Rz. 161

[Autor/Stand] Grundfreiheiten und deren Beschränkung in EU-/EWR-Fällen. Der EuGH hat zur Wegzugsbesteuerung im Zusammenhang mit dem Wegzug natürlicher Personen im EU-/EWR-Raum in seinen Entscheidungen in den Rechtssachen de Lasteyrie du Saillant[2] und N[3] die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 Abs. 1 AEUV) und in seiner Entscheidung in der Rechtssache Kommission/Portugal[4] die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 Abs. 1 AEUV) als mögliche einschlägige Grundfreiheiten benannt.[5] Daneben ist auch an die Freizügigkeitsrechte nach Art. 18 Abs. 1 AEUV und 21 Abs. 1 AEUV[6] zu denken.[7] Für die Fälle des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 (Erbfälle, Schenkungen) ist die Niederlassungsfreiheit ebenfalls primärrechtlicher Prüfungsmaßstab[8] und wird nicht durch die ebenfalls grds. einschlägige Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 Abs. 1 AEUV) vorrangig verdrängt.[9] Die Wegzugsbesteuerung führt zu einer Beschränkung der Grundfreiheiten, da die vorzeitige steuerrechtliche Abrechnung der stillen Reserven aufgrund des Verlustes des Besteuerungsrechts im Inlandsfall nicht zu beobachten ist.[10] Der EuGH stellt dabei zunehmend (auch) auf den mit der Wegzugsbesteuerung einhergehenden "Liquiditätsnachteil" ab.[11] In EWR-Fällen bieten die Freiheiten des EWR-Abkommens gemäß Art. 28 und Art. 31 des EWR-Abkommens das gleiche Schutzniveau wie die des EU-Vertrages.[12] Die Abgrenzung der Grundfreiheiten zueinander spielt in EU-/EWR-Fällen nur eine untergeordnete Rolle, ihre Bedeutung entfaltet sich erst bei der Beurteilung von Drittstaaten-Konstellationen.[13] Dort kommt es darauf an, ob die Kapitalverkehrsfreiheit oder besondere Abkommen dem Steuerpflichtigen ein vergleichbares Schutzniveau vermitteln (s. Rz. 180 ff.). Kaum beleuchtet im Zusammenhang mit der Wegzugsbesteuerung ist bisher die Erstreckung der Grundfreiheiten auf nahestehende Personen des Trägers einer Grundfreiheit.[14] Aus der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Carpenter[15] lässt sich ableiten, dass über Art. 8 EMRK (Schutz des Familienlebens) die Grundfreiheiten auch Schutz entfalten können, wenn zwar nicht der wegziehende EU-Bürger (mangels Beteiligung) einer Wegzugsbesteuerung unterliegen würde, wohl aber bspw. seine mit wegziehende Ehefrau (Drittstaatenangehörige).[16]

 

Rz. 162

[Autor/Stand] Mitgliedstaat der EU bzw. Vertragsstaat des EWR-Abkommens zum 1.1.2024. Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind zum 1.1.2024 Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechische Republik, Ungarn und Zypern. Hiervon sind zuletzt Bulgarien und Rumänien (jeweils ab 1.1.2007) und Kroatien (1.7.2013) beigetreten. Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland ist mit Ablauf des 31.1.2020 aus der EU ausgetreten, wurde aber bis zum Ablauf des im Austrittsabkommen geregelten Datums (31.12.2020) (s. ausf. Rz. 9) weiterhin wie ein Mitgliedstaat der EU behandelt. Gleiches gilt ertragsteuerrechtlich gemäß § 1 BrexitÜG. Vertragsstaaten des EWR-Abkommens i.S.v. Abs. 5 sind neben den Mitgliedstaaten der EU die Staaten Norwegen, Island und Liechtenstein.[18] Das EWR-Abkommen übernimmt in der Art eines "vereinfachten EU-Vertrags" materielle Regeln über Grundfreiheiten und Wettbewerbsrecht und zahlreiche EU-Sekundärrechtsakte.[19]

 

Rz. 163

[Autor/Stand] Frühe europarechtliche Bedenken gegen § 6 in seiner Ursprungsfassung. Bereits bei Einführung des AStG wurde aus Kreisen der EWG-Beamtenschaft vernommen, § 6 sei die "bedenklichste" Vorschrift des ganzen Entwurfs, da die Niederlassungsfreiheit und die Freizügigkeit der betroffenen Personen "in unerträglichem Maße" beeinträchtigt würden.[21] § 6 a.F. sah bei Entstehen einer Wegzugsbesteuerung nur deren Stundung über fünf Jahre in Teilbeträgen vor, wie sie in § 6 a.F. in Drittstaatenfällen weiterhin zum Tragen kam (§ 6 Abs. 4 a.F.) und nun mit dem einheitlichen Ratenzahlungskonzept in § 6 Abs. 4 eine gewisse Wiederbelegung erfährt. Im Anschluss entwickelte sich eine gewisse Einigkeit darüber, dass die Wegzugsbesteuerung die allgemeine Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV, die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 ff. AEUV bzw. die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 ff. AEUV beschränke, ohne dafür eine tragfähige Rechtfertigung vorbringen zu können.[22] Der I. Senat des BFH hatte sich dieser Ansicht noch im Jahre 1997 verschlossen,[23] was ihm erhebliche Kritik einbrachte.[24] Die (herrschende) vermittelnde Auffassung verlangte vom Gesetzgeber, den Besteuerungsanspruch, der aus Anlass des Wegzuges entstand, bis zur tatsächlichen Veräußerung der Beteiligung im Ausland zu stunden und sich mit vorläufigen Sicherungsmaßnahmen (Gewinnfeststellung, Sicherheitsleistung) zu begnügen.[25] Die Europäische Kommission leitete im April 2003 ein Vertragsverletzungsverfahren (Nr. 1999/4371) gegen die Bundesregierung ein,[26] da sie § 6 a.F. für europarec...

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