Orte der "grünen" Transformation: Merck in Darmstadt

Darmstadt und Gernsheim, 22. Februar 2023. Während der Coronapandemie mauserte sich Merck zum stillen Helden. Das Unternehmen produzierte Lipid-Nanopartikel für die mRNA-Impfstoffe von Biontech. Als forschendes Pharmaunternehmen haben sich die Darmstädter der Innovation verpflichtet. Doch Fortschritt entsteht nicht nur in der Firmenzentrale, sondern auch im nahegelegenen Industriepark Gernsheim. Dort sollen sich Green-Tech-Unternehmen ansiedeln. Die ersten sind bereits vor Ort.

Der Campus des Wissenschafts- und Technologieunternehmens Merck erstreckt sich entlang der Frankfurter Straße in Darmstadt auf einer Fläche von der Größe eines Stadtteils. Parkplätze, Labore, Büros, Werkstätten, über 12.000 Menschen arbeiten hier. Darmstadt, so der Eindruck, ist Merck und Merck ist Darmstadt. Unsere Reise beginnt am Besuchereingang, der sich in einem modernen Glasbau mit futuristischem Betonskelett befindet, dem sogenannten Innovation Center. Eingeweiht wurde es anlässlich des 350-jährigen Unternehmensjubiläums im Jahr 2018. Die geschwungenen Treppen im Inneren sind einem Origami nachempfunden.

In einem vollverglasten Büro, die neue Arbeitswelt soll transparent sein, empfängt uns Khadija Ben Hammada zum Gespräch. Die 42-Jährige ist seit Anfang des Jahres 2023 Personalchefin des Unternehmens. Sie spricht Englisch mit französischem Akzent. Aufgewachsen ist sie in Strasbourg. Ben Hammada kennt das Unternehmen gut. Seit fast 14 Jahren arbeitet sie für Merck. Zunächst in Frankreich, später in den USA und Singapur, inzwischen in Darmstadt. "Das Unternehmen hat mein Potenzial erkannt, bevor ich es gesehen habe", sagt sie. Dafür sei sie dankbar. Gleichzeitig mache das die Qualität einer Organisation aus, glaubt sie. In die Mitarbeitenden zu investieren, das sei keine Aufgabe der Personalabteilung, es sei die Grundlage jeden unternehmerischen Denkens. 

Als forschendes Wissenschafts- und Technologieunternehmen haben sich die Darmstädter der Innovation verpflichtet. Das ist Fluch und Segen zugleich. Mit einem neuen Medikament oder Wirkstoff lassen sich mitunter Milliarden verdienen. In der Coronapandemie mauserte sich das Unternehmen zum stillen Helden. Denn die Lipid-Nanopartikel aus Merck-Produktion wurden für die mRNA-Impfstoffe von Biontech eingesetzt. Doch Erfolge im Pharmageschäft sind selten für die Ewigkeit. Patente laufen aus. Also müssen neue Ideen her. Transformation als Dauerzustand. Deshalb investiert das Unternehmen in den nächsten Jahren rund 1,5 Milliarden Euro in Darmstadt. Bis zum Jahr 2025 soll der Umsatz auf 25 Milliarden Euro steigen. Der Druck ist hoch. So ist es kein Zufall, dass "Curiosity", also Neugier, einen hohen Stellenwert hat. Innovation, da ist sich Ben Hammada sicher, sei keine Frage des Ortes, sondern der Menschen.

Entwicklungspfade statt Standardkarrieren

Wolle das Unternehmen Spitzenkräfte aus Forschung und Wissenschaft für einen Job beim Wissenschafts- und Technologieunternehmen gewinnen, laute eine der ersten Fragen, die Bewerbende im Vorstellungsgespräch stellen: Kann ich weiter eigene Projekte verfolgen? Merck gebe seinen Beschäftigten Freiheiten, sagt Ben Hammada. "Frage Menschen, was sie selbst wollen und nimm nicht an, zu wissen, was sie wollen", lautet ihr Credo. Dieser Glaubenssatz prägt auch ihre Personalstrategie: individuelle Entwicklungspfade, anstatt Standardkarrieren. Manchmal sei für einen Schritt nach vorne ein Schritt zur Seite notwendig. Mitarbeitende sollten nicht auf Titel achten, sondern darauf, welche Wirkung ihre Arbeit entfaltet, sagt die oberste Personalerin. Das mache auf Dauer zufriedener.

"Frage Menschen, was sie selbst wollen und nimm nicht an zu wissen, was sie wollen." – Khadija Ben Hammada, Merck

Merck ist eines der wenigen Unternehmen, die Pharma- und Chemiegeschäft nebeneinander betreiben. Auf den ersten Blick scheinen die Geschäftsfelder Life Science und Healthcare wenig Berührungspunkte zur Elektroniksparte zu haben. Ben Hammada widerspricht. Unter dem Deckbegriff Biokonvergenz verfolge das Unternehmen einen multidisziplinären Ansatz, der darauf abziele, Menschen ein gesünderes, längeres und nachhaltigeres Leben zu ermöglichen. So kann man es sehen. Sicherlich dürfte die Electronics-Sparte, die Bestandteile für die boomende Halbleiterindustrie liefert, auch zur Risikostreuung des Unternehmens beitragen. 

Am Rheinknie soll Zukunft entstehen

Es gäbe noch viele Fragen, Ben Hammada ist eine angenehme Gesprächspartnerin. Doch wir müssen los. Unser Fotograf Thomas Pirot wartet. Er ist begeistert von der Architektur des Gebäudes. Zwischen 3-D-Druckern, Designermöbeln und einem schlafenden Robo-Hund, sucht er nach dem perfekten Licht. Ben Hammada ist geduldig, erzählt von ihren marokkanischen Wurzeln, stellt selbst Fragen. 

Auf der Fahrt ins nahegelegene Gernsheim sortieren wir unsere Eindrücke. Am Rheinknie liegt der Industriepark Gernsheim, der vor rund 120 Jahren dort gegründet wurde und wo Merck seit rund 75 Jahren aktiv ist. Heute werden dort unter anderem Pigmente für die Kosmetik-, Lebensmittel- und Autoindustrie hergestellt. Rund 700 Menschen arbeiten hier. Doch seit einem Jahr nennen die Hinweisschilder einen neuen Namen: Fluxum. Der Konzern hat das Gelände in einen Green-Tech-Industriepark umgewandelt und auch für Drittunternehmen geöffnet. 26 Hektar stehen dort als sofort entwicklungsfähige Fläche zur Verfügung Noch ist ein Großteil der Fläche allerdings buchstäblich grüne Wiese. 

Startup entwickelt pflanzenbasierte Füllstoffe

Auf einem Tablet zeigt Stefan Fandel, Leiter der Standortentwicklung, wie das Gelände in Zukunft aussehen könnte. Bis ins Jahr 2030 sollen sich dort kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) sowie fortgeschrittene Startups ansiedeln, die an nachhaltigen Produkten und Lösungen im Bereich der Umwelttechnologien arbeiten. Merck betreibt den Park, stellt die wesentliche Infrastruktur, darunter Medienversorgung, einen Güterbahnanschluss – und auch eine Hafenanlage ist in unmittelbarer Nähe. Speziell für Startups wird ein Accelerator-Hub eingerichtet. Hierfür werden derzeit erste Interimsangebote und -flächen geschaffen. Bis 2025 soll der finale Accelerator-Bau stehen. Noch ist erst das Fundament zu sehen. Die Parzellen vergibt Merck in Erbpacht. "Seit dem Startschuss von Fluxum ist eine Aufbruchstimmung am Standort entstanden", sagt Fandel. Die Beschäftigten spürten, dass hier ein Projekt für die Zukunft heranwachse und sie ein Teil davon seien. Bis zu 750 neue Arbeitsplätze könnten so entstehen, rechnet Fandel vor. Außerdem sei ein Solarpark gemeinsam mit dem regionalen Energieversorger Entega in Planung. Dieser könne zehn Prozent des Energiebedarfs des Industriestandorts decken, darüber hinaus würde Strom aus der Anlage nach Darmstadt geleitet. 

In einer Wellblechhalle in militärischem Grün warten Moritz Lenhardt und Johannes Weber. Sie sind die Gründer des Startups Ceres, das pflanzenbasierte Füllmaterialien für den Paketversand produzieren möchte. Möchte, weil die Halle bis auf ein paar Plastiksäcke, Paketboxen, Strohballen und einer Schneidemaschine, die antik anmutet, noch leer steht. Doch Weber und Lenhardts Idee scheint ausgereift, die Maschinen zum Schneiden, Entkeimen, Entstauben und Verpacken des Weizenstrohs sind bereits geordert, die ersten Kunden, darunter der Elektronikriese Samsung, warten bereits. Künftig wollen sie bis zu 800.000 kompostierbare Vliesbeutel mit Strohfüllung produzieren, genug Füllmaterial für den Versand von rund 120.000 Paketen. "Wir arbeiten mit einem Abfallprodukt aus der regionalen Landwirtschaft", sagt Lenhardt. Ihre Strohbeutel seien preislich wettbewerbsfähig mit Styropor, Luftpolsterfolien oder Packpapier, fügt Weber hinzu. Nur eben mit besserer Umweltbilanz. 

Fandel ist stolz auf seine Pioniere. "Wir möchten hier das führende Zentrum für Green Tech im Rhein-Main-Gebiet errichten", sagt er. Prognosen zufolge verspricht der globale Markt für Umwelttechnologien ein jährliches Wachstum von rund 8 Prozent. Noch wächst in Gernsheim das Gras. Doch die Bagger stehen bereit. Und an Interessenten mangelt es Fandel nicht.


Dieses Kapitel ist Teil der Titelgeschichte aus Personalmagazin Ausgabe 5/2023. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der Personalmagazin-App.