Zweck der Verfahren: Das Steuerkorrekturverfahren und das Reemtsma-Verfahren stehen nebeneinander und dienen dem Zweck, die Belastung, die sich aus einer irrtümlichen (nicht betrügerischen[57]) Fehlbehandlung für die Steuerpflichtigen ergibt, zu neutralisieren.[58] Dies entspricht dem Grundgedanken der Mehrwertsteuer, die grundsätzlich im unternehmerischen Bereich neutral sein soll. Es entspricht daher auch dem System der Mehrwertsteuer, dass die Belastung des Leistenden mit der mehrwertsteuerlichen Entlastung der des Leistungsempfängers korrespondiert. Die Steuerbelastung der einen Partei und die Entlastung der anderen Partei sollen im Idealfall funktionieren wie "kommunizierende Röhren".[59]

Abstimmung durch nationales (Verfahrens-)Recht: Der EuGH hat bisher nirgends angemerkt, dass sich die Ansprüche, die sich aus den beiden Verfahren ergeben, gegenseitig einschränken. Es ist vielmehr die Umsetzung durch nationales (Verfahrens-)Recht, die ggf. dafür zu sorgen hat, dass die Regelungen implementiert werden, die systematisch erforderlich sind, um Ergebnisse zu vermeiden, die den Besteuerungsgrundsätzen widersprechen, also z.B. zur Vermeidung von "Doppelerstattungen" (oder "Doppelbelastungen"). Hierbei muss sich auch das Verfahrensrecht an diesen Grundsätzen messen lassen.[60] Die Ansprüche als solche bleiben hiervon allerdings unberührt.[61]

Mangelnde Abstimmung im deutschen Recht: Im deutschen Recht ist aber zum einen das Steuerkorrekturverfahren, das der EuGH aus den mehrwertsteuerlichen Grundsätzen i.V.m. Art. 203 MwStSystRL herleitet, unvollständig bzw. fehlerhaft umgesetzt,[62] zum anderen das Reemtsma-Verfahren gar nicht umgesetzt worden.[63] Darauf, dass dies, sofern es relevant sein sollte, nicht zu Lasten des Steuerpflichtigen gehen kann, wird unter V. eingegangen.

[57] Zum Missbrauch s. u.a. Deimel, EFG 2015, 534.
[58] S. auch Prätzler, jurisPR-SteuerR 6/2020 Anm. 5.
[59] Insofern ist es auch kurios, dass der BFH bei der Beurteilung von Liquiditätsvor- oder -nachteilen für die Beurteilung der Verzinsung gem. §§ 233 ff. AO allein auf das einzelne Steuerschuldverhältnis des Leistenden zum Fiskus bzw. des Leistungsempfängers zum Fiskus schaut; nicht aber darauf, ob insgesamt für den Fiskus oder für die beteiligten Steuerpflichtigen ein Vor- oder Nachteil entstanden ist. Vgl. z.B. BFH v. 11.5.2020 – V B 76/18 (NV) Rz. 4. Vgl. hierzu auch von Streit/Streit, MwStR 2021, 595 (601). Zur Verzinsung s. auch unten VI.
[60] S. oben I.3.b. Zur Auslegung durch die nationalen Gerichte vgl. z.B. 26.1.2012 – C-218/10, ADV Allround Vermittlungs AG, UR 2012, 175 Rz. 33 ff.; EuGH v. 12.5.2021 – C-844/19, technoRent International GmbH, UR 2021, 915 Rz. 47 ff.
[61] Das ist vergleichbar mit den Bedingungen für die Steuerbefreiungen gem. Art. 131 MwStSystRL: Die Mitgliedstaaten bestimmen die Bedingungen für deren Anwendung mit dem Ziel, die korrekte und einfache Anwendung zu gewährleisten und Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch zu verhindern. Auf den Umfang der Steuerbefreiungen hat das aber keine Auswirkungen.
[62] S. oben IV.2.a) aa).
[63] S. oben I.3.

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