Rz. 56

In Fällen, in denen die Besteuerungsgrundlagen nicht geschätzt wurden, weil der Kläger seiner Erklärungspflicht nicht nachgekommen ist (s. Rz. 61f.), kann das Gericht, wenn seit Eingang der Behördenakten bei Gericht noch keine sechs Monate vergangen sind (s. Rz. 63), den angefochtenen Verwaltungsakt aufheben, ohne in der Sache selbst zu entscheiden (s. Rz. 57f.). Voraussetzung dafür ist, dass nach Auffassung des Gerichts eine weitere, erhebliche Ermittlungen erfordernde Sachaufklärung notwendig (s. Rz. 64f.) und eine solche Entscheidung unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist (s. Rz. 67). Das Gericht kann darüber hinaus auf Antrag bis zum Erlass eines neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen (s. Rz. 68). Es handelt sich um eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln[1] und die Sache, den Antrag des Klägers ausschöpfend, endgültig zu entscheiden hat[2], der der Entlastung der Gerichte und der Prozessökonomie dienen soll[3]. Mit § 100 Abs. 3 FGO kommt zum Ausdruck, dass die Gerichte die Verwaltungsakte der Behörde überprüfen und nicht die "Arbeit" der Verwaltung mehr oder weniger übernehmen sollen[4]. Der Tenor könnte z. B. lauten: Urteil: "Der Einkommensteuerbescheid … vom … und die Einspruchsentscheidung vom … werden aufgehoben, ohne dass eine Entscheidung in der Sache ergeht." Beschluss: "Bis zum Erlass eines neuen Einkommensteuerbescheids … hat der Kläger Sicherheit i. H. v. … EUR zu leisten." § 100 Abs. 3 FGO hat allerdings wegen der vielen Einschränkungen in der Praxis keine große Bedeutung.

[3] BFH v. 17.1.1996, XI R 62/95, BFH/NV 1996, 527; Lange, in HHSp, AO/FGO, § 100 FGO Rz. 105 m. w. N.; Brandis, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 100 FGO Rz. 18.
[4] Brandis, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 100 FGO Rz. 38; Schmidt-Troje, in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 100 FGO Rz. 80.

2.5.1 Wirkung der Entscheidung

 

Rz. 57

Das Gericht hebt den angefochtenen Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf auf, ohne in der Sache – über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts – zu entscheiden. Damit ist die den Kläger beschwerende Regelung zunächst beseitigt (echte Kassation; s. Rz. 39). Über das zugrunde liegende Rechtsverhältnis ist jedoch nichts Endgültiges gesagt. Die Angelegenheit befindet sich wieder im Verwaltungsverfahren. Es ist nun Sache der Behörde, unter Beachtung von § 88 AO eine neue Regelung zu treffen. Eine Bindungswirkung gem. § 100 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 FGO tritt nur eingeschränkt ein. Das Gericht überträgt nicht etwa die weitere Sachaufklärung auf die Behörde. Ob und ggf. wie die Behörde ein neues Verwaltungsverfahren betreibt, liegt allein bei ihr. Auch hat das Gericht keine materielle Rechtmäßigkeitsprüfung des angefochtenen Verwaltungsakts durchgeführt. Lediglich hinsichtlich der Entscheidungserheblichkeit des vorliegenden Sachverhalts hat eine summarische Prüfung stattgefunden[1]. Das hat zur Folge, dass einerseits die Behörde auch nur insoweit gem. § 100 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 FGO gebunden werden kann, andererseits auch das Gericht in einem nachfolgenden Prozess wegen des neuen Verwaltungsakts ohne Weiteres bei nunmehr erforderlicher umfassender (nicht mehr nur summarischer) Prüfung zu einem anderen Rechtsstandpunkt gelangen kann (s. Rz. 65). Auf Antrag kann das Gericht nach überschlägiger Prüfung die Kassation mit einer einstweiligen Regelung bezüglich des aufgehobenen Verwaltungsakts verbinden (s. Rz. 68).

 

Rz. 58

Das gerichtliche Verfahren wird mit einem Urteil nach § 100 Abs. 3 FGO endgültig abgeschlossen. Es ist daher auch eine abschließende Kostenentscheidung zu treffen, wobei nach dem Rechtsgedanken von § 137 FGO berücksichtigt werden kann, wer die mangelnde Sachaufklärung verschuldet hat[2]. Das Gerichtsverfahren kann nicht bis zum Erlass des neuen Verwaltungsakts offengehalten werden, sodass dieser zum Gegenstand des Verfahrens werden könnte.

[1] V. Groll, in Gräber, FGO, 7. Aufl. 2010, § 100 FGO Rz. 50.
[2] V. Groll, in Gräber, FGO, 7. Aufl. 2010, § 100 FGO Rz. 51.

2.5.2 Ermessen

 

Rz. 59

Ob das Gericht eine Kassation ohne Sachentscheidung nach § 100 Abs. 3 FGO ausspricht, steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Es hat sich dabei neben prozessökonomischen Erwägungen insbesondere auch daran zu orientieren, wie erheblich die Aufklärungsmängel und wie aufwendig deren Beseitigung sind und ob ein derartiges Urteil im Interesse der Beteiligten sachdienlich ist[1]. Auch ob es auf einen entsprechenden Antrag hin eine einstweilige Regelung trifft, steht in seinem Ermessen. Die Voraussetzungen für die Ermessensentscheidung des FG unterliegen der vollen revisionsgerichtlichen Überprüfung[2].

[1] V. Groll, in Gräber, FGO, 7. Aufl. 2010, § 100 FGO Rz. 49.

2.5.3 Voraussetzungen

 

Rz. 60

Ein Urteil nach § 100 Abs. 3 FGO ist nur möglich bei einer zulässigen Anfechtungsklage[1]. Es müssen spätestens im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung alle Zulässigkeitsvoraussetzun...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Steuer Office Excellence. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge