Rz. 109

Grundsätzlich geht das HKÜ davon aus, dass die Rückführung des Kindes seinem Wohl am ­besten entspricht. Die deutsche Fassung des HKÜ spricht von Rückgabe, nach der – vom EGMR gebilligten – Rechtsprechung des BVerfG ist aber eine Auslegung des HKÜ, aufgrund derer ein Gericht dem entführenden Elternteil die persönliche Rückführung des Kindes aufgibt, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.[294] Daher sind Entscheidungen, die im Verbleiben des entführten Kindes eine seinem Wohl dienende Maßnahme sehen, regelmäßig verfehlt. Neben der bereits dargestellten Ausnahme des Art. 12 Abs. 2 HKÜ – Antrag nach Ablauf der Jahresfrist und Einleben des Kindes (siehe dazu Rdn 106) können aber nach Art. 13 HKÜ[295] weitere Ausnahmen von der Verpflichtung zur sofortigen Rückgabe des Kindes bestehen. Danach sind das Gericht oder die Verwaltungsbehörde nicht verpflichtet, eine Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn

das Sorgerecht nicht ausgeübt wurde,
das Verbringen oder die Zurückhaltung gebilligt wurde,
eine Rückführung eine Kindeswohlgefährdung[296] darstellt oder
das hinreichend verstandesreife Kind sich der Rückgabe widersetzt.

Praktisch besonders bedeutsam ist für alle Rückführungshindernisses des Art. 13 HKÜ, dass den entführenden Elternteil nach allgemeiner Auffassung eine echte subjektive Beweisführungslast trifft (Wortlaut: "nachweist"), so dass der Amtsermittlungsgrundsatz im Rahmen dieser Norm keine Anwendung findet.[297] Hinzu kommt, dass die nach dem HKÜ zu treffende Sachentscheidung keine Sorgerechtsentscheidung ist (Art. 19 HKÜ) und auf einer summarischen Tatsachenprüfung beruht.[298] Dabei sind die Ermittlungen nur soweit auszudehnen, wie dies mit dem Eilcharakter des Verfahrens (§ 38 IntFamRVG) in Einklang zu bringen ist.[299] An den Nachweis sind strenge Anforderungen zu stellen, die diejenigen Maßnahmen übertreffen, die im klassischen einstweiligen Rechtsschutzverfahren deutscher Prägung gelten. Es sind nur die Beweise zugelassen, die entweder präsent oder unschwer zu erheben sind. Eine eigene eidesstattliche Versicherung genügt der subjektiven Beweisführungslast daher nicht.[300] Sie ist lediglich ein Mittel zur Glaubhaftmachung, aber kein Beweismittel.

[294] EGMR, Urt. v. 18.1.2011 – Individualbeschwerde Nr. 26755/10 – [L. und M./Deutschland], juris; BVerfGK 17, 236; vgl. auch EGMR, Urt. v. 6.7.2010 – Individualbeschwerde Nr. 41615/07 – [Neulinger und Shuruk/Schweiz].
[295] Zur abschließenden Aufzählung der zur sofortigen Rückgabe des Kindes in Frage kommenden Versagungsgründe in Art. 13 HKÜ vgl. Bach/Gildenast, Rn 150.
[296] Hierzu aus rechtspsychologischer Sicht Ballof, FPR 2004, 309; weitere Beispiele bei Finger, FuR 2013, 689, 696.
[297] OLG Saarbrücken, Beschl. v. 2.9.2015 – 6 UF 98/15 (n.v.) und vom 30.7.2015 – 6 UF 56/15 (n.v.); OLG Hamburg OLGR 2009, 208; Völker, FamRZ 2010, 157.
[298] OLG Saarbrücken, Beschl. v. 2.9.2015 – 6 UF 98/15 (n.v.) und vom 30.7.2015 – 6 UF 56/15 (n.v.); FamRZ 2011, 1235.
[299] OLG Saarbrücken, Beschl. v. 2.9.2015 – 6 UF 98/15 (n.v.) und vom 30.7.2015 – 6 UF 56/15 (n.v.).
[300] OLG Saarbrücken, Beschl. v. 2.9.2015 – 6 UF 98/15 (n.v.); AG Saarbrücken FamRZ 2003, 398, Anm. Witteborg, IPRax 2005, 330.

1. Keine Sorgerechtsausübung oder Billigung

 

Rz. 110

Die Rückgabepflicht entfällt nach Art. 13 Abs. 1 Buchstabe a HKÜ, wenn das Sorgerecht zur Zeit des Verbringens oder Zurückhaltens tatsächlich nicht ausgeübt wurde und der Sorgeberechtigte dem Verbringen oder Zurückhalten des Kindes ausdrücklich oder konkludent zugestimmt hat.

Diese tatsächliche Frage unterliegt der Beurteilung des Zufluchtstaates im HKÜ-Verfahren. In Deutschland findet aufgrund von § 14 Nr. 2 IntFamRVG der Amtsermittlungsgrundsatz nach § 26 FamFG Anwendung.[301] An die "Nichtausübung des Sorgerechts" sind strenge Anforderungen zu stellen.[302] Voraussetzung ist, dass der Betreffende aus eigenem Willen das Sorgerecht überhaupt nicht wahrnimmt und damit konkludent auf dieses verzichtet.[303] Dies ist nicht anzunehmen, wenn der Elternteil regelmäßigen persönlichen oder telefonischen Kontakt zum Kind gehalten oder sein Umgangsrecht wahrgenommen hat.[304] Eine schematische Übertragung der für innerstaatliche Streitigkeiten geltenden Grundsätze auf die Rückführungsfälle ist nicht erlaubt.[305]

 

Rz. 111

Die praktische Bedeutung dieser Regelung liegt in der verfassungsrechtlich unbedenklichen[306] Beweislastumkehr.[307] Der entführende Elternteil muss den vollen Nachweis für seine Behauptung erbringen (siehe dazu eingehend Rdn 109).[308] Die vom entführenden Elternteil (z.B. durch Auswertung von Briefen) zu beweisende[309] Zustimmung des antragstellenden Elternteils ist formfrei und kann daher auch per SMS oder konkludent erteilt werden.[310] Die längere kommentarlose Hinnahme einer Kindesverbringung ins Ausland kann als konkludente Zustimmung aufzufassen sein.[311] Allerdings sind an die Beweisführung in diesem Fall hohe Anforderungen zu stellen.[312] Eine Zustimmung wird aber nicht schon dadurch erteilt, dass ein Elternteil mit einer auch längeren Auslands...

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