a) Wegzugsbesteuerung und Verfassungsrecht

 

Rz. 143

[Autor/Stand] Wegzugsbesteuerung und Verfassungsrecht. Die Wegzugsbesteuerung nach § 6 wirft verschiedene verfassungsrechtliche Fragen auf,[2] deren abschließende Beantwortung durch das Bundesverfassungsgericht noch aussteht. Der BFH hat die verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der früheren Fassungen des § 6 in einigen Sonderfragen für sich wie folgt beantwortet: In seinem Beschluss vom 17.12.1997[3] hat der BFH die ungleiche Wegzugsbesteuerung von Anteilen an inländischen und ausländischen Gesellschaften in § 6 a.F.[4] sowie die unterschiedliche Berücksichtigung im Ausland entstandener stiller Reserven bei Wegzug und Zuzug als gleichheitsrechtlich unbedenklich angesehen. In seinem Beschluss vom 23.9.2008[5] und seiner Entscheidung vom 25.9.2009[6] sah der BFH in der zeitlichen Anwendungsregelung des § 6 Abs. 1 i.V.m. § 6 Abs. 5, § 21 Abs. 13 Satz 2 a.F. keine verfassungswidrige Rückwirkung.[7] Weiter konnte der BFH in seiner Entscheidung vom 26.4.2017[8], wonach Wertminderungen im Rahmen des § 6 nicht zu berücksichtigen seien, in der hieraus resultierenden unterschiedlichen Behandlung von wertgeminderten und werterhöhten Anteilen keine verfassungsrechtlich unzulässige Ungleichbehandlung erkennen (dazu ausf. Rz. 540 ff.). In seiner Entscheidung vom 8.12.2021[9] hat der BFH keine verfassungsrechtliche Veranlassung gesehen, § 6 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 bis 3 a.F. auf Sachverhalte zu reduzieren, in denen es zu einer Beschränkung oder einem Ausschluss des deutschen Besteuerungsrechts kommt. Im Revisionsverfahren I R 32/21[10] wird sich der BFH möglicherweise auch mit verfassungsrechtlichen Fragen zur sog. passiven Entstrickung sowie der verfassungsrechtlich unzulässigen echten Rückwirkung der durch das Zollkodex-Anpassungsgesetzes vom 22.12.2014[11] eingeführten Stundungsregel (§ 6 Abs. 5 Satz 3 Nr. 4 i.V.m. § 21 Abs. 23[12]) auseinandersetzen. Die verfassungsrechtlichen Fragen rund um § 6 finden – bspw. im Gegensatz zu europarechtlich geführten Diskussionen (s. Rz. 161 ff.) – in der Praxis verhältnismäßig wenig Beachtung. Es ist an der Zeit, diese Diskussion zu intensivieren, da § 6 verschiedene verfassungsrechtliche Berührungspunkte hat. Zwar werden Art. 11 GG[13] und Art. 12 GG[14] eher nicht erfolgreich gegen eine Wegzugsbesteuerung aktiviert werden können.[15] Auch eine Übermaßbesteuerung i.S.v. Art. 14 GG ist regelmäßig nicht zu beobachten. Insoweit ist aber in Fällen der (vorweggenommenen) Erbfolge die Doppelbelastung von Einkommen- und Erbschaftsteuer verfassungsrechtlich diskutabel (s. Rz. 149). Fraglich ist aber bereits, wie sich § 6 gegenüber der durch Art. 2 GG geschützten Ausreisefreiheit[16] verhält (s. Rz. 148). Jenseits dieser Freiheitsgrundrechte ist § 6 AStG unabhängig von der Kontroverse um eine etwaig eingeschränkte Wirkkraft der Grundrechte bei grenzüberschreitenden Sachverhalten[17] an Art. 3 GG allgemein und speziell dem Gebot der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit[18] zu messen (s. Rz. 153 ff.).[19]

 

Rz. 144– 147

[Autor/Stand] frei

b) Wegzugsbesteuerung und Freiheitsgrundrechte

 

Rz. 148

[Autor/Stand] § 6 und Ausreisefreiheit (Art. 2 GG). Über Art. 2 GG wird die Ausreisefreiheit als Ausprägung der allgemeinen Handlungsfreiheit[22] verfassungsrechtlich auch gegenüber steuerrechtlichen Hemmnissen geschützt.[23] Art. 2 GG ist Jedermann-Grundrecht, also nicht auf deutsche Staatsangehörige beschränkt. Die Ausreisefreiheit kann grds. auch durch steuerliche Hemmnisse beeinträchtigt werden.[24] Ein Eingriff liegt vor, soweit das Recht der allgemeinen Handlungsfreiheit durch eine staatliche Maßnahme erschwert oder unmöglich gemacht wird. Die Wegzugsbesteuerung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 führt ebenso wie § 2 AStG[25] zu einem Eingriff in die Ausreisefreiheit (Art. 2 GG).[26] Zwar kommt es durch § 2 AStG – anders als durch § 6 (Fiskalzwecknorm, s. Rz. 31) – aufgrund dessen (nach Ansicht des BVerfG[27]) verhaltenslenkenden Charakters zu einem klassischen, finalen Eingriff in den Schutzbereich. Ein grundrechtsrelevanter Eingriff in den Schutzbereich der Ausreisefreiheit ergibt sich aber auch durch § 6 unter dem Gesichtspunkt des sog. erweiterten Eingriffsbegriffs.[28] Der Gesetzgeber nimmt mit § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1[29] vorhersehbar in Kauf, dass der Wegzugswillige angesichts der drohenden Besteuerung ohne Liquiditätszufluss vom Wegzug Abstand nehmen könnte. Das Grundrecht auf Ausreisefreiheit kann aber über den Gesetzesvorbehalt in Art. 2 Abs. 1 GG durch § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 verfassungsrechtlich zulässig eingeschränkt werden, wenn die Besteuerung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet und erforderlich ist und der mit ihr verbundene Eingriff seiner Intensität nach nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und den vom Bürger hinzunehmenden Einbußen stehen (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit).[30] § 6 verfolgt einen legitimen Zweck, wenn er stille Reserven in Kapitalgesellschaftsanteilen ber...

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