Rz. 110

Die Rückgabepflicht entfällt nach Art. 13 Abs. 1 Buchstabe a HKÜ, wenn das Sorgerecht zur Zeit des Verbringens oder Zurückhaltens tatsächlich nicht ausgeübt wurde und der Sorgeberechtigte dem Verbringen oder Zurückhalten des Kindes ausdrücklich oder konkludent zugestimmt hat.

Diese tatsächliche Frage unterliegt der Beurteilung des Zufluchtstaates im HKÜ-Verfahren. In Deutschland findet aufgrund von § 14 Nr. 2 IntFamRVG der Amtsermittlungsgrundsatz nach § 26 FamFG Anwendung.[301] An die "Nichtausübung des Sorgerechts" sind strenge Anforderungen zu stellen.[302] Voraussetzung ist, dass der Betreffende aus eigenem Willen das Sorgerecht überhaupt nicht wahrnimmt und damit konkludent auf dieses verzichtet.[303] Dies ist nicht anzunehmen, wenn der Elternteil regelmäßigen persönlichen oder telefonischen Kontakt zum Kind gehalten oder sein Umgangsrecht wahrgenommen hat.[304] Eine schematische Übertragung der für innerstaatliche Streitigkeiten geltenden Grundsätze auf die Rückführungsfälle ist nicht erlaubt.[305]

 

Rz. 111

Die praktische Bedeutung dieser Regelung liegt in der verfassungsrechtlich unbedenklichen[306] Beweislastumkehr.[307] Der entführende Elternteil muss den vollen Nachweis für seine Behauptung erbringen (siehe dazu eingehend Rdn 109).[308] Die vom entführenden Elternteil (z.B. durch Auswertung von Briefen) zu beweisende[309] Zustimmung des antragstellenden Elternteils ist formfrei und kann daher auch per SMS oder konkludent erteilt werden.[310] Die längere kommentarlose Hinnahme einer Kindesverbringung ins Ausland kann als konkludente Zustimmung aufzufassen sein.[311] Allerdings sind an die Beweisführung in diesem Fall hohe Anforderungen zu stellen.[312] Eine Zustimmung wird aber nicht schon dadurch erteilt, dass ein Elternteil mit einer auch längeren Auslandsreise des Kindes mit dem anderen Elternteil einverstanden ist, weil dessen Eltern pflegebedürftig sind,[313] oder die Genehmigung unter bestimmten Voraussetzungen nur in Aussicht gestellt, letztlich aber wegen Nichteintretens der Bedingungen nicht erteilt wird.[314] Vielmehr muss der dauerhaften Aufenthaltsänderung zugestimmt werden.[315] Die Zustimmung muss daher klar, eindeutig und unbedingt zum Ausdruck kommen und darf sich nicht nur auf einen für eine bestimmte Zeit beschränkten Aufenthaltswechsel beziehen.[316] Jedes andere Verständnis stünde in unauflösbarem Widerspruch dazu, dass der zurückgelassene Elternteil die Rückführung des Kindes nach dem HKÜ wegen Art. 12 Abs. 1 HKÜ binnen einer Frist von einem Jahr seit dem Verbringen bzw. Zurückhalten des Kindes fordern kann.[317]

 

Rz. 112

Die Zustimmung zur Verbringung kann vor dieser widerrufen werden. Darlegungs- und feststellungsbelastet für den Widerruf ist dann derjenige, der widerruft, weil er eine ihm günstige Tatsache geltend macht.[318] Nach erfolgter Verbringung des Kindes geht der Widerruf freilich ins Leere.[319] Fraglich bleibt freilich, wann eine Verbringung in diesem Sinne erfolgt ist. Das HKÜ-Verfahren wird durch die Annahme einer Widerrufsmöglichkeit mit einem weiteren tatsächlichen und Rechtsproblem belastet.[320] Ein Widerruf auch "zur Unzeit" wäre zwar wirksam, würde allerdings Schadensersatzansprüche gegen den widerrufenden Elternteil auf Ersatz der frustrierten Aufwendungen – analog denen im Rahmen des vereitelten Umgangsrechts (dazu § 2 Rdn 142) auslösen.

[301] AG Saarbrücken FamRZ 2003, 398, Anm. Witteborg, IPRax 2005, 330.
[303] KG DAVorm 2000, 1154.
[305] Bach/Gildenast, Rn 115.
[306] BVerfG FamRZ 1996, 1267; Niemeyer, FuR 1997, 53.
[307] OLG Dresden FamRZ 2002, 1136 (siehe auch die Anm. der Redaktion zu dieser Entscheidung in FamRZ 2003, 468); KG FamRZ 1996, 692; OLG Karlsruhe FamRZ 2015, 1627; AG Saarbrücken FamRZ 2003, 398, Anm. Witteborg, IPRax 2005, 330.
[308] OLG Hamm FamFR 2012, 141; OLG Dresden FamRZ 2002, 1136 (siehe auch die Anm. der Redaktion zu dieser Entscheidung in FamRZ 2003, 468).
[309] OLG Stuttgart FamRZ 2009, 2017; OLG Rostock FamRZ 2002, 46; AG Saarbrücken FamRZ 2003, 398, Anm. Witteborg, IPRax 2005, 330; Bach/Gildenast, Rn 113.
[311] OLG Stuttgart FamRZ 2009, 2017; OLG Nürnberg FamRZ 2009, 240, Anm. Völker in jurisPR-FamR 16/2009, Anm. 3; OLG Karlsruhe FamRZ 2006, 1699; AG Saarbrücken FamRZ 2003, 398, Anm. Witteborg, IPRax 2005, 330; Bach/Gildenast, Rn 117.
[312] OLG Stuttgart FamRZ 2009, 2017; FamRZ 2012, 238; OLG Karlsruhe FamRZ 2015, 1627; Völker in jurisPR-FamR 4/2007, Anm. 3.
[315] OGH Österreich EuLF 2008, II-67.
[316] OLG Saarbrücken, Beschl. v. 30.7.2015 – 6 UF 56/15 (n.v.); OLG Saarbrücken FamRZ 2011, 1235; OLG Hamm FamFR 2012, 141; OLG Düsseldorf FamFR 2011, 144; OLG Stuttgart FamRBint 2011, 74.

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