Entscheidungsstichwort (Thema)

Internationale Kindesentführung: Zulässigkeit der sofortigen Beschwerde. Rückführung eines entgegen einer Sorgerechtsvereinbarung nach Deutschland verbrachten Kindes nach Polen. Wahrnehmung des Umgangsrechts. Prüfung des Kindeswohls bei Rückführungsanspruch

 

Leitsatz (amtlich)

1. Aufgrund des im HKÜ-Verfahren geltenden Beschleunigungsgrundsatzes und der fehlenden Abhilfebefugnis des Erstgerichts genügt auch nach dem am 1.9.2009 in Kraft getretenen neuen Recht die Einlegung der sofortigen Beschwerde beim Beschwerdegericht, wenn der Erstentscheidung keine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt war.

2. An die Voraussetzungen der tatsächlichen Ausübung des Sorgerechts sind keine allzu hohen Anforderungen zu stellen. Es genügt, wenn ein Umgangsrecht wahrgenommen worden ist.

3. Zu den Voraussetzungen einer Zustimmung i.S.d. Art. 13 S. 1 Buchst. a HKÜ sowie der Ausschlusstatbestände Art. 13 S. 1 Buchst. b HKÜ ("schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens"; "unzumutbare Lage") und Art. 13 S. 2 HKÜ ("Widersetzen des Kindes").

 

Normenkette

HKÜ Alt. 3 Buchst. b; HKÜ Art. 11, 13; Brüssel II a-Verordnung Art. 11 Abs. 3g; IntFamRVG § 38 Abs. 1 S. 1, § 40 Abs. 2 S. 1, §§ 39, 64 Abs. 1, § 68 Abs. 1 S. 2 FamFG i.V.m. § 14 Nr. 2

 

Verfahrensgang

AG Nürnberg (Beschluss vom 16.12.2009; Aktenzeichen 110 F 2939/09)

 

Tenor

1. Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des AG - Familiengericht - Nürnberg vom 16.12.2009 - 110 F 2939/09, abgeändert.

2. Der Antragsgegnerin wird Gelegenheit gegeben, das Kind W. G., geboren am 9.12.1999, bis zum 31.3.2010 nach Polen zurückzuführen.

3. Führt die Antragsgegnerin das Kind nicht bis zum 31.3.2010 nach Polen zurück, ist sie und jede andere Person, bei der sich das Kind aufhält, verpflichtet, das Kind W. G. an den Antragsteller oder eine von diesem bestimmte Person zum Zwecke der Rückführung nach Polen herauszugeben.

4. Der Antragsgegnerin wird darauf hingewiesen, dass gegen sie im Falle der Zuwiderhandlung gegen die Verpflichtung nach Nr. 3 dieses Beschlusses ein Ordnungsgeld i.H.v. bis zu 25.000 EUR sowie Ordnungshaft bis zu sechs Monaten angeordnet werden kann.

5. Eine Erstattung außergerichtlicher Kosten erster und zweiter Instanz findet nicht statt. Die Gerichtskosten der ersten und zweiten Instanz tragen der Antragsteller und die Antragsgegnerin je zur Hälfte.

6. Der Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.000 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Der Antragsteller und die Antragsgegnerin sind die Eltern des Kindes W. G., das am 9.12.1999 in Polen in HHI geboren ist und ebenso wie seine Eltern ausschließlich die polnische Staatsangehörigkeit besitzt. Die Eltern sind oder, waren nicht miteinander verheiratet. Der Antragsteller hat die Vaterschaft am 20.12.1999 anerkannt, so dass die elterliche Sorge für das Kind nach polnischem Recht beiden Eltern gemeinsam zusteht.

Mit Beschluss des Gerichts in S. (Polen) vom 24.3.2006 wurde die Ausübung der elterlichen Sorge durch beide Elternteile unter die Aufsicht des Gerichtspflegers gestellt.

Da das Kind bei der Mutter lebte wurde dem Antragsteller zunächst mit Gerichtsvergleich vom 27.2.2007 und dann in Erweiterung dieses Vergleichs durch Beschluss des Kreisgerichts S. (Polen) vom 28.2.2008 ein umfangreiches Umgangsrecht eingeräumt.

Am 7.6.2008 heiratete die Antragsgegnerin K. N., der polnischer Staatsangehöriger ist, aber seit seiner Kindheit in Deutschland lebt. Um Besuche der Antragsgegnerin zusammen mit dem Kind in Deutschland zu ermöglichen, ersetzte das Bezirksgericht S. (Polen) mit Beschluss vom 27.6.2008 die Zustimmung des Antragstellers zur Ausstellung eines Reisepasses für W.. In diesem Beschluss wird festgehalten, dass die Antragsgegnerin erklärte, dass sie sich dessen bewusst ist, dass die Genehmigung für die Ausstellung des Passes nicht die Genehmigung für die Ausreise umfasst und ihr die Rechtsfolgen eines rechtswidrigen Kindesentzugs nach dem HKÜ bekannt sind.

Nach Erlass dieses Beschlusses machte der Antragsteller am 21.7.2008 beim zuständigen Gericht S. in Polen ein Sorgerechtsverfahren anhängig, in dem er die Übertragung der elterlichen Sorge für W. auf sich alleine beantragt hat und die Antragsgegnerin zwischenzeitlich einen Gegenantrag gestellt hat. Dieses Verfahren ist noch nicht abgeschlossen.

Ca. ein Jahr später, nämlich am 2.6.2009, begab sich die Antragsgegnerin zusammen mit W. nach Deutschland, um ihren in Nürnberg wohnhaften Ehemann zu besuchen. Zu diesem Zeitpunkte hatte sie noch nicht vor, mit W. dauerhaft in Deutschland zu bleiben. Der Antragsteller leitete im Juli 2009 ein Rückführungsverfahren nach dem HKÜ ein, da er, was die Antragsgegnerin in Frage stellt, im Juli 2009 zweimal vergeblich versucht hat, W. in Deutschland zu einem Ferienumgang abzuholen und er nicht wusste, wo sich W. aufhält. Am 26.7.2009 traf der Antragsteller schließlich die Antragsgegnerin und W. an und konnte W. zu einem Ferienumgang mit nach Polen nehmen. Am 9.8.2009 brachte der Antragsteller W. ver...

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