LMS als Friedhöfe von Lernmaterial

Mit "New Learning" adaptiert die HR-Branche die New-Work-Konzepte im Lernraum – oder zumindest im Namen. Denn statt besserer Erfolge häufen sich die Friedhöfe des Materials auf den Lernplattformen der Unternehmen. Warum die schöne neue Lernwelt der Tod des Lerntransfers ist, hat Kolumnist Axel Koch analysiert.

Lerntransfer ist out, könnte man denken. Denn die schöne neue Lernwelt als Folge der Digitalisierung verspricht jederzeit und an jedem Ort flexibel, ganz individuell und bedarfsgerecht lernen zu können. Das trifft den Nerv von Führungskräften. Das Versprechen lautet: Stelle Deinen Mitarbeitenden alle nötigen Lernmaterialien gut aufbereitet zur Verfügung und sie werden im eigenen Interesse alles lernen und sind damit fit für ihren Job. Preisverhandlung im Vertrieb – kein Problem. Der Online-Kurs "In acht Schritten besser verhandeln" hilft. Und die gute Nachricht ist: Als Chef oder Chefin muss ich mich nicht weiter darum kümmern.

Selbstlern-Formate sind wie Ringelnattern

Auf viele Menschen wirken Selbstlern-Formate allerdings genauso bedrohlich wie Ringelnattern im Unterholz – sie lösen den Fluchtreflex aus. Die im Gehirn damit verbundenen Turbulenzen sind ähnlich wie bei meinem Sohn, wenn er für die Schule lernen oder Hausaufgaben machen soll. Dann funkelt er mich aus flackernden Augen an, dass die Luft zwischen uns brennt. Mit einer Explosivkraft, die einer Kernfusion gleichkommt, gibt er mir zu verstehen, dass er dazu keine Lust hat.

An den Arbeitsplätzen spielt sich das Ganze natürlich gesitteter ab. Da hören Sie eher Äußerungen wie "Habe ich jetzt keine Zeit für." Und Schwupp – ist die Lernanforderung vom Tisch, mit der gemurmelten Selbstberuhigung "Mache ich später." Also nie. Auch gern genommen: "Das geht hier bei uns nicht so gut." Zum Beispiel, weil Menschen im Großraumbüro arbeiten und es einfach schlecht aussieht, wenn jemand lernt, während die anderen arbeiten.

Erst neulich erzählte mir die Mitarbeiterin eines Konzerns, die im Bereich "Learning & Development" arbeitet, wie wenig Zugriff auf die eigene Lernplattform ist. Top modern. Akribisch kuratiert. Alle Features. Verwaist wie manche Innenstädte. Irre. Da gibt es die schönsten digitalen Lernformate, und die Beschäftigten honorieren das mit dem gleichen Schlafzimmer-Blick, wie ihn Kühe beim Grasen an den Tag legen.

Alte Lernkultur trifft auf New Learning

Was läuft da also schief? Es sind falsche Annahmen, die tief in der Unternehmens-DNA verwurzelt sind. Sie betreffen die Lernkultur und damit Werte, Einstellungen und Normen, wie Lernen und Umsetzung im Arbeitsalltag erfolgen. Diese Annahmen unterminieren auch die Effekte von Webinaren, Seminaren oder Trainings. Hier sind nun ein paar – als Checkliste des Grauens sozusagen:

  • Schulungen stehlen Arbeitszeit: "Das machen unsere Mitarbeitenden nicht! Und unsere Führungskräfte schon gar nicht." Wie ein Wurfgeschoss prallte einer Trainerin diese Aussage einer Personalerin entgegen. Dabei wollte sie doch nur den Lerntransfer durch vor- und nachbereitende Aktivitäten sichern. Klare Botschaft: Keine Zeit für Transfer, es ist schon schlimm genug, dass Zeit für die Schulung draufgeht.
  • Das geht auch in der halben Zeit: Schulungen und Lernen müssen schnell gehen. "Machen Sie mal unsere 40 Stationsleitungen in der einstündigen Übergabe-Zeit für den Umgang mit Konflikten fit", so ein Beispiel eines Auftrags. Je kürzer, je lieber. In Lern- beziehungsweise Veränderungsprozessen denken – "Nein Danke". Das operative Geschäft führt die Beschäftigten an den Anschlag, so dass kaum noch eine "Stecknadel Lernstoff" reinpasst.
  • Schulung ist wie eine Waschanlage: Die Vorstellung bei Führungskräften besteht darin, dass die Mitarbeitenden ein bis zwei Tage in einer Schulung verschwinden und danach alles können. Vom Effekt her ähnlich, als wenn man ein schmutziges Auto in die Waschanlage fährt und danach kommt es sauber wieder heraus. Damit eng verbunden ist die Annahme, der Trainer wird es schon richten, dass es so läuft.
  • Irgendwas bleibt immer hängen: Allein die Aussage ist schon bedenklich, wenn es darum geht, zielgerichtet bestimmte erfolgskritische Kompetenzen für die Arbeit zu entwickeln. Aber dieser Satz ist der absolute Klassiker. Das würden wir beim Fahrunterricht für den PKW-Führerschein nicht mal zu denken wagen.
  • Das passiert automatisch im Alltag: Gehirntechnisch ist das Unsinn. Genauso wie die Idee des Nürnberger Trichters. Ohne bewussten Vorsatz bleibt normalerweise nichts hängen. Außer es war so emotional, als hätte Sie eine Hornisse geküsst. Lernen braucht Auseinandersetzung, Reflektion, Übung.
  • Viel hilft viel: Seminare werden vollgepackt mit Inhalten. Denn es geht darum, viel Wissen zu vermitteln. Konfliktmanagement an nur einem Tag. Das klingt gut. Komprimiert viel mitnehmen. Was dabei ausgeblendet wird: Die Arbeit beginnt danach. Allein die Veränderung einer Gewohnheit dauert zwei bis drei Monate. Es braucht also nicht viel Stoff, sondern Fokus, was wirklich umgesetzt werden soll.
  • Die werden es schon im eigenen Interesse umsetzen: Lerntransfer-Förderung ist unnötig. Denn immerhin sind in den Schulungen erwachsene Menschen, die das Gelernte schon allein umsetzen werden, weil es ihnen ja hilft, ihre Arbeit besser zu machen. Allerdings sind nur wenige Menschen so gute selbstgesteuerte Lerner, die trotz aller Tagesanforderungen beim Lernziel ankommen.
  • Kennen heißt Können. Beliebte Aussage von Teilnehmenden: "Kenne ich schon". Beim Sport, wie Tennis, würde das keiner sagen: "Kenne ich schon, wie man einen Ball aufschlägt". Da wäre es ganz selbstverständlich, dass es Übung und Vertiefung braucht. Nur in der Erwachsenenbildung gilt das nicht. Da muss immer alles neu sein.
  • Schulung muss wie Kino sein: Ein guter Lernprozess ist, wenn die Leute gar nicht merken, dass sie gerade etwas gelernt haben. Bei Schulungen geht es gar nicht um die Wirkung – vielmehr haben sie Incentive-Charakter. Schaffen Erlebnisse und Spaß. Es wird lieber die Almhütte für 15.000 Euro als Lernort gekauft, als dasselbe Geld für Lerntransfer und einen wirksamen Lernprozess zu investieren. Bloß keine Anstrengung – alles muss pragmatisch, hands-on, sofort und einfach umsetzbar sein. Und so drückt die Last der Lockerheit auf die Gemüter, wenn es zum Beispiel um E-Learnings geht. Wie bitte schön bringt man den Spaßfaktor in die neusten Hygienerichtlinien? Vielleicht mit "Bakteri – der lustigen Salmonelle", die wie Scrat, das großäugige Säbelzahn-Eichhörnchen aus dem Film "Ice Age", durch den Lernclip huscht?

Lernen braucht Motivation, Zeit, Übung, Feedback

All diese Annahmen sind Lerntransfer- und Umsetzungsverhinderer. Schlussendlich können Sie es drehen und wenden, wie Sie wollen: Lernen und Veränderung braucht erst einmal Motivation – ob im Seminarraum oder beim Lernen am Arbeitsplatz mit digitalen Medien. Selbst mit den besten Tricks und Methoden brauchen Sie zum Lernen außerdem Zeit. Sie müssen sich mit dem Wissensstoff auseinandersetzen, ganz egal, wie er aufbereitet ist und wie lange eine Lerneinheit dauert. Und gerade, wenn es um die Veränderung von Gewohnheiten oder den Erwerb neuer Skills geht, brauchen Sie Übung, Anwendung und Feedback. Zeit zum Ausmisten: Weg mit den alten Annahmen, damit eine "Neue Wirksamkeit" entsteht.


Prof. Dr. Axel Koch ist promovierter Diplom-Psychologe und arbeitet als Dekan der Fakultät Wirtschaftspsychologie und Professor für Training und Coaching an der Hochschule für angewandtes Management in Ismaning (bei München). In seiner Forschung befasst sich Koch mit dem Thema Lerntransfer und nachhaltige Veränderung. Er hat über 25 Jahre Erfahrung als Personalentwickler, Trainer und Coach. Er steckt hinter dem Pseudonym "Richard Gris", unter dessen Namen 2008 das Buch "Die Weiterbildungslüge" erschien.