Leistungen eines Istversteuerers an einen anderen Istversteuerer

Der EuGH hat die jahrelange deutsche Praxis verworfen, dass der Vorsteuerabzug auch dann bereits im Zeitpunkt des Bezugs der Leistung möglich ist, auch wenn der Leistende als Istversteuerer sein Entgelt noch nicht erhalten hat und damit seine Ausgangssteuer noch nicht entstanden ist.

Bei dem Vorabentscheidungsersuchen des FG Hamburg (Beschluss vom 10.12.2019 - 1 K 337/17) ging es um den Zeitpunkt des Vorsteuerabzugs bei Leistungen durch einen Istversteuerer. Das FG hatte dem EuGH folgende Fragen gestellt:

  • Steht Art. 167 MwStSystRL einer nationalen Regelung entgegen, nach der das Recht zum Vorsteuerabzug auch dann bereits im Zeitpunkt der Ausführung des Umsatzes entsteht, wenn der Steueranspruch gegen den Leistenden nach nationalem Recht erst bei Vereinnahmung des Entgelts entsteht?
  • Für den Fall, dass die Frage verneint wird: Steht Art. 167 MwStSystRL einer nationalen Regelung entgegen, wonach das Recht zum Vorsteuerabzug nicht für den Besteuerungszeitraum geltend gemacht werden kann, in dem das Entgelt bezahlt worden ist, wenn der Steueranspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer erst bei Vereinnahmung des Entgelts entsteht, die Leistung bereits in einem früheren Besteuerungszeitraum erbracht worden ist und eine Geltendmachung des Vorsteueranspruchs für diesen früheren Steuerzeitraum nach nationalem Recht wegen Verjährung nicht mehr möglich ist?

Entstehung des Vorsteuerabzugsanspruchs

Die Beteiligten streiten darum, ob der Vorsteuerabzugsanspruch des Leistungsempfängers nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG bereits mit der Ausführung der Leistung oder erst mit der Entrichtung des Entgelts entsteht, wenn der Leistungserbringer die Umsatzsteuer nach vereinnahmten Entgelten berechnet (sog. Istversteuerer).

Verzicht auf Steuerbefreiung für Vermietungsumsätze

Die Klägerin erzielte in den Streitjahren Umsätze mit der Vermietung eines Gewerbegrundstücks, das sie ihrerseits gemietet hatte. Sowohl die Klägerin als auch ihre Vermieterin hatten wirksam auf die Steuerbefreiung für derartige Vermietungsumsätze verzichtet und somit zur USt optiert. Beiden war von der Finanzverwaltung gem. § 20 UStG gestattet worden, die Steuer nicht nach vereinbarten Entgelten, sondern nach den vereinnahmten Entgelten zu berechnen.

Stundung der Mietzahlungen

Ab dem Jahr 2004 wurden die Mietzahlungen der Klägerin teilweise gestundet. Dies hatte zur Folge, dass die Klägerin in den Streitjahren 2013 - 2016 Zahlungen für die Grundstücksüberlassung in den Jahren 2009 - 2012 leistete. In den Zahlungen waren jeweils 19 % USt enthalten. Die Klägerin machte ihren Vorsteuerabzugsanspruch - unabhängig von dem Mietzeitraum, für den die Zahlungen bestimmt waren - immer in dem Voranmeldezeitraum bzw. Kalenderjahr geltend, in dem die Zahlung erfolgte.

Finanzamt: Ausführung des Umsatzes

Das beklagte Finanzamt beanstandete dieses Vorgehen und erließ im Anschluss an eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung geänderte Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 2013 - 2016. Nach Auffassung des Finanzamts war der Vorsteuerabzug bereits mit der Ausführung des Umsatzes - hier der monatsweisen Überlassung des Grundstücks - entstanden und hätte daher jeweils für den entsprechenden Zeitraum geltend gemacht werden müssen.

FG Hamburg: Zweifel im Hinblick auf Art. 167 der MwStSystRL

Nach erfolglosem Einspruch gegen die geänderten Umsatzsteuerfestsetzungen hatte die Klägerin Klage beim FG Hamburg erhoben. Sie machte geltend, dass die angegriffenen Bescheide gegen die MwStSystRL verstießen und die Auffassung des Finanzamts, wonach das Vorsteuerabzugsrecht immer schon mit der Ausführung des Umsatzes entstehe, nicht zutreffend sei. Wenn der Leistende seine Steuer nach vereinnahmten Entgelten berechne, entstehe der Vorsteueranspruch des Leistungsempfängers vielmehr erst dann, wenn der Leistungsempfänger das Entgelt entrichtet habe.

Im Hinblick auf das nationale Recht folgte das FG Hamburg der Rechtsauffassung des Finanzamts. Das FG hatte jedoch Zweifel, ob die nationale Rechtslage vereinbar mit Art. 167 der MwStSystRL ist. Nach dem Wortlaut dieser Norm entsteht das Recht auf Vorsteuerabzug, "wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht".

In seiner Vorlage beschäftigte das FG sich mit der Frage, welchen Spielraum die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Art. 167 MwStSystRL haben und ob hinsichtlich der Bedeutung des Vorsteuerabzugs im gemeinsamen Mehrwertsteuersystem in Fällen der Festsetzungsverjährung der Vorsteuerabzug verwehrt werden kann.

Nationales Recht

Nach nationalem Recht erwies sich die Auffassung des Finanzamts als zutreffend. Gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG entsteht das Recht zum Vorsteuerabzug, wenn die Lieferung oder sonstige Leistung ausgeführt worden ist. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, wann der Steueranspruch gegen den Leistungserbringer entsteht. Insbesondere kommt es nicht darauf an, ob der Leistungserbringer die Umsatzsteuer gem. § 16 Abs. 1 Satz 1 UStG nach vereinbarten Entgelten berechnet (Sollversteuerer) oder ob er sie gem. § 20 UStG nach vereinnahmten Entgelten berechnet (Istversteuerer).

Zwar entsteht der Steueranspruch gegen den Leistungserbringer in den Fällen des § 20 UStG (Istversteuerer) gem. § 13 Abs. 1 Buchst. b UStG erst, wenn der Leistungserbringer das Entgelt vereinnahmt. Die Vorschrift des § 20 UStG hat aber keine Auswirkungen auf den Zeitpunkt des Vorsteuerabzugs des Leistungsempfängers.

Nichts anderes ergibt sich daraus, dass sich das Recht zum Vorsteuerabzug aus § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG nur auf die "gesetzlich geschuldete Steuer" bezieht. Hieraus folgt nicht, dass der Vorsteueranspruch voraussetzt, dass der Steueranspruch gegen den Leistungserbringer bereits entstanden sein muss. Durch dieses Merkmal wird im Wesentlichen klargestellt, dass ein nach dem UStG steuerbarer und steuerpflichtiger Umsatz vorliegen muss und eine unzutreffend ausgewiesene Steuer nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt. Für den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers ist es auch unerheblich, ob er selbst nach vereinbarten oder nach vereinnahmten Entgelten besteuert wird.

Abweichende Bewertung aus Art. 167a MwStSystRL?

Von der in Art. 167a MwStSystRL vorgesehenen Möglichkeit, den Vorsteuerabzug bei Istversteuerern von der Entrichtung des Entgelts abhängig zu machen, hat der deutsche Gesetzgeber keinen Gebrauch gemacht. Nach nationalem Recht entsteht der Vorsteueranspruch des Leistungsempfängers somit auch dann schon mit der Ausführung des Umsatzes, wenn der Leistungserbringer ein Istversteuerer ist und das Entgelt noch nicht erhalten hat. Der Leistungsempfänger erwirbt dann einen Vorsteueranspruch, obwohl der Leistungserbringer die entsprechende USt noch nicht schuldet.

Das FG war der Auffassung, aus Art. 167 MwStSystRL könne sich eine abweichende Bewertung ergeben. Nach dieser Vorschrift entsteht der Vorsteueranspruch des Leistungsempfängers erst, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht. Nach Art. 66 Buchst. b MwStSystRL können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass der Steueranspruch gegen bestimmte Steuerpflichtige erst mit der Vereinnahmung des Entgelts entsteht. Von dieser Möglichkeit hat der nationale Gesetzgeber in § 13 Abs. 1 Buchst. b UStG Gebrauch gemacht. Auch in diesen Fällen entsteht der Vorsteueranspruch nach nationalem Recht aber bereits dann, wenn die Lieferung oder sonstige Leistung ausgeführt worden ist.

Bei strikter Anwendung, so das FG, könne Art. 167 MwStSystRL somit in Widerspruch zum nationalen Recht stehen, da das in Art. 167 MwStSysRL geregelte Junktim zwischen Steueranspruch und Vorsteueranspruch aufgehoben werde.

Bisherige EuGH-Rechtsprechung

Der EuGH hatte sich zu dieser Problematik bisher noch nicht geäußert. Im EuGH Urteil vom 16.05.2013 - C-169/12 (TNT Express Worldwide (Poland)) hatte er lediglich entschieden, dass die Mitgliedstaaten keinen anderen Zeitpunkt der Steuerentstehung festlegen können, als er sich aus Art. 66 Buchst. a - c MwStSystRL ergibt, wenn von den Möglichkeiten nach Art. 66 MwStSystRL Gebrauch gemacht wird. Nach Art. 66 MwStSystRL können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass der Steueranspruch zu einem der drei folgenden Zeitpunkte entsteht:

  • spätestens bei der Ausstellung der Rechnung,
  • spätestens bei der Vereinnahmung des Preises oder,
  • im Fall der Nichtausstellung oder verspäteten Ausstellung der Rechnung, binnen einer bestimmten Frist nach dem Eintreten des Steuertatbestands.

Andere als diese drei Steuerentstehungszeitpunkte sind nach dem Urteil nicht möglich. Ein Mitgliedstaat kann daher insbesondere keinen Steuerentstehungszeitpunkt durch Kombination einer oder mehrerer Tatbestände nach Art. 66 MwStSystRL vorsehen. Somit ist es insbesondere nicht zulässig, eine Steuerentstehung nach vereinnahmten Entgelten (Istversteuerung) noch mit weiteren Tatbeständen zu versehen.

Anwendung des Art. 167 MwStSystRL

Das FG war der Auffassung, für eine konsequente Anwendung des Art. 167 MwStSystRL könne neben dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift auch Art. 226 Nr. 7a MwStSystRL sprechen, der mit der RL 2010/45/EU hinsichtlich der Rechnungsstellungsvorschriften eingeführt worden ist. Danach muss eine Rechnung die Angabe "Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten" enthalten, wenn sich die Steuerentstehung nach Art. 66 Buchst. b MwStSystRL richtet und das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht. Durch diese zusätzliche Rechnungsangabe werde der Empfänger darüber informiert, dass der Leistungserbringer nach vereinnahmten Entgelten besteuert wird, und könne hieraus die mit Blick auf den Vorsteuerabzug gebotenen Konsequenzen ziehen.

In der Literatur werde vertreten, dass sich aus Art. 226 Nr. 7a MwStSystRL ergebe, dass der in Art. 167 MwStSystRL geregelte Zusammenhang zwischen Steueranspruch und Vorsteueranspruch nunmehr zwingend sei (Frye in Rau/Dürrwächter, UStG, § 20 Rn. 47.1, Stand Oktober 2016; Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rn. 81, Stand Mai 2019; ders., UStG, 3. Aufl. 2015, § 15 Rn. 14).

RL 2010/45/EU nicht umgesetzt

Die RL 2010/45/EU wäre bis zum 31.12.2012 in das nationale Recht umzusetzen gewesen; gleichwohl hat der deutsche Gesetzgeber Art. 226 Nr. 7a MwStSystRL nicht umgesetzt. Vor dem Hintergrund der inländischen Rechtslage erschien dies nach Auffassung des FG folgerichtig; danach benötigt der Rechnungsempfänger keine Information, ob der Rechnungsteller nach vereinnahmten Entgelten besteuert wird, da der Vorsteuerabzug hierdurch nicht berührt wird.

Die Rechtslage nach nationalem Recht sei, so das FG, indes mit Art. 167 MwStSystRL vereinbar, wenn es sich bei Art. 167 MwStSystRL nicht um eine zwingende Vorgabe, sondern lediglich um eine "Leitidee" handelt. Dass es sich bei Art. 167 MwStSystRL nur um eine Leitidee handelt, könne sich aus der Protokollerklärung des Rates und der Kommission zu Art. 17 Abs. 1 der 6. EG-Richtlinie ergeben. Diese ist die wortgleiche Vorgängervorschrift des Art. 167 MwStSystRL. Nach der Protokollerklärung können die Mitgliedstaaten von dem in Art. 17 Abs. 1 der 6. EG-Richtlinie vorgesehenen Grundsatz abweichen, wenn der Lieferant oder der Erbringer von Dienstleistungen nach seinen Einnahmen besteuert wird.

Protokollerklärung zur Auslegung der MwStSystRL?

Ob diese Protokollerklärung zur Auslegung der MwStSystRL verwendet werden kann, erschien dem FG jedoch fraglich. Zwar können Protokollerklärungen grundsätzlich zur Auslegung von Rechtsakten der EU herangezogen werden.

Nach der Rechtsprechung des EuGH gilt dies jedoch nicht, wenn der Inhalt der Protokollerklärung im Wortlaut der fraglichen Regelung keinen Ausdruck gefunden hat. Demnach komme es, so das FG, darauf an, ob der Inhalt der Protokollerklärung Eingang in die Regelungen der MwStSystRL gefunden hat.

Der Wortlaut des Art. 167 MwStSystRL sieht eine Einschränkung, wie sie der Protokollerklärung zu entnehmen ist, nicht vor. Die Protokollerklärung könne jedoch Ausdruck in der neuen Vorschrift in Art. 226 Nr. 7a MwStSystRL gefunden haben. So hängt die Anwendbarkeit dieser Vorschrift nach ihrem Wortlaut von zwei Voraussetzungen ab.

  • Zum einen muss der Steueranspruch gem. Art. 66 Buchst. b MwStSystRL zum Zeitpunkt des Eingangs der Zahlung entstehen.
  • Zum anderen muss das Recht auf den Vorsteuerabzug entstehen, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.

Mit der zweiten Voraussetzung wird somit der Wortlaut des Art. 167 MwStSystRL wiederholt. Wenn Art. 167 MwStSystRL strikt und ohne Ausnahme anzuwenden wäre, wäre diese zweite Voraussetzung, so das FG, gänzlich überflüssig. Somit ergaben sich für das FG aus dem Zusammenspiel von Art. 167 MwStSystRL und Art. 226 Nr. 7a MwStSystRL systematische Gründe, die dafür sprechen, dass es sich bei Art. 167 MwStSystRL nicht um eine strikte Vorgabe, sondern um eine Leitidee handelt, von der die Mitgliedstaaten abweichen können.

Zweite Frage des FG Hamburg

Die zweite Frage des FG stellte sich nur dann, wenn die Mitgliedstaaten in der oben beschriebenen Weise von der Regelung des Art. 167 MwStSystRL abweichen dürfen. Sie diente der Klärung, ob der Unternehmer das Vorsteuerabzugsrecht in diesen Fällen jedenfalls dann auch in dem Besteuerungszeitraum geltend machen darf, in dem das Vorsteuerabzugsrecht unter strikter Beachtung des Art. 167 MwStSystRL entstanden wäre, wenn eine Geltendmachung in dem nach nationalem Recht zutreffenden früheren Besteuerungszeitraum nicht mehr möglich ist.

Hat der Unternehmer den Vorsteuerabzug unterlassen, ist es nach nationalem Recht nicht möglich, das Vorsteuerabzugsrecht für einen späteren Besteuerungszeitraum geltend zu machen. Ist eine rückwirkende Geltendmachung der Vorsteuer - wie im Ausgangsfall wegen eingetretener Festsetzungsverjährung - nicht mehr möglich, kann das Recht nicht mehr ausgeübt werden. Gem. § 16 Abs. 2 Satz 1 UStG müssen Vorsteuerbeträge in dem Besteuerungszeitraum abgesetzt werden, in den sie fallen. Danach sind die Vorsteuerbeträge in dem Besteuerungszeitraum abzuziehen, in dem die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen. In einem späteren Besteuerungszeitraum kann der Vorsteuerabzug nicht mehr vorgenommen werden.

Unterlässt der Unternehmer den Vorsteuerabzug im zutreffenden Besteuerungszeitraum, kann er den Vorsteuerabzug nur nachholen, wenn die Steuerfestsetzung für diesen Besteuerungszeitraum noch geändert werden kann. Eine Änderung der Festsetzung ist aber jedenfalls dann nicht mehr zulässig, wenn für diesen Zeitraum bereits die Festsetzungsverjährung eingetreten ist.

Von Art. 167 MwStSystRL abweichendes Vorsteuerabzugsrecht

Art. 167 MwStSystRL könne, so das FG, eine andere Bewertung in den Fällen gebieten, in denen das nationale Recht den Entstehungszeitpunkt des Vorsteuerabzugsrechts abweichend von Art. 167 MwStSystRL in einen früheren Besteuerungszeitraum verlagert, der Anspruch in diesem Besteuerungszeitraum nicht geltend gemacht worden ist und eine nachträgliche Geltendmachung - wie unter den Umständen des Ausgangsfalls - nach nationalem Recht ausgeschlossen ist.

Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH handelt es sich bei dem Vorsteuerabzugsrecht um ein Grundprinzip des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems, durch das die Neutralität der MwSt gewährleistet werden soll. Das Recht zum Vorsteuerabzug ist ein integraler Bestandteil des Mechanismus der MwSt und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden. Gem. Art. 179 MwStSystRL ist das Vorsteuerabzugsrecht auch nach dem Unionsrecht grundsätzlich für den Besteuerungszeitraum auszuüben, in dem es entstanden ist.

Zwar können die Mitgliedstaaten gem. Art. 180 MwStSystRL einen Vorsteuerabzug gestatten, der nicht nach Art. 179 MwStSystRL vorgenommen worden ist; der deutsche Gesetzgeber hat von dieser Möglichkeit aber keinen Gebrauch gemacht. Gleichwohl könne es, so das FG, die grundlegende Bedeutung des Vorsteuerabzugsrechts notwendig machen, dem Unternehmer die Möglichkeit zu geben, die Vorsteuer unter Umständen wie denen des Ausgangsfalls auch dann für den sich nach Art. 167 MwStSystRL ergebenden Besteuerungszeitraum geltend zu machen, wenn das nationale Recht von Art. 167 MwStSystRL abweicht.

Dies könne, so das FG, jedenfalls dann geboten sein, wenn die Geltendmachung in dem nach nationalem Recht zutreffenden Besteuerungszeitraum nicht mehr möglich ist, um auch in diesem Fall die Neutralität des Mehrwertsteuersystems sicherzustellen. Denn in dieser Konstellation wirkt sich die - für den Unternehmer an sich vorteilhafte - Abweichung von Art. 167 MwStSystRL zu dessen Nachteil aus.

Entscheidung des EuGH

Der EuGH hat entschieden, Art. 167 MwStSystRL ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der das Recht auf Vorsteuerabzug bereits im Zeitpunkt der Ausführung des Umsatzes entsteht, wenn der Steueranspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer nach einer nationalen Abweichung gem. Art. 66 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL erst bei Vereinnahmung des Entgelts entsteht und dieses noch nicht gezahlt worden ist.

Der EuGH führt zu der Auffassung des FG Hamburg, nach der es sich bei Art. 167 der MwStSystRL, wie sich aus der Protokollerklärung des Rates und der Kommission zu Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 77/388 ergebe, nicht um eine zwingende Vorgabe, sondern lediglich um eine Leitidee handele aus: Eine solche Erklärung kann nicht zur Auslegung abgeleiteten Rechts herangezogen werden, wenn der Inhalt der Erklärung wie im Ausgangsverfahren in der fraglichen Bestimmung keinen Ausdruck gefunden und somit keine rechtliche Bedeutung hat. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden.

Hierzu stellt der EuGH zunächst fest, dass der Wortlaut von Art. 167 MwStSystRL klar und unzweideutig ist. Die Vorschrift stellt die allgemeine Regel auf, dass das Recht des Erwerbers oder Dienstleistungsempfängers auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer auf die entsprechende abziehbare Steuer entsteht.

Weiter stellt der EuGH fest, dass nach Art. 63 MwStSystRL Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt eintreten, zu dem die Leistung erbracht wird. Nach Art. 66 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL können die Mitgliedstaaten jedoch abweichend u. a. von Art. 63 MwStSystRL vorsehen, dass der Steueranspruch für bestimmte Umsätze oder Gruppen von Steuerpflichtigen spätestens bei der Vereinnahmung des Preises entsteht. Da Art. 66 MwStSystRL eine Abweichung von Art. 63 MwStSystRL darstellt, ist Art 66 eng auszulegen. Um zu einer Auslegung zu gelangen, bei der Art. 66 Abs. 1 Buchst. b und Art. 167 MwStSystRL, nach dem das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht, miteinander in Einklang stehen, muss somit in Fällen, in denen der Steueranspruch gem. Art. 66 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL spätestens bei der Vereinnahmung des Preises entsteht, auch das Recht auf Vorsteuerabzug zum Zeitpunkt der Vereinnahmung des Preises entstehen.

Schließlich führt der EuGH aus, Art. 167a MwStSystRL ist eine fakultative Regelung, die die Mitgliedstaaten vorsehen können und deren Anwendung wiederum zu der Abweichung gehört, die bereits durch Art. 66 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL vorgesehen ist. Der Zusammenhang zwischen dem Steueranspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer und dem Recht des Steuerpflichtigen auf sofortigen Vorsteuerabzug kann daher nur in Fällen des Art. 167a MwStSystRL aufgehoben werden.

Hinweise: Anpassung der deutschen Rechtslage notwendig

Der EuGH hat mit seiner Entscheidung die jahrelange deutsche Praxis verworfen, dass der Vorsteuerabzug auch dann bereits im Zeitpunkt des Bezugs der Leistung möglich ist, auch wenn der Leistende als Istversteuerer sein Entgelt noch nicht erhalten hat und damit seine Ausgangssteuer noch nicht entstanden ist. Im Vorlagefall waren die an dem Umsatz Beteiligten beide Istversteuerer. Die Entscheidung des EuGH dürfte aber insbesondere auch dann gelten, wenn der Leistungsempfänger ein Sollversteuerer ist und die erhaltende Leistung noch nicht bezahlt hat. Sein Vorsteuerabzug entsteht nach der vorliegenden Entscheidung über Art. 167 MwStSystRL erst dann, wenn die Ausgangssteuer des Leistenden entsteht, nämlich zu dem Zeitpunkt, zu dem er seinerseits die Gegenleistung vereinnahmt hat.

Auf den umgekehrten Fall, dass ein Istversteuerer eine Leistung von einem Sollversteuerer erhält, hat die EuGH-Entscheidung keinen Einfluss. Insoweit ist das nationale Recht über die fakultative Norm des Art. 167a MwStSystRL, von der Deutschland keinen Gebrauch gemacht hat, weiterhin unionsrechtlich zulässig.

Aufgrund des Urteils muss die deutsche Rechtslage zum Vorsteuerabzug bei Leistungsbezügen von einem Istversteuerer angepasst werden.

EuGH Urteil vom 10.02.2022 - C-9/20 (Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136)

Schlagworte zum Thema:  Umsatzsteuer, Vorsteuerabzug