Orte der "grünen" Transformation: Offshore-Industrie Cuxhaven

Cuxhaven, 8. März 2023. Im Deutschen Offshore-Industrie-Zentrum nimmt die Energiewende Form an. Von dort treten Bauteile für Onshore- und Offshore-Windkraftanlagen die Reise an ihre Einsatzorte an. Rund 250 neue Windkraftanlagen bräuchte Deutschland pro Jahr, um die Ausbauziele für erneuerbare Energie zu schaffen. In Cuxhaven arbeiten Stadt, Land und Unternehmen wie Siemens Gamesa Renewable Energy gemeinsam daran, aufs Tempo zu drücken.

Zwischen den gewaltigen Rotorblättern und haushohen Gondeln wirken die Hafenarbeiter in ihren neongelben Jacken winzig. Eine Gondel, so heißt der Maschinenraum einer Windkraftanlage, wiegt in etwa so viel wie ein Einfamilienhaus. Im Deutschen Offshore-Industrie-Zentrum in Cuxhaven liegen sie aufgereiht und warten auf ihren Einsatz – also die Verschiffung zu einem Offshore-Windpark in der Nordsee, Ostsee oder weltweit. Pro Tag verlässt eine Gondel die Werkshalle von Siemens Gamsa Renewable Energy, das hier seit dem Jahr 2018 rund 1.100 Menschen beschäftigt. Eine Gondel, das klingt nach viel, bedenkt man die Ausmaße und Komplexität dieser Konstruktionen, ist aber, gemessen an den Ausbauzielen der Bundesregierung für Erneuerbare Energien, zu wenig, sagt Marc Itgen. Er weiß, wovon er spricht. Itgen leitet die Agentur für Wirtschaftsförderung der Stadt Cuxhaven und arbeitete zuvor für Vattenfall und RWE in der Offshore-Industrie. 

Im Jahr 2022 hat Deutschland die Ausbauziele für Windräder zwar knapp erreicht, doch für die kommenden Jahre ist das unwahrscheinlich. Die von der Ampel-Koalition beschlossenen Erleichterungen für Genehmigung und Bau kommen möglicherweise zu spät. Gleichzeitig bremsen Inflation und Lieferengpässe neue Projekte aus. Um die Ziele aus dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) zu erreichen, müssten ab 2025 jährlich Windparks mit einer Gesamtleistung von 7,8 Gigawatt entstehen. Das entspricht in etwa drei mittelgroßen Kohlekraftwerken. "Wir bräuchten rund 250 neue Anlagen in Deutschland pro Jahr", rechnet Itgen vor. Für unmöglich hält er das nicht. Moderne Offshore-Windparks kämen inzwischen auf eine Leistung von rund einem Gigawatt. Itgen spricht von Kraftwerken, nicht von Windrädern. Denn zu den Mühlen, also den Windkraftanlagen, gehört auch ein Umspannwerk, das die Energie bereits auf See bündelt und weiterleitet. Ein solcher Verbund funktioniert vereinfacht gesprochen wie ein Kraftwerk.

Rotorblätter auf Reisen

Inzwischen seien auf See Blattlängen von 110 Metern im Testbetrieb, erzählt Itgen, der sich als Ingenieur mit den technischen Details auskennt. Die kleineren Anlagen zu Lande kommen immerhin auf fast 70 Meter, das entspricht in etwa der Länge einer Antonow. Produziert werden sie in Fernost, ein Großteil davon in China. Cuxhaven hat sich zum Hauptumschlagsplatz für die Bauteile entwickelt. Von dort treten die Blätter auf Schwertransportern die Reise an ihren Bestimmungsort an. Der Transport erfolgt meist nachts. Viele davon gingen nach Deutschland oder Österreich, sagt Itgen. Vor der Schranke zu den Liegeplätzen reihen sich die Lastwagen, die auf ihre Fracht warten. Ein Blatt pro LKW. Die Zufahrtstraße ist, ebenso wie das Hafengelände, auf Schwerlasten ausgelegt. Sonst würde sie vermutlich einfach im sandigen Boden versinken. 

Einige hundert Meter weiter, in einer Werkshalle, das Blau schon etwas verwittert, möchte Titan Wind ab dem kommenden Jahr Stahlfundamente für Offshore-Windräder fertigen. Rund 3.000 Tonnen wiegt eines dieser Ungetüme. Mit Schwerlastkränen werden sie für den Transport auf Schiffe gehievt. Diese müssten Stützbeine ausfahren, um bei der Beladung nicht einfach im Untergrund des Hafens zu versinken, erzählt Itgen. In der Produktion könnten perspektivisch bis zu 300 Jobs entstehen. Geht es nach Itgen, sollen es noch mehr werden. Denn auch für Zulieferbetriebe ist das Offshore-Zentrum attraktiv. Deshalb plant die Stadt Cuxhaven eine Erweiterung der Fläche um bis zu 130 Hektar. Die Planung dafür habe man rechtzeitig begonnen, sagt Itgen. "Wir denken gerne groß."

Doch es gibt ein Problem: Laut Arbeitsagentur herrscht in Cuxhaven Vollbeschäftigung. Deshalb will die Stadt Fachkräfte aus dem Umland anlocken. Radius: eine Autostunde. Gebraucht werden neben Ingenieuren vor allem Elektriker, Logistiker, Lackierer und Ladearbeiter. "Etwa 85 Prozent Blue-Collar-Jobs", schätzt Itgen. Gleichzeitig müsse man bei den Neuansiedlungen im Offshore-Zentrum im Blick behalten, dass die Industrie nicht dem Handwerk die Mitarbeitenden abgrabe. Man sei diesbezüglich im Austausch mit beiden Seiten, sagt Itgen. Bereits jetzt ist Siemens größter Arbeitgeber der Stadt. 

Neben dem Tourismus, der Cuxhaven immerhin vier Millionen Übernachtungen jährlich beschert, und der Biotechnologie ist die Offshore-Industrie eines von drei wirtschaftlichen Standbeinen der Stadt. Sie ist auch Ausdruck des Wandlungsprozesses, den das Hafenareal an der Elbemündung durchlaufen hat: vom Fischereihafen zum Multi-Purpose-Hafen, wie ihn Itgen nennt. Mehrzweck deshalb, weil auch Autos von dort aus verschifft werden. Doch schon heute macht die Offshore-Industrie den größten Teil der Fläche aus. Trotzdem möchte Itgen nicht alles auf die Karte Windkraft setzen und arbeitet bereits an einem neuen "Masterplan": grüner Wasserstoff. Noch seien das Gedankenspiele. Sollten sie Realität werden, könnten künftig Schiffe in Cuxhaven Wasserstoff tanken. Der Mineralölkonzern Wintershall DEA und der Wasserstoffproduzent Turneo scheinen von dieser Idee überzeugt und bauen gerade einen Elektrolyseur.

Cuxhaven profitiert von Startvorsprung

Cuxhaven hat das Offshore-Industriezentrum einen Aufschwung beschert, ist Itgen sich sicher. Vom prognostizierten Bevölkerungsschwund ist bislang nichts zu spüren. Damit das so bleibe, investiere man weiter in die Hafeninfrastruktur, rund 750 Millionen Euro bis 2028. Drei neue Liegeplätze sollen entstehen, Nummer fünf bis sieben. Die Kosten dafür soll die Betreibergesellschaft Niedersachsen Ports tragen, also das Land. Itgen ist optimistisch. "Wir haben früh auf Windenergie gesetzt", sagt Itgen. Damals seien sie dafür belächelt worden; die Energiewende war nur ein vages Zukunftsprojekt. Heute profitiere der Standort von seiner Expertise, sowohl technologisch als auch prozessual. "Bei Planfeststellungsverfahren macht uns kaum einer etwas vor", sagt Itgen. Deshalb setze heute auch die Politik auf Cuxhaven.

Ein Selbstläufer sei das Industriezentrum deshalb noch lange nicht. Auch andere Häfen bauten ihre Kapazitäten aus, weiß Itgen. Deshalb müsse man wettbewerbsfähig bleiben. Entscheidend dafür seien vier Faktoren: die Akzeptanz der Bevölkerung, die Flächen, die Arbeitskräfte und die Finanzierung. Bisher sprechen sie für Cuxhaven. Die Partnerunternehmen im Hafen planten langfristig, behauptet Itgen. Das mag auch daran liegen, dass Deutschland noch sehr viele Windräder braucht, um seine Klimaziele zu erreichen. Und die Nachfrage, auch aus dem europäischen Ausland, ist gewaltig. Im Hintergrund entschwindet ein Schiff der Elbemündung in Richtung Nordsee, beladen mit Bauteilen für die Energiewende.


Dieses Kapitel ist Teil der Titelgeschichte aus Personalmagazin Ausgabe 5/2023. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der Personalmagazin-App.