Digitales Lernen professionalisiert sich
Die Pandemie war ein echter Booster für das E-Learning – zu dieser einhelligen Meinung kamen die Teilnehmenden des Branchentalks E-Learning im vergangenen Jahr. Das war die Situation nach gut einem Jahr Coronapandemie. Wie hat sich das digitale Lernen in den Unternehmen weiterentwickelt? Konnte die Personalentwicklung den Booster für sich nutzen und die Position im Unternehmen stärken? Welche Herausforderungen stehen nun an der Tagesordnung und wie kann die Technologie dabei unterstützen, sie zu bewältigen? Diese Fragen standen im Vordergrund beim zweiten Branchentalk E-Learning im Januar 2022. Und es wurde schnell klar: Die aus der Not geborenen E-Learning-Lösungen sind Vergangenheit. Die Professionalisierung der digitalen Weiterbildungsangebote ist in vollem Gange.
Pandemie als Booster für E-Learning, jetzt folgt die Professionalisierungsphase
"Die Pandemie war mit Sicherheit ein Booster für das E-Learning, nachdem der gesamte Präsenzanteil erst mal auf Eis gelegt wurde", bestätigt Markus Grunwald, Vorstand des E-Learning-Anbieters Know How AG. "Doch es war auch schnell klar, dass man Präsenzseminare nicht mal eben schnell virtualisieren kann – das funktioniert nicht. Man muss an die Konzepte ran", gibt er zu bedenken. Grunwald ist seit mehr als zehn Jahren für Know How als Vorstand tätig und hat in den vergangenen zwei Jahren vor allem bei zwei Themen eine verstärkte Nachfrage auf dem E-Learning-Markt festgestellt: Die Kunden suchten einerseits nach einer Antwort auf die Frage, wie die digitale Zusammenarbeit gelingen könne. Dabei gehe der Trend weg – auch schon vor Pandemiezeiten – von Tool-Schulungen hin zu der generellen Wahl und Nutzung einer gemeinsamen Arbeitsplattform. Andererseits seien die Schulungen für "Digital Leadership" stark nachgefragt. Wobei auch hier die Frage nach der digitalen Zusammenarbeit im Vordergrund stehe.
"Wir waren in der Pandemie superproduktiv, aber waren wir auch superinnovativ? Ich denke, wir werden in ein bis zwei Jahren sehen, dass uns hier doch etwas gefehlt hat." Jessica Richter
Das sieht Jessica Richter ganz ähnlich. Sie ist Head of People and Leadership Development bei Infineon Technologies und damit mitverantwortlich dafür, dass die mehr als 12.000 Mitarbeitenden des Halbleiterherstellers in Deutschland auch in Pandemiezeiten lernen und sich weiterbilden können. Auch sie startete mit ihrem Team zu Beginn des ersten Lockdowns damit, die Face-to-Face-Formate in die digitalisierte Welt zu übertragen. "Das war eine große Herausforderung, auch in der Zusammenarbeit mit unseren externen Trainern und Trainerinnen", erklärt sie beim Branchentalk. "Wir mussten deshalb erst einmal eine Qualitätsprüfung durchführen und sehen, wer die digitalen Formate gut umsetzen kann."
Und die Personalentwicklerin blickte auch auf Mitarbeitende und Führungskräfte. "Der größte Trugschluss wäre es anzunehmen, dass jeder und jede mit den digitalen Medien umgehen kann." Die Trainings zur Medienkompetenz und zum "Hybrid Leadership", die bei Infineon aufgesetzt wurden, erlebten eine große Nachfrage.
Personalentwicklung in der Pandemie: Besondere Maßnahmen für den Vertrieb
Die Hamburger Niederlassung des italienischen Pharma- und Gesundheitsunternehmens Chiesi ist die größte Vertriebsgesellschaft außerhalb Italiens. Die Leiterin Personalentwicklung, Heike Baader-Kröger, musste die vielen Außendienstmitarbeitenden unterstützen, auf digitales Arbeiten und Lernen umzustellen. "Zu Hause zu hocken, in die Kiste zu schauen – der Lockdown war für unsere Außendienstler sozusagen keine artgerechte Haltung", fasst Baader-Kröger mit etwas Ironie die Situation zusammen. Am Anfang seien viele überfordert gewesen. "Ich hatte weinende Menschen am Telefon, die unsere Unterstützung brauchten." Das sei nicht nur eine Frage der technischen Unterstützung, sondern vor allem des Aufbaus eines passenden Mindsets, erklärt die Personalentwicklerin, die selbst zertifizierte Trainerin und Coach ist. "Kämpfen, fliehen oder tot stellen – das sind die klassischen Reaktionen auf die Krisensituation. Und einige haben sich für die dritte Variante entschieden." Gegengesteuert hat die Personalentwicklerin mit Selbstführungstrainings für Mitarbeitende und Führungskräfte. "Da muss man sofort reagieren und sich nicht erst lange über die Angebote abstimmen", ist sie sich sicher. Fehlende digitale Kompetenzen waren dabei auch bei den externen Trainern und Trainerinnen zu sehen. Von einigen musste sich die Personalentwicklerin konsequent trennen.
Selbstmanagement, Kommunikation und digitale Führung sind auch die drei Themen, die in einer Umfrage von FAZ und Cornerstone On Demand als die wichtigsten inhaltlichen Herausforderungen in der Weiterbildung in der Pandemiezeit genannt wurden. Der LMS-Anbieter stellte ein Lernpaket zu diesen Inhalten unter dem Titel "Remote Work Essentials" zusammen und "die Unternehmen haben danach geschrien, weil sie schnell etwas brauchten, womit man allen Mitarbeitenden helfen kann", bewertet Thorsten Rusch, Senior Manager Solution Consulting bei Cornerstone On Demand, die Nachfrage nach diesem Angebot. Doch während es in vielen Unternehmen eben darum ging, welche Inhalte auf den Lernplattformen ausgespielt werden sollten, waren mittelständische Unternehmen nach Ruschs Beurteilung noch auf einem anderen Level: "Die mussten zunächst die Strukturen für das digitale Lernen schaffen, eine Lernplattform erst mal aufbauen."
Professionalisierung beim E-Learning im Fokus
Inzwischen habe aber jeder verstanden, dass Digitalisierung die Zukunft sei, betont Rusch. Die Unternehmen sind auf dem Weg der Professionalisierung angekommen, nachdem im ersten Pandemiejahr noch Notlösungen dominierten. Die Akzeptanz von digitalen Formaten ist rasant in die Höhe geschossen, darin sind sich alle Talk-Teilnehmenden einig. Cornerstone kann das an der Zahlenentwicklung von 2021 im Vergleich zu 2020 ablesen: "Die Anzahl der Trainings, für die sich Leute registriert haben in unserem System, hat sich verdreifacht. Genau das Gleiche für die Schulungsabschlüsse und die Lernzeiten." Vielfach ist die Zahl der Trainings gestiegen, die digitalen Formate haben aber auch Schranken überwunden: Bei Chiesi zeigt sich die hohe Akzeptanz auch daran, dass selbst Coachings nun virtuell gut angenommen werden – ein Format, das noch zu Beginn der Pandemie als reines Präsenzformat gesehen wurde.
Gleichzeitig werden die Mitarbeitergruppen, die beim digitalen Lernen berücksichtigt werden, erweitert: "Wir haben tatsächlich als eins der ersten Produktionsunternehmen, Linkedin-Learning für unsere Produktionsmitarbeitenden ausgerollt, mit extremem Erfolg", erklärt die Infineon-Personalentwicklerin. Die am häufigsten genutzten Angebote drehen sich um Team- und Konfliktkommunikation sowie Zeitmanagement. Die Mitarbeitenden sehen darin die Wertschätzung des Unternehmens, das nicht nur auf Schulungen an den Maschinen setzt. Dafür wurden Lernphasen definiert und Lernräume in der Produktion geschaffen.
Bedeutung der Personalentwicklung ist gestiegen
Und nicht nur die digitalen Formate finden Anklang, sondern auch das Lernen an sich habe einen viel höheren Stellenwert bekommen, ergänzt Markus Grunwald von Know How. Dabei sei auch die Personalentwicklung "so sichtbar geworden, wie schon lange nicht mehr". Die Personalentwicklung habe inzwischen eine ähnliche Ausnahmestellung wie die IT – "ohne sie funktioniert nichts mehr".
"Die Personalentwicklung hat inzwischen eine ähnliche Ausnahmestellung wie die IT in den Unternehmen – ohne sie funktioniert nichts mehr." Markus Grunwald
Diesen Bedeutungszuwachs beobachtet auch Baader-Kröger: "Die Personalentwicklung wird jetzt noch ernster genommen – gerade die strategische Personalentwicklung und die Organisationsentwicklung. Alle haben verstanden, dass Weiterbildung einen Impact auf den Geschäftserfolg hat." Auch Jessica Richter bestätigt, dass die Personalentwicklung bei Infineon einen Booster bekommen habe. "Ich habe gleich am Anfang zu meinem Team gesagt: ‚All hands on deck.‘ Wir müssen sichtbar werden und liefern." Das habe gewirkt und gerade die Führungskräfte, die sonst schwieriger zu erreichen seien für Lernthemen, hätten sich zu Promotoren entwickelt. "Die haben unsere Angebote durch Mund-zu-Mund-Propaganda weitergegeben."
Dass die Personalentwicklung ihre Erfolge sichtbar machen muss, betont auch Rusch von Cornerstone. Er schränkt aber ein: "In einigen Unternehmen klappt das. In vielen Unternehmen ist die Personalentwicklung aber immer noch eine Supportfunktion, die nebenherläuft. Sie ist kein strategischer Partner."
Passende Daten im Lern-Controlling vonnöten
In der Pandemiephase war der Nutzen der Personalentwicklung für alle spür- und erkennbar. Sie hat ermöglicht, dass die Arbeitsorganisation auf hybrid umgestellt wird und die Beschäftigten damit klarkommen. Bald wird sich die Situation erneut ändern, der Nutzen muss wieder in Zahlen dargestellt werden: "Die Personalentwicklung muss ihren Impact auf das Unternehmen konkret darstellen können", so Grunwald. "Dafür ist es sehr wichtig zu definieren, welche KPIs man überhaupt erreichen will." Doch bisher erfassen viele Unternehmen nur die klassischen Daten, wie Lernzeiten, Teilnehmerzahlen, Mitarbeitergruppen und Ähnliches. So auch bei Chiesi: "Bisher haben wir eine Excel-Liste erstellt, die unser Mutterkonzern anfordert. Aber diese alte Welt von KPIs hat wenig Aussagekraft, um unseren Beitrag für den Erfolg der Firma darzustellen." Erfolgsfaktoren für die Personalentwicklung seien eben nicht allein Trainingszeiten, sondern die Zufriedenheit der Mitarbeitenden, Krankheitstage, Stabilität der Teams, psychologische Sicherheit, das mache den Erfolg am Ende aus.
Auch bei der Erhebung der Lernzeiten brauchen die Unternehmen Veränderungen: "Wir müssen neu definieren, was wir unter Lernen verstehen", erläutert Jessica Richter. Bislang werden in den meisten Unternehmen die Lernzeiten von offiziellen Trainingsangeboten genau erfasst – nicht aber Lernangebote wie Mentoring, Coaching oder informelle Lernangebote, die genauso zum Lernen dazuzählen müssten. "Bei uns sind die Lernzeiten bei den offiziellen, vorrangig Präsenztrainings gesunken. Da wurde ich gefragt, ob wir nicht genug tun und in die Weiterbildung unserer Mitarbeitenden investieren. Aber die Antwort zeigt das Problem auf: Unsere Lernzeit war noch nie so hoch, wenn wir Lernen richtig definieren und informelles Lernen mitberechnen." Sie verweist auf ein Unternehmen als Vorbild, das die Mitarbeitenden selbst dokumentieren lasse, was sie gelernt haben – dazu zähle auch das Lesen von Fachartikeln genauso wie die Teilnahme am Mentoring.
"Alle Lernszenarien können im Dashboard einer Lernplattform erfasst werden", sagt Grunwald, der auf die 70-20-10-Regel verweist. Danach findet Lernen nur zu zehn Prozent in klassischen Trainings oder Seminaren statt. Zu 20 Prozent besteht Weiterbildung aus dem Lernen voneinander. Der größte Anteil am Lernen – 70 Prozent – geschieht über die Bewältigung von schwierigen Aufgaben im Beruf. "Dafür braucht es ein passendes Learning Eco System, das hierzu Lerneinheiten bereitstellt."
Eine Lernplattform müsse heute aber auch persönliche Interaktionen, etwa Feedbacks oder Weiterempfehlungen, abbilden können. "Der Einsatz von KI kann helfen, Angebotsempfehlungen fürs Weiterlernen zu machen", erläutert Rusch und ergänzt: "Die KI kann eine Empfehlung geben, entscheiden muss der Lernende oder die Führungskraft."
Mangel an technologische Ausstattung in der Personalentwicklung
Neben dem Datenschutz und der Mitbestimmung ist die technologische Ausstattung für die Personalentwicklung ein limitierender Faktor. "Ich suche schon lange nach einer Lösung aus einer Hand, um nicht nur mit fragmentierten Systemen arbeiten zu müssen. Bisher habe ich noch kein passendes Angebot gefunden", erklärt Jessica Richter von Infineon dazu. Heike Baader-Kröger ist ebenfalls ein wenig unzufrieden mit der bestehenden Lernlösung, die der Mutterkonzern eingeführt hat. Damit spricht sie ein häufiges Problem an. "Die Personalentwicklung entscheidet selten über die Einführung von großen Softwaresystemen", erklärt Markus Grunwald. "Sie muss dann damit zurechtkommen, was die Software für die Lernwelt bietet." Der Wunsch der meisten Personalentwickler sei es, eine zentrale Anlaufstelle für die Mitarbeitenden zum Lernen zu schaffen – etwa ein vorgeschaltetes Portal, über das man die passenden Formate individuell anbieten könne.
Rusch spricht von einer "romantischen Vorstellung", eine Lösung für alles zu finden. Das gebe es schlichtweg nicht. Doch den Unternehmen sei die Bedeutung von Employee Experience inzwischen deutlicher geworden. Hier stehe auch die Frage im Fokus, über welche Kanäle man die Mitarbeitenden sinnvoll erreichen könne. Das könnten E-Mails, Push-Nachrichten auf dem Handy oder Mitteilungen auf dem Desktop sein – "oder ein Bot sagt mir in MS Teams: Hör mal, ich sehe, du beschäftigst dich gerade mit dem Thema X, das Training Y wäre vielleicht etwas für dich."
Der Zugriff auf kuratierte, öffentlich zugängliche Inhalte sei ebenso gerade ein wichtiges Thema. Am Ende müsse man immer fragen, was die Mitarbeitenden und Führungskräfte wollen – "nicht, was das Unternehmen will", fügt Rusch an.
"Nun folgt die nächste Herausforderung: die Personalisierung. Digitales Lernen soll alle im Unternehmen erreichen mit dem individuell passenden Angebot." Thorsten Rusch
Die Zukunft des digitalen Lernens
Was bringt also die Zukunft für das digitale Lernen? "Bei den meisten ist das digitale Lernen abgehakt. Es ist gut aufgestellt", meint Rusch. "Nun folgt die nächste Herausforderung: die Personalisierung. Digitales Lernen soll alle im Unternehmen erreichen mit dem individuell passenden Angebot." Dazu könnten künftig auch ein paar spannende Formate hinzukommen – zum Beispiel Leadership-Trainings mithilfe von VR-Brillen, die das komplette Eintauchen in die Trainingswelt und das Abschalten von der Umwelt ermöglichen.
Heike Baader-Kröger sieht zwei große Herausforderungen für das digitale Lernen der Zukunft: "Wir müssen es schaffen, hybride Formate zu entwickeln. Das ist wirklich die Champions League." Zudem müsse das selbstgesteuerte Lernen in Bezug auf das Teilen von Erlerntem gestärkt werden. "Wir haben jahrelang gepredigt, wie wichtig 70-20-10 und das selbstverantwortliche Lernen ist. Jetzt haben es die Leute endlich verstanden." Für die Personalentwicklung bedeute das, weit über Trainingskataloge hinauszudenken. "Es geht um das Mindset der Mitarbeitenden und Führungskräfte", betont sie. "Das Thema ‚Konnektivität‘ wird wichtiger – nicht nur im Sinne von Vernetzen und sozial Austauschen", stimmt Grunwald zu. "Es geht darum, Formate zu finden, wo man team- und bereichsübergreifend konnektiert ist. Wir brauchen Zeit auf der Agenda zum Austausch, für Humor und den Aufbau der Bindung untereinander – die haben viele Mitarbeitenden im Homeoffice verloren."
"Wir müssen es schaffen, hybride Formate zu entwickeln. Das ist wirklich die Champions League." Heike Baader-Kröger
Jetzt sei allerdings auch die Zeit, um kritisch zu hinterfragen, was während der Pandemie auf der Strecke geblieben sei, betont Jessica Richter: "Wir waren superproduktiv, aber waren wir auch superinnovativ in den vergangenen Jahren?" Um echte Innovation hervorzubringen, brauche es auch den persönlichen Austausch vor Ort. "Ich denke, wir werden in ein bis zwei Jahren sehen, dass uns hier doch etwas gefehlt hat. Das müssen wir nun im Auge behalten und beim Trainingsprogramm berücksichtigen."
Dieser Artikel ist zunächst in der Zeitschrift wirtschaft + weiterbildung 03/2022 erschienen.
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