV 181/56 U vom 4. Dezember 1958, BFH 68, 534, BStBl III 1959, 203; III 7/60 U vom 25. Oktober 1963, BFH 77, 764, BStBl III 1963, 600; V 156/64 U vom 22. April 1965, BFH 82, 615, BStBl III 1965, 468). Über die sonach nicht verspätet erhobene Klage muß das FG nunmehr sachlich entscheiden (vgl. BFH-Urteil I R 9/68, a. a. O.).

 

Fundstellen

Haufe-Index 69265

BStBl II 1971, 9

BFHE 1971, 179

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